Anlasslos durch die Nacht

17. März 2023. Andrea Breth rief und alle waren gekommen. Die Premiere ihrer neuen Inszenierung sorgte für hohen Promifaktor im Publikum. Auf der Bühne collagiert sie Szenen aus hunderten Textfragmenten und Musik von Schostakowitsch bis Schlager. Hält der seidene Faden, an dem der Abend hängt?

Von Christian Rakow 

"Ich hab die Nacht geträumet" in der Regie von Andrea Breth am Berliner Ensemble © Ruth Walz

17. März 2023. Bis vor wenigen Jahren war das Berliner Ensemble das verlässlichste Theater der Hauptstadt: ein Ort, wo Frauen noch in Röcken liefen und Männer in Bundfaltenhosen, wo diese Schulter zeigten und jene ein stabiles Selbstbewusstsein, wo die Jungen glucksten und die Alten schnurrten. Es war die Ägide von Claus Peymann. Man schüttelte sich im Parkett mitunter bei dem Dargebotenen, wähnte sich im "Theatermuseum" eingekerkert, schalt es anfangs noch bitterlich, wurde über die Jahre dann aber immer milder. Denn was spricht eigentlich gegen ein Theatermuseum?

Im Haus der tausend Türen

Wenn man Andrea Breths lyrischem Liederabend "Ich hab die Nacht geträumet" eines zugute halten mag, dann dass sie diese versunkenen Zeiten wieder aufruft, an einem Haus, das unter Oliver Reese ansonsten eher die Wundertüte ist und programmatisch eine breite Farbpalette anrührt, zwischen bieder und knallig, streng formalisiert und freigeistig bunt, experimentell und konventionell.

Andrea Breth taucht ihre Szenerie in kühle Sepiatöne, zeigt Anzugkombinationen in erlesenem Grau bis Grauschwarz; sogar Ocker wäre schon ein Farbtupfer zu viel (Kostüme: Jens Kilian). Mit grauem Polsterstoff ist auch das Haus der tausend Türen ausgeschlagen, das Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt für das hier anberaumte Traumspiel hergerichtet hat. Mittig ein langer Gang, überall öffnen sich Luken und Durchgänge, werden Wände herein geschoben und weggezogen. Figuren fahren in Zeitlupe quer hindurch, Texte rezitierend. Manch einer tänzelt, mancher späht durchs Schlüsselloch. Alle sind vor allem sehr in Pose.

"Ich kann nur noch Fragmente erzählen"

Andrea Breth hat sich für ihre freie Stückentwicklung querbeet Textauszüge gegriffen, von Eichendorff bis Erich Fried, von Heiner bis Herta Müller, von Ulrich Seidl bis David Lynch, zudem Musik von Edvard Grieg bis Dmitri Schostakowitsch. Und Schlager, sehr viel Schlager. Breth pflanzt die Miniaturen unverbunden nebeneinander. Als Seelenbild, als Seelenbeet. Jeder Textspross eine Andeutung von möglichen größeren Geschichten: kleine Knospen von Paarbeziehungen sprießen, Routinen des Flirts, Zweifel am eigenen Rollenbild, Selbstmordgedanken und viele anschraffierte, unterdrückte Obsessionen. "Ich bin ratlos und sprachlos. Ich kann nur noch Fragmente erzählen. Ich sehe mich nicht in der Lage, ein stringentes Drama zu inszenieren, was ich eigentlich gern tue", lässt sich Andrea Breth im Programmheft zitieren.

