Der Riss durch die Stadt

24. März 2023. Kurz vor der neuerlichen Vertragsverlängerung von Intendantin Sibylle Broll-Pape rumort es am Theater Bamberg. Ein Insider-Brief beklagte das schlechte Klima am Haus und geschönte Bilanzen. Das Ensemble konterte sogleich und schlug sich auf die Seite seiner Chefin. Was ist dran an den Vorwürfen? Ein Hintergrundbericht.

Von Andreas Thamm

ETA-Hoffmann-Theater Bamberg © Andreas Praefcke, via Wikimedia Commons (CC BY 3.0)

24. März 2023. Im Vorfeld einer Stadtratsdiskussion um die Verlängerung des Vertrags von Intendantin Sibylle Broll-Pape um zwei Jahre kochen in Bamberg die Diskussionen um die Personalie wieder hoch. Ein Brief an die Fraktionen spricht von respektlosem Umgang mit Mitarbeiter*innen und zieht die offiziellen Zuschauerzahlen in Zweifel. Um ein eigenes Bild der Situation des Bamberger Theaters zu gewinnen, wurde für diesen Text seit dem 9. März 2023 mit elf Personen gesprochen, die in den vergangenen Jahren mit Sibylle Broll-Pape in unterschiedlichsten Funktionen zusammengearbeitet haben. Der Fokus lag dabei auf Menschen, die nicht mehr in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zur Bamberger Intendanz stehen. Das Bild, das dabei entsteht, ist keineswegs eindeutig. Aber es gibt Anlass, einmal mehr über die Strukturen an deutschen Theatern nachzudenken – und über die Instrumente der Transparenz und Kontrolle von Macht.

Nicht alle Gesprächspartner*innen des Autors haben von ihrem Recht auf Quellenschutz und Anonymisierung Gebrauch machen wollen. Die meisten aus nachvollziehbaren Gründen schon. Um einer Glaubwürdigkeitshierarchie vorzubeugen, wurde pauschal auf Klarnamen verzichtet. Alle im Text zitierten Personen sind dem Autor namentlich bekannt (mit einer Ausnahme im PS). Niemand gewinnt einen persönlichen Vorteil, wenn er oder sie sich auf die Art einem Journalisten anvertraut, im Gegenteil, einige dieser Quellen gehen in gewisser Hinsicht ein persönliches Risiko ein.

1 Der Brief

Am 9. März 2023 erschien in der Bamberger Tageszeitung "Fränkischer Tag" (FT) ein Artikel unter der Überschrift "Soll Sibylle Broll-Pape bleiben?". Es ist nicht das erste Mal, dass diese Frage in Bamberg diskutiert wird. Auch die vorangegangene Vertragsverlängerung 2018 war von einem gewissen medialen Echo begleitet . An der Situation scheint sich seitdem wenig geändert zu haben: Es gibt hinter den Kulissen des Stadttheaters Mitarbeiter*innen, die den Stadtrat dringend davon überzeugen möchten, dass eine neue Intendanz die bessere Wahl wäre. Einer aus ihren Reihen wandte sich im Vorfeld der kommenden Sitzung zum Thema, die am 29. März 2023 stattfinden wird, an die Fraktionen im Stadtrat.

Auf vier Seiten legt der Mitarbeiter dar, was aus seiner Sicht gegen eine Verlängerung des Vertrags der Intendantin spricht, die dem Bamberger Theater seit der Spielzeit 2015/16 als Intendantin und Amtsleiterin vorsteht. Es handelt sich, man kann es nicht anders sagen, um eine detaillierte Anklageschrift. Die Kernaussagen: Es gebe Grund zum Zweifel an den offiziellen, recht guten Auslastungszahlen, die Belegschaft des ETA-Hoffmann-Theaters leide unter respektlosem Umgang und hoher Arbeitsbelastung und: Durch die Bündelung von Amtsleitung und Intendanz habe die Stadt jeglichen strukturellen Kontrollmechanismus abgeschafft.

