Im Schatten unserer Herkunft

12. März 2023. Einen komplexen Thriller hat Marie Ndiaye mit ihrem Roman "Die Rache ist mein" geschaffen: Anwaltskrimi und sozialkritisches Gesellschaftsporträt. Annalisa Engheben bringt das Werk jetzt am Schauspiel Stuttgart auf die Bühne.

Von Steffen Becker

"Die Rache ist mein" nach dem Roman von Marie Ndiaye am Schaupiel Stuttgart © Björn Klein

12. März 2023. Die Frau, die ihre drei Kinder getötet hat, ist: eine düstere Heldin. So sieht sie zumindest der Gatte und Vater in Marie Ndiayes Roman "Die Rache ist mein". Er hielt sie für eine durch und durch gewöhnliche Frau – bis sie eines Morgens die Badewanne volllaufen lässt und ihr Werk an den Kindern verrichtet.

Der Mann – der wohlhabende Monsieur Principaux – beauftragt mit der Verteidigung seiner Frau die Anwältin Maitre Susane. So wird sie in der Bühnenadaption, das am Schauspiel Stuttgart zur Uraufführung kommt, durchgehend bezeichnet – als sei die Frau mit ihrem Beruf verschmolzen. Die Zuschauer erfahren: Maitre Susane kommt aus kleinen Verhältnissen, hat als erste in der Familie studiert und einen bürgerlichen Beruf ergriffen. Aber sie ist nicht renommiert. Monsieur Principaux wählt sie als Verteidigerin – vermutlich – aufgrund einer schicksalshaften Begegnung mit ihm in Maitre Susanes Jugend, die sie entweder beflügelt oder traumatisiert hat. Was damals passiert ist und wie dieses Ereignis mit dem Kriminalfall verstrickt ist, darüber lassen der Roman und die Inszenierung von Annalisa Engheben ihr Publikum bewusst im Unklaren. Ebenso verwischen sie die Grenzen zwischen Realität und Imagination der jeweiligen Figuren.

Verworrenes Konstrukt

Passend dazu tragen die Darsteller cremefarbene Fantasieoutfits, die sich in Fetzen auflösen. Die Bühne von Andrej Rutar setzt das Vexierspiel mit einem raumgreifenden Mobile aus Alustangen um. Die Treppen, Durchgänge, Schaukeln haben keine Bodenhaftung. Jede Erschütterung bringt die ganze Konstruktion ins Wackeln.

Die Rache ist mein 2 BjoernKlein uDie Anwältin und ihr Klient: Therese Dörr und Peer Oscar Musinowski © Björn Klein

Das illustriert auch das Grundproblem der Inszenierung. Der Roman ist mit seinen Wechseln zwischen Traum und Wirklichkeit komplex. In der eingedampften Bühnenversion scheinen Erzählstränge so gekappt worden zu sein, dass man im Publikum mit dem Entwirren überfordert ist. Am deutlichsten wird das an der Figur Sharon. Sie ist die Putzfrau von Maitre Susane, Migrantin und ohne gesicherten Aufenthaltsstatus. Ihre Funktion ist noch einigermaßen klar: Die Aufsteigerin Susane schämt sich, dass sie das Verhaltens-Vokabular der Oberschicht um Monsieur Principaux nicht beherrscht. Ebenfalls aus Scham (es geschafft zu haben) findet sie auch gegenüber der Unterschichtsvertreterin Sharon keinen souveränen Umgang. Was aber Sharon mit dem Kriminalfall und den Prinicpauxs zu tun hat, bleibt in Andeutungen stecken. Da ist was. Aber was, davon vermittelt die Inszenierung allenfalls eine leise Ahnung. Larissa Aimée Breidbach bleibt als Sharon denn auch nur die undankbare Rolle einer Stichwortgeberin.