BERLINER ENSEMBLE: "Ich hab die Nacht geträumet" Schauspiel mit Musik von Andrea Breth, Regie: Andrea BrethWer kommt da zu Besuch? Peter Luppa, Corinna Kirchhoff, Alexander Simon, Johanna Wokalek © Ruth Walz

Das Problem ist nun ganz gewiss nicht dieses Fragmentarische, das in dem musikalischen Gewebe der Arbeit (Livemusik unter Leitung von Adam Benzwi) eigentlich gut aufgehoben wäre. Es ist vielmehr, dass bei aller Innerlichkeit des Ansatzes so recht kaum beseelte Szenen entstehen. Sicher gibt es schöne Momente, wenn Corinna Kirchhoff den Schlager "Mama, bitte sag mir" intoniert, oder Johanna Wokalek "Wie sich Mühlen drehn im Wind". Viel öfter aber klappert die Handwerkskiste. Wenn Martin Rentzsch den seligen Dieter Hildebrandt reanimiert, wie dieser "Der Mond ist aufgegangen" mit Helmut Kohl-Redefloskeln verschneidet, dann merkt man doch, dass Humor auch ein Verfallsdatum hat. Oder wie Alexander Simon eine Dichterpose zu Füßen von Johanna Wokalek probiert, während sie irgendwie girliehaft exaltiert über ihre Tanzball-Abenteuer aus dem Häuschen gerät – da sieht man dann förmlich den Grünspan langsam am Bild hochkriechen.

Karambolage mit Sitzmöbel

Fraglos wählt sich Breth die gediegene Antiquiertheit ganz bewusst, gräbt ihren Stoff aus dem tendenziell bundesdeutschen Vorwende-Kanon, situiert sich mit Telefon-Witzchen weit vor den Internet-Flatrates ("Du Junge, das wird doch zu teuer jetzt."). Aber sie schafft es nicht, das Historische existenziell heranzurücken, so wie es in Liederabenden von Christoph Marthaler gelingt (dessen Theater hier ganz offensichtlich Pate gestanden hat).

nachtGetraeumetBreth DavidBaltrzer BildbuehnejpgAm geborstenen Flügel: Johanna Wokalek © David Baltzer | Bildbühne

Gute drei Stunden schleppt sich der Abend in absolut gleichförmigem, gebremstem Tempo dahin, malt Genrebilder und verstört sie durch surrealistische Kontrapunkte: Vorn deklamiert jemand einen Erzähltext und seitlich wird eine Figur hereingeschoben, die offenbar gerade eine Karambolage mit einem Sitzmöbel erlitten hat. Spätestens wenn die dritte derartige "Brechung" eingeführt ist, hat man das Prinzip verstanden. Doch Dutzende folgen.

Bleibt nur noch zu erzählen, dass die Prominenz im Premierenpublikum sagenhaft war. Sogar August Diehl war gekommen. Er hat viel mit Andrea Breth gearbeitet. Das Publikum war anfangs bereit, sein Herz zu werfen, jede kleinste Idee wurde mit Szenenapplaus quittiert. Das ebbte merklich ab, aber man blieb freundlich. Eigentlich wirklich wie zu Peymanns Zeiten. Als die Museumskunst florierte und gefeiert wurde, ganz gleich, was die doofen Kritiker sagten.

 

Ich hab die Nacht geträumet. Ein Schauspiel mit Musik
von Andrea Breth unter Nutzung diverser Werke
Regie: Andrea Breth, Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Jens Kilian, Sound Design: Christoph Mateka, Licht: Alexander Koppelmann, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Adam Benzwi, Corinna Kirchhoff, Peter Luppa, Martin Rentzsch, Alexander Simon, Johanna Wokalek.
Chor: Irina Fedorova, Catriona Gallo, Birgit Heinecke, Dennis Jankowiak, Frank Michael Jork, Tomoya Kawamura, Ahmet Özer, Heidrun Schug, Sonia Wagemans, Günther Weidmann.
Premiere am 16. März 2023
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

Kritikenrundschau

Das "handwerkliche Können" nötige Respekt ab, so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (17.3.2023), "nicht nur dem Publikum, sondern zuvor schon den Gewerken und Werkstätten, die im Berliner Ensemble zeigen, was sie können". Aber der Abend, der sich selbst als "Kunstpause" verstehe, bediene sich auch "an dem, wovor er flieht". Nämlich die "Unübersichtlichkeit und Fragmentierung der krisengeschüttelten Welt, die zerfetzte Gesellschaft, die verkümmerte Aufmerksamkeit der Individuen. Nur dass jegliche Bedrohung und Anfechtung ausgeblendet wird." Darin ähnele der Abend einem "wiedergefundene(n) Poesiealbum".