"Wir sind froh und glücklich, Theater machen zu dürfen", sagt der Verfasser bei einem Telefonat. "Für viele ist eine Anstellung in diesem Berufsfeld ein Traum. Die hohe Fluktuation, die wir am Theater seit Jahren erleben, ist deshalb alles andere als normal." Zum siebten Mal in Folge, so seine Berechnung, hätten zwischen 14 und 19 Mitarbeitende das Theater zur aktuellen Spielzeit verlassen, im Schnitt also 19 bis 25 Prozent der Belegschaft. "Manche gehen lieber in die Arbeitslosigkeit." Mindestens neun seien das seit Amtsantritt gewesen, hinzu kämen vorzeitige Ruheständler*innen.

Das erste Statement auf den bald auch im Haus kursierenden Brief kommt nicht von der Leitung, sondern vom Ensemble. Schauspieler*innen stellen sich demonstrativ hinter die Chefin und distanzieren sich von den Vorwürfen, einer lobt explizit das Vertrauensverhältnis. Nachdem die Aufrichtigkeit dieser Meldung im FT angezweifelt wird, besteht zudem Veranlassung, noch eine „Richtigstellung“ nachzuschieben: Das Statement pro Sibylle Broll-Pape sei aus freien Stücken entstanden. Bei den Inhalten des Briefes handle es sich um "haltlose Vorwürfe" und "despektierlichste Anschuldigungen". Der Verfasser verfolge den Zweck, den Ruf des Theaters zu beschädigen und es als Institution in Frage zu stellen. Diese "Richtigstellung" ist von 27 Beschäftigten des Theaters unterzeichnet, sämtlich aus Ensemble und Dramaturgie (das Haus hat insgesamt knapp über 80 Mitarbeitende).

So ist die Lage in Bamberg. Ein Riss geht durchs Publikum, den Stadtrat und scheinbar auch durch die Belegschaft des Stadttheaters.

2 Der Umgang mit dem Personal

Der Name des Urhebers des Briefes ist im Theater bekannt. Die interne Auseinandersetzung schwelt schon seit einigen Jahren. Sibylle Broll-Pape will die Kritik als Meinung einer "kleinen aber lauten Minderheit" verstanden wissen. So steht es in ihrem Brief an Oberbürgermeister Andreas Starke von der SPD, in dem sie ihn um Schutz vor weiteren Anfeindungen bittet.

Es ist allerdings augenscheinlich, dass bestimmte Vorwürfe nicht zum ersten Mal an die Öffentlichkeit dringen. Verschiedene Quellen sprechen von weinenden Mitarbeiter*innen und Nervenzusammenbrüchen, von Geschrei und Türenschlagen. Eine Überprüfung der angezweifelten Auslastungszahlen kann in letzter Instanz wahrscheinlich nur der Stadtkämmerer vornehmen. Die atmosphärischen Vorfälle hingegen lassen sich mit den Erinnerungen von Ehemaligen abgleichen.

ETA Bamberg Sibylle Broll Pape BirgitHupfeld uSibylle Broll-Pape © Birgit HupfeldDen Vorwurf, sie kommuniziere häufig in einem unangemessenen Ton, weist die Intendantin von sich: "Ich schreie die Leute nicht zusammen. Das ist nicht meine Art." So lässt sie sich im FT zitieren. Das Betriebsklima nehme sie selbst in Stresssituationen als äußerst angenehm wahr. "Sie schreit in jedem Gespräch", sagt hingegen eine Person, die in der Dramaturgie angestellt war. "Ich habe mich nur ein einziges Mal normal mit ihr unterhalten. Das war mein Vorstellungsgespräch." Ihr persönlich sei quasi regelmäßig mit Kündigung gedroht worden.

Diese ehemalige Mitarbeiterin unterstreicht aber auch, dass es zwei Arten des Umgangs im Haus gebe. "Ich habe mich häufig wie eine Mitarbeiterin zweiter Klasse gefühlt. Zu den Schauspielern konnte sie sehr nett sein." Dass gegenwärtig am Haus Angestellte lobende Statements abgeben, ist erstmal wenig überraschend. Der Normalvertrag (NV) Bühne Solo, der hier Anwendung findet, bedarf einer jährlichen Verlängerung, die wegen "künstlerischer Gründe" verweigert werden kann. Intendanzwechsel, und dieses Szenario droht ja bei einer Ablehnung der Vertragsverlängerung durch den Stadtrat, führen in der Regel auch zu einem Austausch im künstlerischen Bereich des Personals.

