Gibt's noch was zu tun?

8. März 2023. Mit Starbesetzung und bühnengreifender Bauminstallation: Thomas Ostermeier hat Tschechows Klassiker vom russischen Nirgendwo ins Berliner Umland verlegt. Eine Meta-Bespiegelung über die geschrumpfte Kunst, das verfehlte Leben und die historische DNA eines Theaters.

Von Esther Slevogt

"Die Möwe" an der Berliner Schaubühne © Gianmarco Bresadola

8. März 2023. Da ist natürlich erst einmal der gigantische Baum, der sich mit seinen weit ausladenden, dichtbelaubten Ästen naturalistisch in die Höhe und vor allem in die Breite streckt. Eine schwarz gekleidete junge Frau liegt schon auf einem seiner enormen Äste, als das Publikum in den Saal kommt, saugt an einer E-Zigarette und verdunkelt die ansonsten von Vogelgezwitscher untermalte Sommerfrischestimmung von Anfang an. Ein wenig später wissen wir dann: Es ist Mascha, Tochter des Verwalters eines Landhauses der gehobeneren Sorte, die hier bald schon mit den Widersprüchen kämpft zwischen dem, was sie vom Leben erwartet und dem, was das Leben ihr tatsächlich zu bieten hat. 

Die Kunst ist nicht mehr groß

Denn wir sind bei Tschechow, wo die Figuren schon immer an der Differenz leiden zwischen dem, was ist und dem, wovon sie träumen. Die aber stets zu schwach sind, um das Leben zu leben, das sie sich wünschen. Weshalb wir im Publikum ihnen seit über hundert Jahren immer wieder dabei zusehen, wie sie in ihrem ungelebten Leben an ihrem Träumen ersticken. Träumen vom Glück und der wahren Liebe zum Beispiel. Oder von der Kunst. Träume, die vielleicht sogar einmal groß waren. So groß, wie die Kunst der berühmten Schauspielerin Arkadina etwa, der wir in Tschechows Stück "Die Möwe" begegnen, und gegen die ihr junger Sohn Kostja mit seiner Kunst vergeblich sich zu behaupten versucht.

Jetzt aber, in der Berliner Schaubühne, wo das berühmte Stück unter der Regie von Thomas Ostermeier nun in einer höchst eigenen Version herausgekommen ist – in einer Fassung des Ensembles nämlich, die Text und Motive des Stücks aus dem russischen Irgendwo in ein brandenburgisches Ungefähres verlegte –, ist auch die Kunst nicht mehr groß, sondern geschrumpft zu einem visionslosen Getöne. Und auch die, die der Kunst einmal die Kartographierung eines Horizonts abgefordert hatten, an dem sie ihre Träume orientieren konnten, bilden nur noch ein zum Spießertum heruntergekommenes Bildungsbürger:innentum. Hier ist der Horizont so eng geworden, dass für weiträumiges Denken und Fühlen überhaupt kein Raum mehr ist.

"Noch nie war es schwerer, irgendetwas zu bewirken!"

Es ist ein kunstvoll in die Karikatur getriebenes Personal, dem wir in der Schaubühne begegnen, das einerseits Tschechow spielt und andererseits ironisch auch das eigene Tun befragt. Was und wie spielen wir hier eigentlich? Wie relevant ist das Theater überhaupt noch? "Noch nie war es schwerer, irgendetwas zu bewirken!", sagt der gefeierte Schriftsteller Trigorin einmal, der an einer anderen Stelle des Abends Einblicke in die Werkstatt seiner Kunstproduktion gibt: wie er da auf Karteikarten klischeehafte Eindrücke von der Welt zu den immergleichen Büchern zusammenschraubt. Will sagen: So kann das mit der Relevanz natürlich nichts werden.

