Mysteriöse Wirtsfrau

2. April 2023. Jonas Knecht nimmt seinen Abschied aus der Schauspieldirektion in St. Gallen. Mit einem seltsamen Stoff in atmosphärischen Bildern: aus dem Leben der als Hexe verrufenen Wirtin Paula Roth.

Von Julia Nehmiz

"Selig sind die Holzköpfe!" in der Regie von Jonas Knecht in St. Gallen © Iko Freese

2. April 2023. Die Bühne eine Winterlandschaft. Eine schwarzgekleidete Figur stapft suchend durch das weiche Weiß. Eine Glasharfe setzt ein, suchend auch die Töne. Weitere Figuren irren durch die Unschärfe, hier eine Tiermaske, da verhaken sich zwei Personen zu einer, dort zerrt einer jemanden hinter sich her. Wie ein Traum, der archaisch, derb, geheimnisvoll im Nebelverhangenen einer Alpensaga abläuft.

Es ist die letzte Schauspielpremiere im Theaterprovisorium, bevor das St. Galler Theater im Herbst zurück in das sanierte und umgebaute Stammhaus ziehen darf. Und: Es ist die letzte Premiere des St. Galler Schauspieldirektors Jonas Knecht. Wenn im Herbst der derzeitige Operndirektor als neuer Generalintendant amtet, dann wird St. Gallen keinen Schauspieldirektor mehr haben, sondern eine neue Schauspielleitung.

Zum Abschied hat sich Jonas Knecht einen langgehegten Wunsch erfüllt: Das Leben der eigensinnigen Wirtin Paula Roth auf die Bühne zu bringen.

Wo Schafe durch die Herberge trappeln

So ungewöhnlich das Leben der Paula Roth verlief, so ungewöhnlich war auch ihr Gasthaus, das "Bellaluna" im Albulatal. Dort, im Nirgendwo der Bündner Berge, zwischen Filisur und Bergün, fand Paula Roth eine Heimat. Und viele Gäste fanden eine Heimat bei ihr. Sie muss legendär gewesen sein. Lebte mit Schafen und Katzen und Hunden und Kaninchen, die in der Gaststube ein und aus gingen. Sie stellte Heilsalben her, wurde Hexe genannt, erzählte Geschichten aus ihrem Leben, schrieb, malte, legte ihren Gästen auch mal eine Schaufensterpuppe ins Bett, damit die sich beim Schlafengehen tüchtig erschreckten.

Holzkopf2 c Iko Freese uJulius Schröder, Tobias Graupner, Anna Blumer © Iko Freese

Paula Roth hatte sich dieses Leben und diesen Ort mühsam erkämpft. Jung gegen ihren Willen verheiratet, kam sie in die Psychiatrie, ließ sich scheiden, das Sorgerecht für die Kinder wurde dem Mann zugesprochen. Sie wurde von einem Naturarzt im Appenzellischen geheilt, begann wieder zu arbeiten, machte sich selbständig, fand ihren Traumort, das heruntergekommene Gasthaus "Bellaluna". Ihr Essen legendär schlecht, ihre Gastfreundschaft legendär gut. Auch Prominente gingen bei ihr ein und aus. 1988 wurde sie in ihrem Gasthaus ausgeraubt und ermordet.

Mythisch und mäandernd

Jonas Knecht macht aus Paula Roths Leben einen poetischen Bilderbogen. Wenig Biografisches wird angetupft, Knecht folgt dem Mythischen, Mystischen, Verwunschenen der Person Paula Roth und des Ortes im Albulatal. Wer über Paula Roth nichts weiß, ist allerdings schnell verloren. Das ist ein Schwachpunkt des Abends: Er hat keinen Kern. Weder wird Paula Roth wirklich greifbar, noch folgt das Stück einer Stringenz, stellenweise zerfasert es. Vielleicht ist das auch dem Autorenkollektiv geschuldet – vier Autor:innen (Katja Brunner, Anja Horst, Ariane von Graffenried, Martin Bieri) haben Texte beigesteuert. Das ergibt einen prallen Szenenreichtum, passt aber nicht immer ganz zusammen.

