Stephan Märki – Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar – Staatstheater Thüringen, Intendant

Welches war Ihr herausragendstes, schönstes, beeindruckendstes Theatererlebnis im Jahr 2008, am eigenen Haus oder an anderen Häusern? Und warum?

Von den vielen Theaterabenden daheim und unterwegs bleiben mir nicht viele nachhaltig in Kopf und/oder Herz. Das mag mit einer déformation professionelle zusammenhängen oder mit den spezifischen Fragestellungen, unter denen ich meist Aufführungen besuche. Die Qualität einer Inszenierung oder die Güte der Darsteller jedenfalls sind nicht allein ausschlaggebend. Vielmehr sind es oft das Risiko einer Aufführung, gewisse Scham- und Rücksichtslosigkeiten gegenüber meinen Erwartungen oder Sehgewohnheiten, Zugriffe auf Themen oder Stoffe, die das Scheitern nicht scheuen, was mich fasziniert. Und hier kann ich eine Aufführung des vergehenden Jahres besonders hervorheben: Es ist Christoph Schlingensiefs ureigene "Missa da requiem", die er unter dem Titel Kirche der Angst während der letzten Ruhrtriennale in Duisburg gezeigt hat. Hier beglaubigt meiner Ansicht nach ein großer Romantiker die Einheit von Kunst und Leben in extremis und straft alle diejenigen lügen, die ihm immer windige Effekthascherei, medienwirksame Spektakel oder maßlose künstlerische Kraftmeierei vorgeworfen haben. Wohlgemerkt: Der Abend ist effekthaschend, medienwirksam und kraftmeiernd, aber wir erleben einen authentischen Künstler, für den Kunst nicht von Können, sondern von Nicht-anders-Können kommt. So sollte es sein!

Den Produktionen am eigenen Haus stehe ich naturgemäß viel befangener gegenüber. In jede Produktion bin ich mehr oder weniger involviert, kenne alle Schwierigkeiten und gelungenen Momente der sehr unterschiedlichen Arbeiten. Wenn ich hier eine besonders heraushebe, dann nicht allein wegen ihrer künstlerischen Qualität (die haben andere Produktionen auch), sondern wegen des Wagnisses, das ein Haus wie Weimar mit ihr eingegangen ist; ich meine Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen, die inzwischen bereits als "Weimarer Ring" apostrophiert wird. Hier hat ein 'normales Stadttheater' fast ausschließlich mit eigenen Kräften und bei weiterlaufendem Repertoirebetrieb eine der gewaltigsten Herausforderungen des Musiktheaters mit beachtlichem Ergebnis 'gestemmt', ohne dass dies Stemmen sonderlich bemerkbar würde. Im Gegenteil: Solisten, Orchester, Chor, alle Gewerke und alle Abteilungen des Hauses arbeiten in beispielhafter Weise zusammen und ermöglichen immer wieder die Aufführungen des gesamten Werks im normalen Spielbetrieb. Darauf bin ich ebenso stolz wie auf den auch überregionalen künstlerischen Erfolg der Arbeit.

Da Theater immer wieder mit Einzelleistungen zu tun hat, das außergewöhnlich Berührende gelegentlich doch herausragenden Künstlerpersönlichkeiten sich verdankt, sei schließlich der Onkel Wanja Tschechows des Deutschen Theaters Berlin in der Inszenierung von Jürgen Gosch erwähnt, die mir eine neue Sicht auf das Stück ermöglicht hat; hier haben sich mir neben den vorzüglichen Ensemblemitgliedern Constanze Becker (Elena), Jens Harzer (Astrov) und Ulrich Matthes (Wanja) besonders eingeprägt.

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