Aber: Auch abseits der aktuell angestellten Schauspieler*innen findet man leicht Menschen, die sich gern, voller Dankbarkeit und eben anders an Bamberg erinnern: "Aus meiner Erfahrung treffen die Vorwürfe zu null Prozent zu", sagt eine Schauspielerin, die lange mit Sibylle Broll-Pape zusammengearbeitet hat. "Ich persönlich habe nie erlebt, dass jemand geweint hat, bedroht oder angeschrien wurde. Natürlich ist Theater keine Demokratie, aber ihre Tür stand immer offen. Ich hatte vorher noch keine Chefin, mit der ich so offen sprechen konnte."

Andere äußern sich vorsichtig kritisch: "Den Betrieb habe ich als kollegial und familiär wahrgenommen. Sibylle Broll-Pape habe ich als eine Vorgesetzte erlebt, mit der man durchaus intensiv streiten kann. Sie ist aber nicht nachtragend. Ich weiß aber auch, dass das nicht für alle Kollegen gegolten hat." Eine dritte ehemalige Ensemblekollegin hört sich so an: "Als ich herkam, habe ich gehofft, mit einer Frau an der Spitze könne man mehr Herzlichkeit und Wärme, einen anderen Führungsstil, Begegnung auf Augenhöhe erwarten. Das hat dann leider überhaupt nicht zugetroffen." In der Tat sei häufig geschrien worden, in der Regel jedoch mit den Mitarbeitenden der Gewerke, nicht mit den Künstler*innen. Die Stimmung sei "super schlecht" gewesen, die Schauspielerin erzählt von Verleumdungen und Lästereien. "Bamberg hat mich extrem desillusioniert."

Das Panorama positiver und negativer Meinungen ist im ehemaligen Ensemble komplett vertreten. Was sich jedoch bei allen Schauspieler*innen gleichermaßen durchzieht, auch bei denen, die sich schlecht behandelt fühlten, ist das Gefühl, dass der Rest der Belegschaft schlechter behandelt wurde als das künstlerische Personal.

Im Juni und Juli 2022 versuchte der Personalrat das Gerede um die Stimmung auf solide Füße zu stellen und führte eine Umfrage durch, an der rund die Hälfte des Personals teilnahm. Der Wunsch nach einer professionellen, unabhängigen Ermittlung des Betriebsklimas sei mehrfach am Widerstand der Intendantin gescheitert. Broll-Pape bestreitet das auf Nachfrage. Dieser Wunsch sei nie an sie herangetragen worden. Die Umfrage aus dem Mai kommt jedenfalls zu durchwachsenen Ergebnissen. Zwar gehen die Befragten in der Mehrheit gern zur Arbeit am Theater, sie fühlen sich gesund und als Teil des Unternehmens. Trotzdem findet die Mehrheit der Befragten das Betriebsklima nicht gut, Kritik sei unerwünscht, man werde durch Vorgesetzte nicht oder wenig motiviert.

Diese Umfrage, teilt Sibylle Broll-Pape auf Nachfrage mit, sei nicht theaterspezifisch. "Es bleibt ein Bestreben der Theaterleitung, an einer an den besonderen Bedürfnissen des Theaterbetriebs ausgerichteten Umfrage mitzuwirken."

3 Die Belastung

Arbeit am Theater ist zwangsläufig mit Abend- und Wochenenddiensten verbunden, mit Probenzeiten, die sich der Dynamik künstlerischer Prozesse unterordnen müssen, mit Sonderwünschen und spontanen Planänderungen. Der berüchtigte Normalvertrag Bühne Solo, der der künstlerischen Arbeit ein Gerüst gibt, nimmt hinsichtlich Arbeits- und Ruhezeiten deshalb auch die Häuser in die Verantwortung.

