Beim Sellerieschneiden: Drama

4. März 2023. In der JVA Hohenleben haben Künstler*innen des Theaterhaus Jena für ein Stück recherchiert. Ergebnis sind 90 Minuten Theater, die eine Verbindung schaffen zu einer Welt, die aus Serien und Filmen bekannt scheint. Und die vielleicht zu sehr zum Klischee geronnen ist.

Von Marlene Drexler

"Knast" am Theaterhaus Jena © Joachim Dette

4. März 2023. Einen Menschen gewaltsam einzusperren, ist ein brutaler Akt. Fügt man die Worte "zum Schutz der Gemeinschaft" hinzu, verwandelt sich das gewaltsame Einsperren in eine der wahrscheinlich zivilisiertesten Erfindungen unseres Zusammenlebens. Haft ist pervers auf der einen und wahnsinnig vernünftig auf der anderen Seite.

Gefängnisse stellt man sich als Orte vor, an denen es vor spannungsreichen Geschichten nur so wimmelt. Seelische Abgründe und true crime? Zu viele Menschen auf zu engem Raum, ein Nährboden für Konflikte, dazu das moralische Aufwägen von Individuumsrechten gegen Gesellschaftspflichten: Das birgt jede Menge theatrales Potenzial, das sich eine Gruppe Künstlerinnen und Künstler des Jenaer Theaterhauses erschlossen hat.

Vom Vergehen der Zeit

Am Theaterhaus in Jena ist es Usus, dass die Spielerinnen und Spieler – in diesen Fall sind es drei Männer und eine Frau – ihre Stücke selbst entwickeln. Im Fall von "Knast" sind sie in die nahegelegene Justizvollzugsanstalt Hohenleuben gefahren, um Häftlinge und ihre Geschichten, den Gefängnisalltag und vor allem: das Gefühl des Eingesperrtseins zu ergründen. Aufbauend auf dem Kontakt zu mehreren Mitgliedern einer gefängnisinternen Theatergruppe wurden dann Figuren und ein Text entwickelt.

Das Setting auf der Bühne ist handfest: die Sporthalle im Gefängnis. Dass Liegestützen für Häftlinge als Ventil der latenten Dauerkrise fungieren, kennt man aus Filmen. Wer ein bisschen Stimmung, ein bisschen Musik haben will, kann auf einen Mülleimer trommeln.

Wir sehen Häftlinge, Männer, die vom Leben desillusioniert und vom Anblick der Uhr traumatisiert sind. Bewegt sich der Zeiger noch? Es eint sie die fast schon krankhafte Fixierung auf das Morgen. Tag X, den Tag aller Tage. Kann das gesund sein für die Psyche? Falsche Frage, wir sind ja im Gefängnis und nicht in einem Wellnesshotel. Diskussionen darüber führen offenbar auch die Häftlinge in der JVA Hohenleuben: Inwiefern ist eine Gefängnisstrafe eine sinnvolle Abbüßung von Schuld? Könnte man erfolgreiche Resozialisierung nicht durch mehr An-die-Hand-Nehmen und positive Selbstbilder vermitteln und kreativtherapeutische Ansätze begünstigen? Dem steht der Satz gegenüber: "Es muss halt auch wehtun." Das Gefängnis soll nicht nur Strafe, sondern auch Abschreckung sein, und Straftäter im besten Fall als Geläuterte wieder ausspucken.

Im Stillstand und zugleich hypernervös

"Knast" hat zwei Ebenen. Die vier Schauspielenden spielen zum einen die Häftlinge. Ihre Delikte: Körperverletzung, Betrug, Drogenhandel, Strafen zwischen einigen Monate bis mehreren Jahren. Sie alle schon Kinder des Systems: Einen Antrag stellen, das ist hier die Lösung, für alles und nichts. Dann gibt es in dieser Welt noch Sozialprognose, Strafvollstreckungskammer, Antiaggressionsstraining, Impulskontrolltraining und so weiter und so fort: "Guten Morgen, einmal Lebendkontrolle bitte."

Die großen Themen Schuld, Reue, zweite Chance sind ständig mit anwesend. Das große innere Drama spielt sich auch mal beim Sellerieschneiden ab. Geht die Zeit schneller vorbei, wenn ich langsamer schneide? Der Abend liefert das kleine Einmaleins des Wartens, der Hoffnung. Ein Gefühl dafür, wie es ist, im Leerlauf und hypernervös gleichzeitig zu sein.

