Zeig mir Dein Gewissen, Publikum!

11. März 2023. Die Moral des Einzelnen gegen die Macht der Mehrheit: Nicht erst die Pandemie hat uns gelehrt, dass dies ein ungleicher Kampf sein kann. Das wusste Henrik Ibsen vor 140 Jahren schon und exerzierte es in seinem berühmten Stück "Ein Volksfeind" durch. In Katrin Plötners Inszenierung wird nun eine Volksfeindin daraus, die mit Hilfe von Texten Şeyda Kurts den Finger tief in Wunden unserer Zeit versenkt.

Von Katharina Kovalkov-Walth

"Eine Volksfeindin" nach Henrik Ibsen am Nationaltheater Mannheim © Maximilian Borchardt

11. März 2023. Ein sonniger Tag am Wasser. Die eigenen Sorgen, Probleme und Fehltritte einfach wegspülen. Sich auf den Dächern sonnen und die Schuldgefühle heraus brennen lassen – oder zumindest mit einen Sonnenschirmen verdecken. So treffen wir die Charaktere auf der Bühne an. Bis aus dem Badewasser eine braune Gülle wird, die das Innerste ans Tageslicht schwemmt.

Für alle, die Ibsens Original nicht so genau kennen: Im Zentrum des Stücks steht ein Kurbad, wirtschaftliche Lebensgrundlage einer nicht näher beschriebenen Kleinstadt. Alles läuft bestens. Das Bad lässt die Stadtkasse zuverlässig klingeln. Bis eines Tages krankheitserregende Keime im Wasser gefunden werden. Ein Fund, der zwei Brüder entzweit: Politiker der eine und Arzt der andere. Denn eine Veröffentlichung hätte verheerende Folgen für die lokale Wirtschaft und das Ansehen der Stadt samt ihrer Obrigkeit. Würde die Wahrheit jedoch vertuscht, wäre die Gesundheit der Badegäste in Gefahr.

Nach Shitstorm gecancelt

In Mannheim ist der Arzt jetzt eine Ärztin und sie steht also vor der Wahl: Eine Revolution "im Namen der Wahrheit und des Gewissens" loszutreten oder Stillschweigen zu bewahren – für das vermeintliche Gemeinwohl und den Wohlstand der eigenen Familie? Sie entscheidet sich für die Wahrheit, also die Veröfffentlichung des Befundes. Und wird von der Lokalpolitik – vertreten durch ihren Bruder – der Hetze bezichtigt, von der opportunistischen Zeitung hintergangen und schließlich von der liberalen Zensurgesellschaft "gecancelt", wie man heute so schön sagt.

Aber Moment mal, das klingt doch irgendwie vertraut? Hatten wir nicht erst kürzlich ein ähnliches Szenario in der Realität? War da nicht etwas mit Corona-Pandemie, einem Virologen namens Christian Drosten und einem medialen "Shitstorm", in dem wissenschaftliche Fakten plötzlich gegen Meinungen vermeintlicher Mehrheiten standen? Die Mannheimer Überarbeitung hat das Thema des rund 140 Jahre alten Originaltexts in die Neuzeit übertragen: Männliche Charaktere werden teilweise in weibliche verwandelt – wie eben Protagonist Thomas Stockmann, der titelgebende Volksfeind, aus dem nun also also Volksfeindin Thea Stockmann wurde. Die wohl deutlichste Veränderung: Die Geschichte wird immer wieder um eingeschobene Videosequenzen ergänzt, in denen die Doktorin Stockmann das Publikum direkt auf aktuelle Themen wie "Klimakatastrophe", "Kapitalismus", "Krieg" und "Schuld" anspricht.