Viel Erzählung, wenig Spiel

Arg viel Raum zu glänzen, lässt die Inszenierung keinem der Schauspieler. Den Großteil ihrer Bühnenzeit leihen sie abwechselnd der Erzählstimme. In ihre Rollen schlüpfen sie vergleichsweise wenig. Und wenn, sind Dialoge / Interaktionen kaum mehr als Einsprengsel. Eine echte Figurenzeichnung auf der Bühne ist so fast nicht möglich. In einem Stück, das sich um Frauen dreht, gelingt es am ehesten noch der männlichen Hauptrolle. Peer Oscar Musinowski spielt seinen Monsieur Principaux als "Alpha-Mann", der vom radikalen Ausbruch seiner Frau aus dem Familiengefängnis ehrlich überrascht und beeindruckt wirkt. Und er zeigt dabei einen nicht unsympathischen und doch fiesen Charme. Therese Dörr und Celina Rongen bleiben als Maitre Susan und Kindsmörderin Principaux in dieser Inszenierung ohne Tiefe. Man erhascht allenfalls Blitzlichter auf Innenleben und Motivation der Figuren.

"Und wenn ich mich täuschte?"

Selten gelingt dem Abend die hintersinnige Kombination aus Thriller und Gesellschaftsporträt, für die die Romanvorlage allenthalben gelobt wurde. Etwa wenn sowohl Herr als auch Frau Principaux in Monologen den Tag der Tat schildern. Beide tasten sich mit Füllwörtern durch ihre Aussagen. Sie – ebenfalls eine Frau aus bescheidenen Verhältnissen – leitet ihre Sätze mit einem "Aber" ein. Er – der von Haus aus Gebildete – verknüpft seine Chronologie mit einem "Denn". Grammatikalisch ist im Kontext nur seine Wortwahl korrekt – und eine Referenz an seine Beziehung zur Maitre Susan, die sich daran erinnert, wie er sie als Mädchen zu einem Referat anregte und genüsslich korrigierte. Was damals wirklich passierte, es bleibt im Dunkeln und in der Kurzfassung der Inszenierung ohne wirkliche Anhaltspunkte. Maitre Susane hält ihr Plädoyer und endet mit "Und wenn ich mich täuschte?" Um sich zu dieser Frage eine Meinung bilden zu können, muss man wohl den Roman lesen.

 

Die Rache ist mein
nach Marie Ndiaye
Für die Bühne bearbeitet von Annalisa Engheben und Carolin Losch
Inszenierung: Annalisa Engheben, Bühne: Andrej Rutar, Kostüm: Ines Burisch, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Therese Dörr, Celina Rongen, Peer Oscar Musinowski, Larissa Aimée Breidbach.
Premiere am 11. März 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Annalisa Enghebens Inszenierung wirkt zuweilen wie eine szenische Lesung, wie der Versuch einer Erkundung des Romans. Ohne Vorkenntnis ist es schwer, allen Verwicklungen zu folgen", schreibt Otto Paul Burkhardt im Schwäbischen Tagblatt (13.3.2023). "Doch andererseits trifft Enghebens Regie im Ambiente eines in der Luft hängenden Psycholabyrinths (Bühne: Andrej Rutar) den fragenden, zweifelnden Grundton des Romans sehr gut." Die Regie begehe "nie den Fehler, ins wohlfeil Eindeutige zu verfallen".

"Mehr Konzentration auf weniger Handlungsstränge hätten der Theaterfassung gut getan; viele Figuren, die im Reden nur schemenhaft gestreift werden, machen das Geschehen nur unübersichtlich", schreibt Dorothee Schöpfer in den Stuttgarter Nachrichten und in der Stuttgarter Zeitung (€ | 13.3.2023). Ob "dieser Roman tatsächlich bühnentauglich sein könnte, beweist die Inszenierung nicht".

Kommentare  
Die Rache ist mein, Stuttgart: Roman oder nicht-Roman
"Um sich zu dieser Frage eine Meinung bilden zu können, muss man wohl den Roman lesen."
Richtig, diese Arbeit sollte man sich als Rezensent schon machen, um zwischen dem Roman, seiner Bearbeitung und der Inszenierung unterscheiden zu können.
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