Neben den Häftlingen spielen die Schauspielenden auch sich selbst. Erinnern gemeinsam die Treffen mit den Insassen: "Am Anfang dachte ich so – oh, die sehen gar nicht so wild aus."

Knast im Knast

In der Dramaturgie des Abends wechseln sich flapsige Szenen und Situationskomik ab mit ernsten Monologen, in denen das Ensemble eine ganze Bandbreite der theatralen Mittel zu bedienen weiß. Komisch ist zum Beispiel die Szene, in der den Zuschauern näher gebracht wird, wie das Klingeln eines Telefons, als Verbindung mit dem Draußen, eine Sehnsuchtswelle im Herzen auslösen kann.

Knast 2 c Joachim DetteFreigang oder Verbinung zum Außen? "Knast" © Joachim Dette

Und dann, den Atem abklemmend: Paul Wellenhof, wie er "Knast im Knast" hat. Einen Zustand, in dem die Wut mit voller Wucht in den Körper fährt und sich unkontrolliert in den Gliedmaßen entlädt. Ein rhythmischer Schreikrampf, der sich gegen niemand im besonderen und alle im speziellen zu richten scheint. In Paul Wellenhofs Darstellung wird diese Wut wiederum gebrochen. Durch Spuren der Gewissheit in seinem Gesicht, dass es keine Beschwerdestelle für die Häftlinge gibt.

Ein weiterer Höhepunkt ist Nikita Buldyrsi Performance eines Rap-Songs. Es gelingt ihm, in den Satz "ich stell 'n Antrag" den gesamten Weltschmerz seiner Figur zu legen. Ein Satz, eine Atmosphäre, die nachhallt.

Sehnsucht nach einem Song

In "Knast" wird die Jenaer Bühne zu einem Schlüsselloch, durch das das Publikum in die JVA Hohenleben hineinlinsen kann. Aber nicht als Voyeure, sondern als Zuhörer und Zuschauer, die die Gelegenheit bekommen, sich für eine Weile mit dem Leben der Häftlinge zu verbinden. Wenn Leon Pfannenmüller dann aus einem Brief von einem der Häftlinge vorliest, über die Sehnsucht nach einem Song, den der Mann im Gefängnis nicht hören kann, und darum bittet, genau jetzt diesen Song abzuspielen, schrumpfen Gefängnismauern.

Vieles wird an diesem Abend angerissen, aber wirklich ausgeführt wird nichts. "Knast" will kein Plädoyer für irgendwas sein, schlägt sich auf keine Seite. Behauptet nicht, zu wissen, wie irgendetwas besser ginge. Spricht niemanden von Schuld frei, sondern hält einfach den Widerspruch, Freiheit zu nehmen, um Freiheit zu geben, aus.

 

Knast
von Leon Pfannenmüller und Ensemble
Konzept und Regie: Leon Pfannenmüller, Bühne: Maarten van Otterdijk, Komposition und Live-Musik: Wilhelm Hinkel, Kostüm: Carolin Pflüger, Konzept und Dramaturgie: Hannah Baumann.
Von und mit: Nikita Buldyrski, Linde Dercon, Leon Pfannenmüller, Paul Wellenhof.
Premiere am 3. März 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterhaus-jena.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist eine Stärke des Stücks, dass es Klischees enthüllt und authentische Einblicke ins Gefängnisleben ermöglicht", schreibt Ulrike Merkel in der Thüringer Allgemeinen (6.3.2023). "Mit 'Knast' gelingt dem Theaterhaus einmal mehr, ein gesellschaftliches Problem aufs Unterhaltsamste aufzudröseln und zu diskutieren."

Der Abend stelle vieles in den Raum, ohne immer eine kluge Antwort parat zu haben. "Gemeinsames Nachdenken ist angesagt", so Wolfgang Schilling auf MDR Kultur (4.3.2023). "Das macht was mit dem Publikum, in 90 intensiven Minuten mit tiefgründigen, leisen aber auch turbulenten Momenten und einem emotionalen Ende."

"Es ist eine bemerkenswert gut gelungene Stückentwicklung, sensibel, witzig und reflektiert“, schreibt Katrin Bettina Müller von der taz (7.3.2023). "Einige, sehr reflektierende und teils auch spielerisch virtuose Szenen handeln eben genau davon: wie der Alltag in der JVA die Identität immer mehr reduziert auf die eines Häftlings. Wie die veränderte Wahrnehmung der Zeit, die nicht vergehen will, Leben wegsaugt. Wie die sozialen Kontakte nach draußen mehr und mehr verkümmern."

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