Mit gebrochenen Flügeln

25. März 2023. Das Hässliche am Grund des Maßkrugs: Horváths gerade wieder viel gespielter Klassiker zeigt ein scheiterndes Liebespaar und die Menschen drumherum als grausame Krisengeschöpfe. In Mateja Koležniks neuer Inszenierung werden sie zu Vorboten der kommenden Weltkatastrophen. Ein todtrauriger, großer Theaterabend.

Von Andrea Heinz

"Kasimir und Karoline" in der Regie von Mateja Koležnik am Wiener Burgtheater © Matthias Horn

25. März 2023. Erst sieht man in der schmalen Öffnung auf der Burgtheaterbühne nur einen nackten Männerhintern. Langsam weitet sich der schwarze Guckkasten-Ausschnitt und man erkennt: Er soacht in ein Waschbecken. Soacha ist ein unfeiner bairischer Ausdruck für pinkeln, aber so reden nur die feinen Pinkel, die "neureichen Arschlöcher", wie es in Mateja Koležniks brillanter Inszenierung von Ödön von Horváths Kasimir und Karoline einmal heißt; und um die geht es hier nur am Rande. 

Zwischen den Kriegen

Das erste Bild lässt schon ahnen: Wir sind in Bayern, am Oktoberfest genauer, und unfein ist ein Hilfsausdruck. Das bunte Volksfesttreiben, die schönen Attraktionen, das lässt sich bei Koležnik nur im Off erahnen. Auf der horizontal zweigeteilten Bühne spielt sich der unschöne Rest ab: Oben, hinter Schiebetüren aus Milchglas, die immer wieder von stolpernden Betrunkenen verschoben werden, wird zwischen dem Cabriolet des Kommerzienrates Rauch und zwei Zapfsäulen gesoffen, gestritten und gegrapscht. Im Souterrain befindet sich die Latrine, hier empfängt Juanita ihre Freier, wird gespieben, gestritten und vergewaltigt. So stilvoll diese in Vintage-Farben gehaltene Bühne (Raimund Orfeo Voigt) ist, so geschmackvoll die Kostüme (Ana Savić-Gecan) – schön ist das nicht.

Aber schön ist es halt auch nicht, wenn man gestern abgebaut wurde und morgen stempeln muss, so wie der gewesene Chauffeur Kasimir (Felix Rech), und deshalb womöglich verlassen wird von seiner Braut Karoline (Marie-Luise Stockinger). Wenn man wegen eines Dolchstoßes einen Krieg verloren hat, in einer Weltwirtschaftskrise steckt und ganz konkret am Oktoberfest mit leeren Taschen dasteht. Dass das nur in der Katastrophe enden kann, konkret für die Figuren des Stückes wie auch weltgeschichtlich in der Shoah, macht Koležnik gleich zu Beginn deutlich: Aus dem Sanitäter, der in einer der Versionen des Stückes am Ende auftaucht, wird bei ihr eine ganze Gruppe (u.a. Elisabeth Augustin als Sanitäterin und Stefan Wieland als Arzt), die, während sie zu diversen Unfällen und Malheurs gerufen wird, in Ausschnitten aus Horváths Vorarbeiten zum Stück angeregt politisiert: Gegen die Juden, die Franzosen (Erzfeind!), auch das neureiche Arschloch kommt vor.

Beziehungen im Kosten-Nutzen-Kalkül

Zwischen herum hastenden Sanitäter*innen und Polizisten, einem Junggesellinnen-Abschied, der mit blinkendem Ghettoblaster zunehmend zerschossen über die Bühne taumelt, einer zünftigen Blaskapelle mit wippenden Gamsbärten (vier alternierende Mitglieder der großartigen Band Federspiel) und einer Horde Halbstarker in Fußballtrikots zerkriegen sich Kasimir und Karoline, und so wie Rech und Stockinger das spielen, spürt man geradezu körperlich, wie es die beiden zerreißt: zwischen ihren Gefühlen im Inneren einerseits, und dem Draußen andererseits, das Härte und Berechnung verlangt und einem Paar ohne solide Finanzen wenig Perspektiven gibt. Rechs Kasimir ist in manchen Momenten so zart und durchlässig, dass man fast Hoffnung fasst für die beiden. Im nächsten Moment aber blafft er schon: "Geh halt doch dein Maul", und Stockingers Karoline ist sowieso längst einen Schritt weiter: Angriffig wirft sie ihm ein bissiges "Ich möcht jetzt mal mit der Achterbahn fahren" hin. Sie hat gelernt, dass man schauen muss, wo man bleibt – erst recht als Frau.