Volksfeindin 2 MaximilianBorchardt uVolksfeindin Dr. Thea Stockmann alias Maria Munkert © Maximilian Borchardt

Die Akteurinnen und Akteure spielen, als ginge es um ihr Leben, oder wenigsten darum, Bewusstsein und Gewissen des Publikums zu erobern. Allen voran die erstaunliche und von der ersten Sekunde an fesselnde Maria Munkert als die Wahrheit sprechende Badeärztin, die in der öffentlichen Meinung von der angesehenen idealistischen "Volksfreundin" zur verhassten und später auch hasserfüllten "Volksfeindin" wird. Munkert legt hör- und sichtbar ihr ganzes Schauspielherz in die Figur der "Doktorin Stockmann" – durchbricht immer wieder die "Vierte Wand", um dem Publikum die volle Emotionspalette entgegenzuschleudern.

Matthias Breitenbach in der Rolle des älteren Bruders und Stadtrats Peter Stockmann brillierte mit komödiantischer Cholerik, wie er stets zwischen machthungrigem Antagonisten und verängstigtem Bauernopfer seiner Unterstützer und Geldgeber schwankt. Dann ist da noch Patrick Schnicke in der Rolle des Zeitungsherausgebers und "Volksverstehers" Aslaksen, die er so wunderbar schmierig anlegt, dass er als perfekter Opportunist locker durch beide Lager rutscht.

Messerscharfe Sentenzen

Der moralische Zerfall der Stadt und ihrer Gesellschaft wird auch mithilfe des Bühnenbildes von Bettina Pommer höchst überzeugend veranschaulicht: Die Akteure spielen auf Dächern. Sie liegen, rutschen, balancieren und stolpern auf ihnen herum, erklimmen abwechselnd die Spitze und stürzen wieder hinab. Gleichzeitig fungieren diese Dächer als Leinwände für Videoprojektionen, die zunächst noch idyllische Blumenwiesen, Maisfelder und Meereswellen zeigen, aber bald nur noch verzerrtes Rauschen, Giftwolken, Explosionen und brennendes Chaos.

Vor dieser Kulisse werfen die Figuren mit sprachlich messerscharfen Sentenzen um sich. "Korruption – das ist doch die einzige Sprache, die ihr sprecht", feuert die desillusionierte Badeärztin direkt in die Zuschauerreihen. "Ich scheiße auf das Bad! Ihr seid die eigentliche Seuche! [...] Hässlich, niederträchtig, gierig, stinkend. Asoziale! Scheiß Nazi-Erben! [...] Ihr seid der Müll!" Bei Sätzen wie: "Als Angestellte hast du kein Recht auf Überzeugung" geht dann sogar ein leises Raunen und Lachen durch den Saal.

Moral und Manipulation

Die Bearbeitung des Berliner Dramaturgen Florian Borchmeyer spitzt das alte Stück volle Breitseite auf die brisanten Themen unserer Zeit zu. Die radikale Sprache der scharfsinnigen Journalistin Seyda Kurt kennt keine rhetorische Tabus und wühlt sich tief ins Gewissen, wie auch Katrins Plötners knallige Inszenierung auf Scham und Schuldbewusstsein des Publikums zielt. 

Und wie geht die verbale und moralische Schlacht in Mannheim am Ende aus? Was siegt – Wahrheit oder Lüge? Moral oder Manipulation? Das Recht des "rebellischen" Einzelnen oder die Macht der "dummen" Mehrheit? Die Antwort bleibt offen und fordert zur Selbstanalyse.

Fazit: Ibsens 1882 verfasstes Werk bleibt gültig in seinem kompromisslosen Anprangern leicht manipulierbarer Gesellschaftsschichten und einer politischen Führung, die sich nur von Profit- und Prestigegier lenken lassen. Schon der Prolog, vorgetragen von der "Doktorin" persönlich vor dem noch geschlossenen Vorhang, auf dem ein übergroß projiziertes, George-Orwell-eskes Auge ins Publikum starrt – läßt einen unangenehm auf dem Sitz hin und her rutschen. Aus Sorge, man könnte an einigen Stellen womöglich selbst bei solchen Haltungen ertappt werden.