Im Kreis der Beschäftigten herrscht natürlich ein Bewusstsein dafür, vom Stadttheater kein '9 to 5' erwarten zu können. Es liest sich dennoch einigermaßen schockierend, wenn im Brief an den Stadtrat von "6 bis 8 Wochen ohne einen einzigen freien Tag" die Rede ist. Das sei bis zu einer Änderung im hauseigenen Tarifvertrag gängige Praxis am ETA-Hoffmann-Theater gewesen. "Ich habe Menschen gesehen, die am Ende waren", erinnert sich der Verfasser des Briefs.

Die hier befragten ehemaligen Mitarbeiter*innen wollen die explizite Zahl sechs bis acht Wochen auf Nachfrage nicht bestätigen. Aber, ja: Die Belastung sei hoch gewesen und auf individuelle Wünsche nach freien Tagen sei wenig Rücksicht genommen worden. "Viele standen kurz vor dem Burnout", erinnert sich eine ehemalige Mitarbeiterin. "Als ich dort arbeitete, sind außergewöhnlich viele Kolleg*innen wegen Krankheit ausgefallen." Auch momentan sei der Krankenstand hoch, ist in dem Brief zu lesen, es gebe viele Langzeit-Erkrankungen. Stimmt das? Ist die Belegschaft wegen der hohen Arbeitsbelastung dezimiert? Darauf antwortet Sibylle Broll-Pape auf Email-Nachfrage knapp: "Nein."

Als Reaktion auf Beschwerden wurde zur Spielzeit 2017/18 am ETA-Hoffmann-Theater eine Arbeitszeiterfassung eingeführt. Die ehemalige Mitarbeiterin erinnert sich folgendermaßen an diesen Schritt: "Als ich das erste Mal meine Arbeitszeiten dokumentiert habe, stand Frau Broll-Pape hinter mir und hat mir das diktiert. Die Erfassung wurde gefälscht." Das Theater dementiert diese Darstellung: "Die Dokumentation stand zu keinem Zeitpunkt unterm Einfluss der Intendantin."

Gerade wenn es um den Ton geht, der am Haus herrscht, stellt sich aber auch die Frage nach ihren eigenen Arbeitszeiten, nach dem Druck, unter dem die Intendantin steht. Sibylle Broll-Pape ist wegen der besonderen Struktur dieses Hauses mit maximaler Verantwortung belegt: Sie bekleidet sowohl die Position der Intendantin als auch die der Amtsleiterin, bestimmt die künstlerische Richtung des Theaters und leitet seine Geschäfte. Die Kulturreferentin der Stadt, Ulrike Siebenhaar, erklärt, die Bündelung der Kompetenzen und damit de facto Abschaffung des Vier-Augen-Prinzips sei 2016 beschlossen worden: "Ein eher ungewöhnlicher Schritt." Spätestens ab 2025, also planmäßig nach der Intendanz von Sibylle Broll-Pape oder bei einer Neuausschreibung, soll wieder eine Geschäftsanweisung wie vor 2016 in Kraft treten. Sibylle Broll-Pape habe dem selbstverständlich zugestimmt. Es wird sie ohnehin nicht mehr betreffen.

4 Die Zahlen

43 Seiten. Das ist auch eine Zahl. So viele Screenshots hat der Mitarbeiter des Theaters von der Buchungssoftware angefertigt und seinem Brief angehängt. Darauf zu sehen sind die Sitzplatzreihen des großen Hauses, das dann häufig einen halbvollen bis ziemlich leeren Eindruck macht. Die Screenshots wurden – angeblich, aus den Bildern ist das nicht ersichtlich – kurz vor den Aufführungen gemacht. Damit sollte ein zuvor gewonnener Eindruck bestätigt werden: Die leeren Sitze, die man Abend für Abend sehe, passten nicht zu den veröffentlichten guten Auslastungszahlen des ETA-Hoffmann-Theaters. Momentan habe das Theater eine offizielle Auslastung von rund 74 Prozent, vor Corona waren es stabil fast 80 Prozent. Gute Werte, trotz eines Einbruchs bei den Abonnements seit 2015. Das neue, jüngere Publikum kaufe weitaus mehr Tickets an der Abendkasse, so heißt es.