Schaubühne am Lehniner Platz "DIE MÖWE" von Anton Tschechow. In einer Fassung des Ensembles unter Verwendung der Übersetzung von Ulrike Zemme. Regie: Thomas Ostermeier, Bühne: Jan Pappelbaum / Thomas Ostermeier, Mitarbeit Bühne: Ulla Willis, Assistenz Bühne: Tina Hübner, Kostüme: Nehle Balkhausen, Musik: Nils Ostendorf, Dramaturgie: Maja Zade, Licht: Erich Schneider. Mit: Thomas Bading, İlknur Bahadır, Stephanie Eidt, Laurenz Laufenberg, Joachim Meyerhoff, David Ruland, Renato Schuch, Alina Vimbai Strähler, Hêvîn Tekin, Axel Wandtke.Premiere am 7. März 2023.Kapriolen mit Baum: Stephanie Eidt, Renato Schuch, Thomas Bading, Joachim Meyerhoff © Gianmarco Bresadola

Mit einiger Hingabe verwandelt sich Joachim Meyerhoff, der diesen Trigorin spielt, in eine herzzerreißende Witzfigur mit Halbglatze und zotteligem Haarkranz drumherum. Einer, der seiner eigenen Kunst nicht mehr glaubt, der lieber in Badehose zum Angeln an den See schleicht oder die junge Freundin des Sohns seiner Geliebten anschmachtet. Jener Sohn, Jungkünstler Kostja, der vollmundig die Kunst und das Leben erneuern will, hat aber dann auch nicht zu mehr zu bieten als eine verquälte Performance aus zuckenden Bewegungen im Ganzkörperstrumpf, während Freundin Nina auf dem Baum im Wallegewand seinen pathetischen Text rezitiert. Laurenz Laufenberg spielt ihn als jungen Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs, den schon die kleinste Irritation aus der Bahn wirft. Und Alina Vimbai Strähler gibt ihre Nina als das nette Mädchen von nebenan, das vergeblich nach Höherem strebt. Denn die Menschen, denen wir hier begegnen, merken noch nicht mal, dass sie im Grunde gegen die eigene Beschränktheit anrennen.

Tief in der Schaubühnen-DNA

Arkadina, von Tschechow noch am Vorbild der großen Schauspielerinnen seiner Zeit modelliert, kann so, wie Stephanie Eidt sie hier anlegt, maximal noch als Serienschauspielerin im Fernsehen oder auf dem Boulevard eine Größe sein: eine blondierte Double-Bind-Queen, die im Wesentlichen für ihr öffentliches Bild existiert. "Jeder offene Brief muss von meiner Mutter unterschrieben werden!", sagt Sohn Kostja über sie einmal abfällig. So ist auch die Kunst eben längst heruntergekommen und macht nur noch einen eher beschränkten Eindruck.

Titel: Die Möwe. Autor: Anton Tschechow, Fassung Ensemble. Regie: Thomas Ostermeier. Buehne: Thomas Ostermeier, Jan Pappelbaum. Kostueme: Nehle Balkhausen. Licht: Erich Schneider. Dramaturgie: Maja Zade. Ort: Schaubuehne am Lehniner Platz. Premiere: 7. Maerz 2023. no model release. SpielerInnen: Alina Vimbai Straehler / Nina und Joachim Meyerhoff / Boris u.a..Engl: theatre, actorcopyright: david baltzer / bildbuehne.deAlina Vimbai Straehler und Joachim Meyerhoff © david baltzer / bildbuehne.de

Das anzuschauen macht immer wieder Spaß. Auch der großen Selbstironie wegen, mit der hier hehre Theatertradition auf den Sperrmüll getragen und dem Gelächter preisgegeben wird: echte Bäume und Tschechow sind sozusagen Schaubühnen-DNA, seit Peter Stein und sein Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann 1984 in der "Drei Schwestern"-Inszenierung jenes legendäre Birkenwäldchen ins Theater bauten. Jan Pappelbaum und Thomas Ostermeier holen den hypertrophen Realismus von einst in eine profane Gegenwart zwischen Gartenstuhl und Gurkenglas, mit dessen Essigwasser Hêvîn Tekins Mascha eines der wenigen echten Kunststücke vollführt, die dem Tschechow-Personal hier zugestanden werden: ein kleines Mundspringbrunnen-Kunststück.