Trotz der Widrigkeiten der Vorlage nimmt einen Jonas Knechts Inszenierung ein. Er setzt ganz auf die Kraft seiner Bilder – die haben es in sich. Die Winterlandschaft zu Beginn (Bühne: Michael Köpke) wird zum Winterwald, zur Messielandschaft, zum Messiegebirge, bis der Raum leergeräumt wird und eine leuchtende Jukebox im Dunkeln erzählt. Jonas Knecht fängt Stimmungen ein und zeichnet sie mit sieben Schauspieler:innen und zwei Musiker:innen auf die Bühne. Schafe blöken, Paulas zucken, Uhus erkunden das stille Gasthaus. Mächtige Windstöße legen die Kleiderlandschaft frei, im Kleidergebirge wird versucht, Ordnung zu schaffen (Paula Roth muss messiehaft gelebt haben), Pappköpfe – wie sie Paula Roth ins Fenster stellte, um Einbrecher abzuschrecken – formieren sich zum Tableau.

Stimmungsvoller Bilderbogen

Stimmungsvoll auch die Musik von Anna Trauffer und Andi Peter. Mal Soundteppich mit traumverlorenem Glockenspiel, mal videospielpoppig, mal Choral, mal Schuberts Leiermann zitierend und quergeschnitten mit dem Berner Volkslied vom Vogulisi – die Atmosphären, die Jonas Knecht auf die Bühne zeichnet, setzen Trauffer und Peter in Klang um.

Eine musiktheatralische Séance, so der Untertitel des Stücks – Wirtin Paula Roth ergreift am Schluss selber das Wort. Wer sie wirklich war? Wer weiß das schon. Jonas Knecht und sein Ensemble erschaffen einen stimmungsvollen, liebevollen Bilderbogen – eine Hommage an eine ungewöhnliche Frau.

 

Selig sind die Holzköpfe!
Eine musiktheatralische Séance um Paula Roth von Katja Brunner, Anja Horst, Ariane von Graffenried, Martin Bieri und Jonas Knecht
Regie: Jonas Knecht, Bühne: Michael Köpke, Kostüme: Sabine Blickenstorfer, Musik: Anna Trauffer, Andi Peter, Licht: Andreas Volk, Choreografie: Marcel Leemann, Dramaturgie: Anja Horst.
Mit: Anna Blumer, Tabea Buser, Birgit Bücker, Pascale Pfeuti, Anja Tobler, Tobias Graupner, Julius Schröder.
Uraufführung am 1. April 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

theatersg.ch

Kritikenrundschau

Von kritisch poetischem, in der Region verwurzeltem Heimattheater spricht Bettina Kugler im St. Galler Tagblatt (3.4.2023). Der Text schichte "poetische Annäherung, biografische Erzählung und schlaglichtartige, nicht dramatisch verdichtete Szenen" auf. Bühne und Kostüme geben dem Stück aus Sicht der Kritikerin "visuelle Magie". Auch die Live-Musik von Anna Trauffer und Andi Peter hat Magiepotenzial. Selbst wenn sich maches in der Handlung dann allzu absehbar ausnimmt. "Und immer singt das Ensermble berücktend schön."

"Was hier stimmungssicher beschworen wird, ist vielmehr exemplarisch: das Schicksal einer Frau, die sich in einer dumpfen Männerwelt behaupten musste, gewehrt hat, immer wieder den Kürzeren zog und sich dennoch nicht kleinkriegen liess," schreibt Peter Surber im Ostschweizer Online-Kulturmagazin Saiten.ch (4.4.2023) Die Hexe, "die auf dem Hag sitzt zwischen bürgerlicher und magischer Sphäre – sie ist am Ende auch ein Sinn-Bild für das Theater, das sich seinen künstlerischen Reim auf die Realität macht und dabei das Publikum und die Gesellschaft über den eigenen Zaun hinaus blicken lässt." Mit 'Selig sind die Holzköpfe' ist Jonas Knecht aus Sicht dieses Kritikers "nochmal dieser Spagat geglückt, mit einem Ensemble und Leitungsteam, das seine Hommage an eine charismatische Frau auch zur Hommage an den scheidenden Schauspieldirektor werden liess."

Für Fabienne Naegeli im SRF (3.4.2023, ab Minute: 24:15) zeigt dieser Abend eine "Spurensuche, eine poetische Annäherung" an Paula Roth und ihre Welt. Paula Roth werde "nicht wirklich fassbar, nur heraufbeschworen". Knechts Inszenierung lebe "von starken Bildern"; mit "seinen assoziativen Texten" mäandere der Abend "teils etwas ziellos vor sind hin".

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