Andrea Breth habe "eine Collage aus surrealen Traumfetzen kreieren" wollen, "aus skurrilen Rätseln, Angstträumen. Jenseits aller Logik, ohne Botschaften, ohne Antworten", berichtet Barbara Behrendt im rbb24 (17.3.2023). Nach den drei Stunden sei die "Ernüchterung" allerdings groß: "Andrea Breths Traumfetzen kommen auf der Bühne so bieder und altbacken daher, als entstammten sie einer Zeitreise in die Bundesrepublik der 1950er Jahre." Breth setze auf "sentimentalen Eskapismus", statt für "das Beunruhigende, den Irrsinn unserer Albträume" eine Sprache zu finden.

"Die Welt und leider auch der Theaterwitz bleiben dem vermeintlichen Traumspiel eher fern", findet Peter von Becker im Tagesspiegel (18.3.23).Statt "träumerischem Zauber (oder albtraumhaftem Schrecken), gedacht als Gegenbilder zur realen Wirrnis unserer Tage", herrsche "über weite Strecken nur sehr gediegene Langeweile", urteilt der Kritiker. Nach der Pause werde es zwar "punktuell besser". Am grundsätzlichen Befund ändert das jedoch nichts: "Die Summe ergibt nicht mehr als die Einzelteile, aus dem Potpourri wird kein Panorama. Es ist eine Absurditätenrevue, doch Andrea Breth keine Lady Dada. Ihr fehlt hier in den Brüchen das Stück."

"Ein Abend über Träume war angekündigt. Ein paar Stunden voller Schäume bekam man zu sehen", konstatiert Simon Strauß in der FAZ (18.2.23) und konkretisiert: "Achtundsiebzigmal: einschlummern, aufschrecken, feststellen: doch nichts gewesen." Dennoch: Obwohl "der Rahmen wackelig" sei, gelängen dem Ensemble "einige herausragende Szenen", findet Strauß. Dass die häufigen Abgänge indes die Stimmung zerstörten und "das vom Publikum sehnsüchtig erwartete Imaginationstheater zum revueartigen Vaudeville" verkürzten, sei schade. Denn gern hätte man dieses Ensemble unter Breths Leitung "am Stück spielen" gesehen. "Das wäre ein Traum gewesen", glaubt der Kritiker.

Einen "herrlich schwebenden Theaterabend" sah hingegen Peter Laudenbach für die Süddeutsche Zeitung (18.3.23). Andrea Breth habe "eine poetische Exkursion ins Traumreich inszeniert, in dem erstaunliche Büroinsassen umgehen wie Gespenster in einem Spukschloss", schreibt der Kritiker. An diesem Abend fange das Theater der Regisseurin, die mit ihren Arbeiten sonst häufig "in den dunklen Verzweiflungsregionen unterwegs" sei, "zu schweben" an - "auch, weil es niemandem irgendetwas beweisen will, außer vielleicht, dass Träume und die Kunst ihre eigene Wirklichkeit schaffen. 

Breths Abend verschließe sich hermetisch jedweder Gegenwart, schreibt Christine Wahl im Standard (19.3.23). Alles schnurre "in gleichbleibender Tonlage" ab. Und "weil in diesen Miniaturszenen keine Figur ein Gesicht bekommt, weil keine die Chance hat, so etwas wie eine innere Not, auch nur Notwendigkeit zu entwickeln, die sich dann buchstäblich hochnotkomisch nach außen stülpen könnte, liegt eine seltsam angestrengte Mechanik über allem", urteilt die Kritikerin. Ob dieser Abend "eine längere Halbwertzeit hat als die Träume der letzten Nacht", sei fraglich.

Der Abend lasse sich als Ausgestaltung von Frank Witzels BRD-Noir-Metapher verstehen, als Blick durch die Zeit und durchs Schlüsselloch in eine Nachtkriegsgesellschaft, "die von nichts Bösem etwas wissen wollte, doch der sich die eigene Gewalt ständig aufdrängte", schreibt Michael Wolf in der taz (20.3.2023). "Freilich muss man Breths Programm vorwerfen, dass es in erster Linie kulturgeschichtlich motiviert ist und sich von der Gegenwart inhaltlich wie ästhetisch geradezu vehement abschottet. Die Inszenierung trägt somit selbst jene eskapistischen Züge, die sie an ihren mattgrauen Figuren vorzuführen versucht."