Und so chargiert das Ensemble im vollem Bewusstsein dessen, was es tut. Das Publikum lacht und freut sich an den Kapriolen, darunter auch der deftig berlinernde Auftritt von David Ruland als Gutsverwalter Schamrajew, der Falschparker vor dem Tor des Anwesens brüllend zum Entfernen ihres Fahrzeugs auffordert oder angesichts der Launen der Arkadina einen Wutanfall bekommt. Und der dann am Ende mit der ausgestopften Möwe, die er in seiner Freizeit verfertigt hat, auch noch ein Kunstwerk zum Abend beizusteuern hat. Vielleicht das einzige mit Zukunft. 

Die Möwe
von Anton Tschechow
In einer Fassung des Ensembles unter Verwendung der Übersetzung von Ulrike Zemme
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne: Thomas Ostermeier, Jan Pappelbaum, Mitarbeit Bühne: Ulla Willis, Kostüme: Nele Balkenhausen, Musik: Nils Ostendorf, Dramaturgie: Maja Zade, Licht: Erich Schneider.
Mit: Stephanie Eidt, Laurenz Laufenberg, Thomas Bading, Alina Vimbai Strähler, David Ruland, İlknur Bahadır, Hêvîn Tekin, Joachim Meyerhoff, Axel Wandtke, Renato Schuch.
Premiere am 7. März 2023
Dauer: 2 Stunden 35 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

Die Fassung sei moderat dem Heute angepasst. "Das gilt auch für Thomas Ostermeiers Regie. Die Gangart wirkt erstaunlich traditionell und damit zuweilen etwas erwartbar. Aber ist es nicht genau das, wonach sich so viele sehnen im Theater - eine Geschichte, Emotionen, ausgespielte Dialoge, Drama, Komik? Menschen, mit einem Wort", schreibt Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (8.3.2023). Zugleich fehle viel: "Zwischentöne, auch mal die Ruhe vor dem nächsten Gefühlssturm."

Barbara Behrendt vom RBB (8.3.2023) erlebte einen gut unterhaltenden, gar virtuosen Abend. "Und das Porträt der narzisstischen Künstler:innen, denen die Welt piepegal ist, muss man unbedingt als Kommentar auf unsere Zeit lesen. Doch von Ostermeier ist man psychologisch präziser gearbeitete Inszenierungen gewohnt - mit politischerer Schlagkraft in die Gegenwart. Die fein austarierte, menschliche Komödie à la Tschechow ist weniger seine Sache."

Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (8.3.2023) bemerkt eine große Leichtigkeit im Spiel. Tschechow erscheine hier tatsächlich als Komödiendichter, der er ja bei aller Vergeblichkeitstragik stets habe sein wollen. "Allerdings geht das hier fast schon Richtung Boulevardkomödie und längst nicht immer auf, auch nicht zu Herzen." Seltsam an dieser Inszenierung sei, dass hier alle respektvoll ("zu respektvoll, möchte man meinen, und auf zu unterschiedlichem Niveau") nah dran an Tschechows Text blieben – und doch seien sie ganz weit von seiner psychologischen Feinzeichnung weg. "Man kann sich mitunter einen Ast lachen. Aber baumstark ist dieser Theaterabend nicht."

"Es wird fast zu viel und zu offen geredet", schreibt Simon Strauss in der FAZ (9.3.2023). "Die Meyerhoff-Variante wirkt ansteckend. Aber wirklich anschlagen tut sie eben nur beim ur­sprünglichen Erreger. Und deshalb gehört dieser Abend ihm." Meyerhoff spiele "die Rolle seines Le­bens. Mit brillantem Ennui und schonungsloser Egomanie verkörpert er seinen eigenen Typus."

Die Erwartung, welchen Kulturkampf ein Regisseur an der "Möwe" diesmal ausficht, ist stets hoch, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (9.3.2023). "Auch gegenwärtig fehlt es ja keineswegs an postpandemischen Theaterdämmerungsdebatten. Auf einen kühnen Sprung in diese Arena aber lässt sich Thomas Ostermeier nach über 20 Intendantenjahren nicht mehr ein." Aus ästhetischer Debatten- und experimenteller Praktikersicht könnte man diesen Abend durchaus einen verschenkten nennen, so Meierhenrich. "Und doch passiert hautnah unter der Oberfläche etwas recht Subtiles, denn hier spielt und kämpft jede Figur nicht nur gegen den vermeintlichen Gegner (...) – vor allem spielen sie mit und gegen ihre selbst aufgesetzten Images, gegen ihre vertrackten Lebensrollen, unter denen sie leiden wie Hunde. Ein "schillernd boulevardesker Schauspielerabend" werde daraus "mit Schwingung für gegenwärtige Doppelbödigkeit, aber wenig festem Tritt für Zukunft".