KASIMIR UND KAROLINEvon Ödön von HorváthPremiere am 24.03.2023 im BurgtheaterKasimir: Felix RechKaroline: Marie-Luise StockingerRauch: Markus MeyerSpeer: Markus HeringSchürzinger: Jonas HackmannDer Merkel Franz: Christoph LuserDem Merkel Franz seine Erna: Mavie HörbigerElli: Lili WinderlichMaria: Maresi RiegnerSanitäterin: Elisabeth AugustinDer Arzt: Stefan WielandDer Ausrufer: Christoph GriesserDie Ausruferin: Sophie AujeskyJuanita: Olivier BlauBlaskapelle mit Musikern von FederspielAkkordeon, Gesang: Martina Winkler, Franziska HatzBanjo, Gesang: Barry O’Mahony, Andreas LechnerRegie: Mateja Koležnik Bühne: Raimund Orfeo VoigtBühnenbild-Mitarbeit: Thilo UllrichKostüme: Ana Savić-GecanLicht: Michael HoferSounddesign: Christoph MatekaKomposition: Michael GumpingerChoreografie: Magdalena ReiterDramaturgie: Sebastian HuberUmtriebe auf der Jahrmarkt-Toilette: Lili Winderlich, Mavie Hörbiger, Christoph Luser, Felix Rech © Matthias Horn

Für Solidarität ist da kein Platz, auch nicht für dem Merkel Franz (Christoph Luser) seine Erna (Mavie Hörbiger), die von diesem in einer schmerzhaften Szene vergewaltigt wird. Die Beziehungen sind von kaltem Kosten-Nutzen-Kalkül geprägt, auch zwischen den beiden "alten Säcken" Rauch (Markus Meyer) und Speer (Markus Hering) und den Mädchen Elli (Lili Winderlich) und Maria (Maresi Riegner) oder zwischen Karoline und Schürzinger (Jonas Hackmann). Die Männer suchen nach sexueller und emotionaler Bestätigung, die Frauen – aus wesentlich existenzielleren Gründen – nach finanzieller Absicherung. Das ist, was Kasimirs Arbeitslosigkeit so demütigend macht: Ohne Geld ist er kein "Mann" mehr.

Unendliche Traurigkeit

Koležnik treibt dem Stück jede Volksfest-Seligkeit aus, sie inszeniert es in einer grellen Härte und Brutalität, die ziemlich präzise diese ganz spezielle Volksfeststimmung und damit wie ein Schlag in die Magengrube trifft: Zwischen hysterischer Ausgelassenheit und Gruppenzwang, Suff, Sexismus und Absturz. Es ist unendlich traurig, wenn die Prostituierte Juanita auf dem Waschtisch kauert und sich selbst eine Arie vorsingt. Wenn Karoline dazukommt und die beiden sich, jede taub in ihrem Elend, nur kalt und fühllos anschauen. Stockingers Karoline ist das Zentrum des Abends: Schwer zu ertragen, wie sie zittrig die vollgekotzte Strumpfhose samt Schuhen herunter zerrt; wie sie kaum noch bei Sinnen versucht, Souveränität vorzuschützen.

Sie ist es, die am bittersten bezahlen muss – weil sie ihr Leben mit den bescheidenen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, selbst in die Hand nehmen wollte. Den Ausflug, den der sturzbesoffene und notgeile Rauch mit ihr nach "Altötting" machen will, lässt Koležnik in einem spektakulären Unfall enden. Die blutende Karoline jault wie eine Sirene. Als der Bildausschnitt am Schluss wieder enger wird, bleibt nur sie übrig. Am Latrinenboden liegend, mit gebrochenen Flügeln.

Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Mateja Koležnik, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Ana Savić-Gecan, Licht: Michael Hofer, Sounddesign: Christoph Mateka, Komposition: Michael Gumpinger, Choreografie: Magdalena Reiter, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Felix Rech, Marie-Luise Stockinger, Markus Meyer, Markus Hering, Jonas Hackmann, Christoph Luser, Mavie Hörbiger, Lili Winderlich, Maresi Riegner, Elisabeth Augustin, Stefan Wieland, Christoph Griesser, Sophie Aujesky, Olivier Blau; Musiker von Federspiel, Martina Winkler, Franziska Hatz, Barry o Mahony, Andreas Lechner; Komparserie: Luis Noah Brunner, Caspar J.F. Conradi, Elvis Häber, Joona Juntunen, Johannes Kirchner, Alexander Mayer, Karl Jakob Schäfer, Wolfgang Schöbitz, Marlene Glössmann, Sonja Hanl, Lena Reinhardt, Hannah Wassner.
Premiere am 24. März 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Das Ensemble spiele hier eher für sich, als für das Publikum, meint Margarete Affenzeller im Standard (online 25.3.2023). Die beiden Protagonist:innen sieht die Rezensentin in dieser Inszenierung in einem "alles ertränkenden Vergnügungschaos", doch diese Idee bliebe "in der Umsetzung trotz einiger guter Szenen auf der Strecke." Das "verschachtelte Korridortheater" der Regisseurin gerate hier an seine Grenzen. Zudem: "Sämtlichen Frauenfiguren kann man an diesem Abend nur das Beileid ausdrücken, das ergibt wenig Spielraum und lässt die Inszenierung auch altbackener wirken als sie sein möchte", ist ein Fazit der Kritikerin.

"Die Aufführung ist vor allem deshalb so kurz, weil die vielen Pausen im Text gestrichen sind, die bei Horváth 'Stille' heißen und auf die er so großen Wert gelegt hat," schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (27.3.2023). Die Inszenierung funktioniert aus seiner Sicht "wie ein lebendes Wimmelbild, das nie stillsteht." Das hohe Tempo und die steile Optik der Inszenierung jedoch gingen "auf Kosten der Protagonisten, die in dem Gewusel ein wenig untergehen," so Kralicek.

"Koležnik konzentriert sich ganz auf die Stimmung. Auf das Garstig-Gemütliche dieser Horváth-Welt. Für das Gemüt der Einzelnen hingegen nimmt sie sich wenig Zeit," schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.3.2023). Einzig Mavie Hörbiger vermag ihrer Erna aus seiner Sicht "ein anziehend ruchloses Flair zu verleihen". Ein Fehler der Regie sei es, "auf die zen­trale 'Abnormitäten-Szene' zu verzichten. "Auch die Idee, jene bei Horváth im Hintergrund aufscheinenden Andeutungen eines drohenden Zivilisationsbruchs durch wiederkehrende nationalsozialistische Sprechakte explizit zu machen, trägt nicht zu einer tieferen Wirkung bei. 'Ich denk ja gar nichts, ich sag es ja nur', Karolines wunderbarer Dada-Spruch, wird so zum Kernsatz der Inszenierung."

"Bonsoir tristesse: Mateja Koležnik erteilt selbst dem Anflug von Leichtigkeit und Ironie eine Absage. Die Wehmut über der abendlichen Szenerie kann man fast mit Händen greifen", schreibt Edwin Baumgartner in der Wiener Zeitung (25.3.2023). "Das Stück sei kleinteilig mit all den kurzen Szenen, die ineinandergeschachtelt sind, war ein Kritikpunkt nach der Uraufführung 1932. Mateja Koležnik nützt das für filmisch präzise Einblendungen, die nicht das Tempo aus dem Stück herausnehmen, sondern es, im Gegenteil erhöhen."

In der taz (31.3.2023) berichtet Uwe Mattheiß über die "spannendste Woche seit Langem" im Wiener Theater: "Kolešnik betrachtet Ödön von Horváths Oktoberfestwirren mit dem Röntgenblick eines Hyperrealismus, der in höchster Verfremdung gerade das Gegenteil von dem bewirkt, was realistische Ästhetik als Vorurteil über die Wirklichkeit behauptet. Sie erzählt den Untergang von Kasimir und Karoline aus dem Geiste der Wiesn-Toilette, zwischen angekotzten Kacheln neben dem Waschbecken und dem kurzen Ritschratsch des Kondomautomaten vor hastigen Zweisamkeiten hinter der Kabinentür."

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