 

Kommentare  
Ich hab die Nacht geträumet, Berlin: Anderes Stück
Sehr geehrter Herr Rakow, wenn ich Ihre Kritik lese, habe ich das Gefühl, ein anderes Stück gesehen zu haben. Wir waren gestern im BE und waren sehr angetan. Sicherlich, es ist recht lang und die fehlende Beinfreiheit erschwert das Einlassen auf Theater pur. Träume habe immer mit Assoziationen und Vergangenem zu tun. Dies ist Frau Breth wunderbar geglückt; dazu die großartigen Schauspieler:innen, das tolle Bühnenbild! Vielleicht ist es gerade bei diesem Thema und Stück wichtig, sich erst einmal träumend einzulassen und erst später den Kritikergeist ans Werk zu lassen. Ich hoffe, dass sich nicht allzu viele Leser:innen Ihrer Kritik vom Besuch des Stücks abhalten lassen. MfG- Hanna Petersen
Ich hab die Nacht geträumet, Berlin: Eigene Brille
Jeder geht in das Stück mit seiner eigenen Brille, seiner eigenen Geschichte. Jeder sieht Anderes, je nach Stimmung und Fokus, sieht evtl. was er gewohnt ist zu sehen, was er sehen will,sieht nicht was gemeint ist. Träumt man mit dem Stück, lässt sich verzaubern, wird der Reichtum der Gefühle sichtbar. Mich haben die Details sehr berührt. Viele ideenreiche Zitate aus der Vergangenheit, Familiengeschichte, die mir ein Lachen ins Herz zauberten.
Ich hab die Nacht geträumet, Berlin: Ja!
100 % Zustimmung
Ich hab die Nacht geträumet, Berlin: Königin der Regie!
Nach der Vorbelastung durch die Kritiken über das Stück waren wir alle, Gruppe von acht Personen, sehr gespannt, ob wir uns langweilen, Fluchtreflexe entwickeln oder schimpfen. Aber wie sagt Denis Scheck immer in seiner Sendung: „Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue!" Das trifft auf Andrea Breth sehr zu und auch auf mich mit meiner Auswahl von Theaterstücken! Es war für uns alle ein zwar langer, aber nie langweiliger oder biederer Abend, denn das ist nur die äußere Oberfläche. Es passieren auf der Bühne Dinge, die weit entfernt sind von dem Bild einer heilen Welt. Meine Vermutung, dass Frau Breth eben die Ästhetik der Inszenierung als Falle gestellt hat, ist für mich bestätigt. Und die Darsteller:innen waren umwerfend und wunderbar! Die Textauswahl ist exzellent, fein ausgewählt und eingesetzt. Wir sind alle froh in der Aufführung am 25.04.23 dabei gewesen zu sein. Danke Frau Breth! Das haben Sie sich für uns gegönnt!

Ich habe jedoch Verständnis für Kritiker:innen, die sich sehr viele Inszenierungen ansehen. Da fehlt einem vielleicht irgendwann die Muße zum Genuss.
Ich hab die Nacht geträumet, Berlin: Schrulliges Potpourri
Manchmal gibt es Szenenapplaus für das schrullige Potpourri aus Fundstücken, die Andrea Breth zusammenhanglos aneinanderreihte und die ein Jahr nach der Premiere als Rarität aus einem Parallel-Universum hin und wieder auf dem Spielplan steht. Neben surrealen Szenen aus „Twin Peaks“ und „Lost Highway“ von David Lynch fragt man sich bei den meisten kleinen Nummern während der drei Stunden, die der Programmzettel minutiös mit Quellenangaben auflistet, um welche Quisquilie es sich diesmal handelt und nach welchen Kriterien es dieser oder jener Schnipsel in die Stückfassung geschafft hat.
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