Im Brief geht es außerdem um die hohe Zahl an Ehren- und Freikarten, die doppelte Zählung von Ticketverkäufen und die angeblich niedrige Anzahl an Vorstellungen. Die Auslastungszahl sei also nicht nur mathematisch falsch, sondern zudem geschönt mit allen Mitteln. Das Bamberger Einspielergebnis sei vergleichsweise schlecht, man erhalte den höchsten Betriebszuschuss pro Zuschauer*in in Bayern. Die Intendanz reagiert auf diesen Abschnitt des Briefs besonders ausführlich. Die Zahl der Freikarten sei de facto reduziert worden, "die Einnahmen stiegen seit 2017 bis ins Jahr 2020 kontinuierlich an", so Sibylle Broll-Pape. Und: "Die statistischen Daten werden und wurden seit 2016 auf Grundlage der Daten aus dem Ticketing-System erhoben."

In einem Beitrag von TV Oberfranken weist Broll-Pape die Vorwürfe mit folgendem Wortlaut zurück: "Da ist nichts dran. Die Zahlen kann jeder nachschauen. Wir werden kontrolliert von weiß ich was allem." Aber was heißt das nun? Präzisieren kann Kulturreferentin Siebenhaar: Das Theaterkuratorium, bestehend aus Vertreter*innen des Stadtrats, externen Expert*innen und Kooperationspartnern, bekomme alle Zahlen mindestens zwei Mal jährlich vorgelegt. Die Kämmerei erhalte einen vierteljährlichen Budgetbericht, die Fördermittelgeber erhielten jährliche Verwendungsnachweise. Das städtische Rechnungsprüfungsamt walte jährlich und unangekündigt seines Amtes, und der Oberste Bayerische Rechnungshof schaue alle fünf bis sieben Jahre genauer hin.

Ein städtisches Amt, so die Botschaft, könne nicht so einfach irgendwelche Zahlen erfinden. Gerade in Bamberg, in dessen Rathaus erst im vergangenen Jahr eine Boni-Affäre aufflog, muss man jetzt umso wachsamer aufpassen. Der Reputationsschaden wäre brutal. Sibylle Broll-Pape habe das Budget fest im Griff, betont Ulrike Siebenhaar. "Dennoch werde ich eine unabhängige Prüfung der Zahlen veranlassen."

Natürlich lassen sich die Auslastungszahlen leicht schönen, Platzangebote können variabel auf den tatsächlichen absoluten Zuspruch angepasst werden Die Bamberger Zahl wird vom Sommer-Open-Air, vom Kinder- und Jugendtheater, vom kleinen Studio aufgehübscht. Das Große Haus spuckt am Ende einer Spielzeit, basierend auf dem Statistischen Jahrbuch des Stadt, um die 60 Prozent aus. Was auch besser zum Eindruck der Mitarbeitenden und den Screenshots passt. Und auch völlig in Ordnung und ausreichend ist. Das heißt nicht, dass das Große Haus vor den Intendanz von Sibylle Broll-Pape unbedingt voller war. Sondern vielmehr, dass Auslastungszahlen immer auch als das angesehen werden müssen, was sie sind: Werbung in eigener Sache, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten.

5 Die Kunst

Bevor Sibylle Broll-Pape 2015 aus Bochum nach Bamberg kam, schlief das Bamberger ETA-Hoffmann-Theater (auch hier gilt natürlich: die Sicht variiert, je nachdem, wen man fragt), einen gemütlichen Dornröschenschlaf ohne spannende Träume. Intendant Rainer Lewandowski war 26 Jahre lang im Amt gewesen. Auch diese lange Zeit und die währenddessen gewachsenen, vertrauten Strukturen können einen Teil der Missstimmung im Haus bis heute erklären. Und ganz ohne Missstimmung läuft ein solcher Prozess wahrscheinlich nirgends ab.