"Zwei Generationen mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen von der Kunst, vom Sinn des Lebens, von der Liebe prallen in dieser Komödie aufeinander: ein universelles Thema und doch berührt es in dieser Inszenierung wenig", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (9.3.2023). Die witzigsten Szenen, "gerade weil sie eher trocken gespielt sind", gehörten Joachim Meyerhoff als Schriftsteller Trigorin. "Im Ganzen aber wirkt der Abend etwas zerfleddert, einzelne Szenen wie hineingeklebt, um etwas Gegenwartsbezug hineinzubringen. Aber der Baum auf der Bühne ist wirklich sehr schön."

"Meyerhoff gibt in Berlin den Großkünstler als Spottfigur", konzentriert sich Peter Kümmel in der Zeit (6.4.2023) auf den heimlichen Hauptdarsteller. "Es ist Entlarvungslust und vielleicht auch ein Element der Selbstgeißelung in seinem Spiel spürbar: Künstlertum, zeigt er, der ja selbst auch als Schriftsteller gefeiert wird, ist was Geborgtes, ein Wahnkredit, eine Lust an sich selbst, die man sich von anderen holt."

Kommentare  
Die Möwe, Berlin: Schlingert
Zwei Zentren hat Thomas Ostermeiers fast dreistündige Tschechow-Annäherung „Die Möwe“: erstens die ausladende Platane, die Stamm-Bühnenbildner Jan Pappelbaum, aufgebaut hat. Sie überwölbt mit ihren Ästen und Blättern auch die ersten Reihen, die im Halbkreis um die Spielfläche angeordnet wurden, und eignet sich auch als Kletter- und Abenteuerspielplatz für das Ensemble. Natürlich ist dieses eindrucksvolle Baum-Imitat eine Reminiszenz an die Geschichte des Hauses, als Peter Stein seine „Drei Schwestern“ 1984 noch vor echten Birken leiden und seufzen ließ.

Zweitens prägt Joachim Meyerhoff diesen Abend. Zwischen all den überzeichneten Karikaturen ist sein Trigorin die einzig ernstzunehmende Figur, die von Tschechows Vorlage übrigblieb. Es ist wunderbar mitanzusehen, wie er mit Halbglatze und nerdigem Nickelbrillen-Look vor sich hin mansplaint und das Charakterbild des Schriftstellers voller Welt- und Selbstekel entwirft.

In diesem Mittelteil findet die fast dreistündigen Inszenierung für kurze Zeit zu sich. Davor und danach schlingert sie unsicher vor sich hin. Von verschiedenen Arten der Liebe zu erzählen, war Ostermeiers Plan. Im Programmheft sind dazu einige schöne Texte von Eva Ilouz und Co. versammelt. Doch auf der Bühne ist davon wenig zu merken: über weite Strecken erleben wir nur stark überzeichnete Karikaturen, die sich irgendwo zwischen „Klamotte“ (Rüdiger Schaper im Tagesspiegel) und „Boulevardkomödie“ (Christine Dössel in der SZ) abkämpfen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/03/08/die-mowe-thomas-ostermeier-schaubuehne-kritik/
Die Möwe, Berlin: Kluge Gedanken
Guten Tag! Auch wenn mir diese Inszenierung, anders als wohl Frau Slevogt, ans Herz gegriffen und mich ohne Wenn und Aber begeistert hat, habe ich doch ebenso mit Begeisterung die Rezension von Frau Slevogt gelesen, weil sie, so scheint es mir, mit offenem Herzen geschrieben und dabei kluge Gedanken zum weiteren Nachsinnen über den Abend gegeben hat. Merci
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