Eine Volks­feindin
nach Henrik Ibsen mit Texten von Şeyda Kurt unter Verwendung der Bearbeitung von Florian Borchmeyer
Regie: Katrin Plötner, Bühne: Bettina Pommer, Kostüme: Lili Wanner, Musik: Markus Steinkellner, Video: Karolina Serafin, Licht: Bernard Häusermann, Dramaturgie: Julia Hagen.
Mit: Maria Munkert, Christoph Bornmüller, Matthias Breitenbach, Almut Henkel, Sarah Zastrau, Omar Shaker, Patrick Schnicke
Premiere am 10. März 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause.

www.nationaltheater-mannheim.de

Kritikenrundschau

In den neuen Monologen der Hauptfiguren würden vor allem aktivistische Positionen verhandelt, berichtet Marie-Dominique Wetzel auf Deutschlandfunk Kultur (10.3.2023), "Überlegungen, die zeigen, wie heutig das ist". Das gehe auf, weil die Monologe gut eingefügt seien, die Hauptfigur zudem eine große Präsenz besitze. Wichtigster Mitspieler allerdings: das Bühnenbild von Bettina Pommer.

"Das gesprochene Wort gilt etwas in Karin Plöttners Regiearbeit", zeigt sich Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (11.3.2023) angetan. Der Geschlechtertausch sei "erfreulich unspektakulär", die Fassung von Borchmeyer und Kurt "natürlich" heutig im doppelten Sinn. Deren Tiraden gingen "natürlich" massiv ins Publikum, "wo er nun mal sitzt, der fleischfressende, autofahrende, kerosinverfliegende, kohleheizende Spießer mit all seinem geerbten Nazi-Geld... Das sitzt. Und ist wahr." Sein Fazit: "Ein gelungener Abend ohne Hysterie, der in 90 Minuten keine Sekunde langweilig ist. Schauspiel im besten Sinne, nur dank Text, exzellent aufspielendem Ensemble, und klugem Konzept."

Eine "gekonnt arrangierte und packend inszenierte Neufassung" hat Volker Oesterreich erlebt, wie er in der Rhein-Neckar-Zeitung (13.3.2023) schreibt. Die Fassung wirke "in keiner Sekunde aufgesetzt oder anbiedernd zeitgeistig, sondern packend, direkt und klar". Ironische Zwischentöne oder charakterliche Abgründe ließen das Ganze vieldeutig schillern. "Eine Ibsen-Überschreibung von ganz eigener Qualität, die es verdient hätte, auch andernorts nachgespielt zu werden."

Am – ärgerlich offenen – Ende bleibe ein Gefühl der Unzufriedenheit, findet Nicole Sperk in der Rheinpfalz (11.3.2023). "Darüber, dass so viele Themen angeschnitten und – wen kann es wundern bei einer Spieldauer von 90 Minuten – nur oberflächlich verhandelt worden sind." Und darüber, dass das Narrativ von der korrupten Politik und von der korrupten Presse, die bei rechten Kräften gerne mit dem Unwort "Lügenpresse" belegt werde, unwidersprochen stehen bleibe.

 

Kommentare  
Eine Volksfeindin, Mannheim: Selbstgerechtigkeit?
Die bei Ibsen im Verlauf des Stückes zu findende Hybris von Thomas / Thea Stockmann spielt keine Rolle? Echte Frage!
Eine Volksfeindin, Mannheim: Misanthropie?
Ich schließe mich Ulrich Heinse an.
Mir fehlt hier die Reflektion über die nicht ganz unbedenkliche Entwicklung der vermeintlichen Heldin.
Ein Volksfeind, Mannheim: Ambivalenz
Ich habe beim Lesen der Kritik das Ähnliche gedacht, wie Ulrich und Thea: Wo bleibt die Ambivalenz, die Ibsen beschreibt? Stockmann ist ja nicht nur ein Held, der gegen das Böse kämpft, seine Figur wird ja eher immer widersprüchlicher und unsympathischer. Muss man diese Zerrissenheit opfern, wenn man das in heutige Kämpfe überträgt und Stockmann also nur noch für das "Richtige" kämpft?
Kommentar schreiben