Seit Sibylle Broll-Pape Intendantin in Bamberg ist, lohnt es sich auch für überregionale Kritiker*innen, das Spielzeitheft zu studieren. Was insbesondere daran liegt, dass es ihr gelingt, junge, namhafte Regisseur*innen in das romantische 75.000-Einwohner*innen-Städtchen zu holen. "Der Reichskanzler von Atlantis" in der Regie von Brit Bartkowiak wurde 2020 zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. Bonn Parks Auftragsarbeit "Das Deutschland" zu den Mülheimer Theatertagen und zum Nachwuchsregiefestival "radikal jung" am Münchener Volkstheater. Sebastian Schugs Inszenierung von "Bunbury" war bei den Bayerischen Theatertagen zu Gast. Momentan läuft in Bamberg in seiner kreativ übersprudelnden Regie "Wir sind noch einmal davongekommen". Außerdem darf sich das Publikum der Erzbistums-Stadt am ab 18 empfohlenen Punk-Biopic "Who's Afraid Of Fuck You All" in der Regie von Paula Thielecke reiben. Zuletzt würdigten die deutschen Theaterverlage das Bamberger Programm mit ihrem allerdings undotierten Preis.

ETA Bartkowiak ReichskanzlerAtlantis 03 MartinKaufhold uBrit Bartkowiaks Inszenierung von Björn SC Deigners "Der Reichskanzler von Atlantis" © Martin Kaufhold

Diese Programmarbeit, die Zusammenarbeiten mit spannenden Regisseur*innen, die dann doch immer wieder stimmige Zusammenstellung des Ensembles – das sind Stärken der Ära Sibylle Broll-Pape in Bamberg, an denen sich jede Nachfolge wird messen lassen müssen. An dem Haus, dessen Geschichte bis ins Jahr 1802 zurückreicht, wird mittlerweile mit relativer Häufigkeit gegenwartsrelevantes Theater gespielt, das qualitativ mit größeren Städten mithalten kann. Und junge Schauspielende bekommen die Chance, sich in großen Rollen für die nächste Stufe auf der Karriereleiter zu empfehlen. Sie wissen das zu schätzen.

"Mit der neuen Intendanz kamen andere Ambitionen ans Haus", sagt ein ehemaliges Ensemblemitglied. "Es war ein großes Bedürfnis, das Theater aus der Versenkung zu heben, etwas zu riskieren, mutiges Theater zu machen. Und ich hatte das Gefühl, dass ganz viele Menschen am Haus verinnerlicht hatten, dass hier etwas Tolles passiert, und Blut geleckt haben, ihr eigenes künstlerisches Schaffen einzubringen. Das habe ich sehr genossen." Jemand aus dem künstlerischen Leitungsteam: "Wir haben schnell eine Veränderung des Publikums wahrgenommen, neue Leute, die froh waren, dass jetzt etwas anderes passiert. Die Studierenden sind früher nach Erlangen und Nürnberg gefahren, jetzt kamen sie zu uns."

Im Gegenzug sind Teile des alteingesessenen, konservativeren Publikums abgewandert . Auch deren Stimmen, die insbesondere auf die politischen Stücke reagieren, findet man schnell: Man wolle nicht erzogen werden. Eine CSU-Ortsgruppe teilt mit, sie wolle kein "links-intellektuelles Belehrungstheater". Eine Form von Kritik, die man Sibylle Broll-Pape durchaus zugute halten kann.

In den Kommentarspalten bei Facebook, denen unter den offiziellen Statements aus dem aktuellen Ensemble, springen die Bamberger Theatergänger*innen für die Intendantin in die Bresche. Man müsse Sibylle Broll-Pape doch dankbar sein, für ein komplexes, politisches Theater auf Großstadt-Niveau. Die Leitung und das Ensemble reagieren auf die Kritik und die Gerüchte immer wieder mit Einladungen an die Bürgerschaft: Schauen Sie doch unsere Kunst! Aber das ist nicht der Punkt, weder des Briefes an den Stadtrat noch der Artikel, die zum Thema erschienen sind, das geht sogar bewusst daran vorbei. Die Qualität eines Großteils des Programms in Bamberg ist für eine Kleinstadt in der Tat bemerkenswert und das hat viel mit der Arbeit der Intendantin zu tun. Für den allergrößten Teil der im Brief angesprochenen Kritikpunkte ist das aber völlig unerheblich. Wenn man die Kunst für sich sprechen lässt, wie es die 27 aus Ensemble und Dramaturgie einfordern, bleibt vieles ungesagt. Und Erfolg, wie auch immer man ihn definiert, ist im Ernstfall weder Freibrief noch Entschuldigung.

6 PS

Der Druck auf dem Kessel ist groß, und Artikel wie dieser tragen sicher nicht dazu bei, ihn zu senken. In Reaktion auf die Recherchen wendet sich ein Ensemblemitglied empört an nachtkritik.de, verweist auf die Geschlossenheit des Ensembles in seiner öffentlichen Reaktion auf den Bericht des Fränkischen Tags und hebt weitere positive Personalmaßnahmen von Sibylle Broll-Pape hervor: der Frauen-Anteil im Ensemble auf 50 Prozent erhöht, die Gagen von Männern und Frauen angepasst, ein gemischtes künstlerisches Leitungsteam erstellt, Kolleg*innen aus Syrien und der Ukraine arbeiteten am Haus. So seien "antiquierte Strukturen" beseitigt worden.

Am Mittwoch, genau eine Woche vor der Stadtratssitzung, erscheint ein Video "E.T.A. - Was geht ?!", das aus vielen Gründen interessant ist. Schauspieler Daniel Seniuk führt über die wohlfühlige Sonnenterrasse des Hauses und fängt, man konnte fast annehmen, zufällige Stimmen der Mitarbeiter*innen zur aktuellen Situation ein. Die schildern einen Betrieb mit familiärer Atmosphäre und enger Zusammenarbeit zwischen allen Abteilungen. Die derzeitige Berichterstattung sei einseitig, mache wütend und traurig. Befragt werden vor allem, nicht nur, Leiter*innen der einzelnen Abteilungen. Und niemand bestätigt irgendwas von wegen Psychoterror. Die Presse habe da, so Seniuk, ein Skandälchen aufgebauscht.

Am Donnerstag dann erreicht den Bamberger Stadtrat eine anonyme Mail. Beteiligt gewesen seien mehrere Mitarbeiter*innen des Theaters, angehängt ist die Mitarbeiterbefragung aus dem Sommer 2022. Diese vermittle ein ganz anderes Bild als die derzeitige öffentliche Repräsentation. Und zwar, weil die gesamte Belegschaft (53% Teilnahme, aber immerhin) befragt worden und die Umfrage anonym gewesen sei. Dass Aussagen über ein schlechtes Betriebsklima und ihren Umgang mit den Mitarbeitenden von der Intendantin nun als "unwahr" bezeichnet wurden, habe erneut für Unmut und Misstrauen gesorgt. "Was sollen wir davon halten hinsichtlich einer notwendigen Veränderung des – durch die Umfrage nachweislich – schlechten Betriebsklimas zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden?" Ein interner Prozess zur Klärung oder Aufarbeitung kündige sich nicht an.

Bamberger Stadträt*innen wie die Architektin Daniela Reinfelder (Bambergs unabhängige Bürger) suchen derweil selbst das Gespräch mit der Belegschaft, um sich ein Bild zu machen. "Ich habe mit einigen Beschäftigten des Theaters gesprochen", sagt sie. "Mein Eindruck von der Situation ist der: Was in dem Brief steht, stimmt." Man kann davon ausgehen, dass, bis der Stadtrat tagt, beide Seiten noch einmal alles mobilisieren werden, um möglichst viele Stimmberechtigte von ihrer jeweiligen Version zu überzeugen. Das Bamberger Stadttheater erscheint in diesen Erzählungen mal wie ein Betrieb mit Vorbildcharakter, mal wie die Vorstufe zur Hölle. Und wenn der Vorhang fällt, kehrt lang noch keine Ruhe ein.

 

Thamm Andreas Sarah Guber smAndreas Thamm, geboren 1990 in Bamberg, hat in Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studiert. Lebt als Journalist, Autor und Suppenkoch in Nürnberg. Hat 2020 den bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur und das Bayerische Arbeitsstipendium zuerkannt bekommen. 2021 folgte der Kulturpreis der Stadt Nürnberg. Zwei Jugendromane bei Magellan: Heldenhaft (2019) und Wenn man so will, waren es die Aliens (2021).

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