Lost in Moviefication

12. Mai 2023. Komödie, Tragödie, Fantasy, Horrorfiction: Viktor Bodós Karl-Ove-Knausgård-Inszenierung ist ein Fest für Cineasten. Das Gesellschaftspanorama kommt als Film-Medley im Breitwandformat daher. Und die grandiosen Akteur:innen agieren auf der Steilklippe zwischen Witz und Wahnsinn. Dennoch wirft der Abend Fragen auf – und zwar zentrale.

Von Katrin Ullmann

Viktor Bodós Karl-Ove-Knausgård-Inszenierung "Der Morgenstern" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg © Thomas Aurin

12. Mai 2023. Science-Fiction, Fantasy, Komödie, Horror, Thriller, Tragödie, Episodenfilm, Tragikomödie, Dark Drama, Zombie, Krimi, Mystery, Melodrama und noch mal von vorn: Science-Fiction, Fantasy, Komödie, Horror, Thriller, Tragödie, Episodenfilm, Tragikomödie, Dark Drama, Zombie, Krimi, Mystery, Melodrama. Spätestens, wenn nach gut drei Stunden an den Seitenportalen der schier endlose Abspann mit allen an der Produktion Beteiligten läuft und aus den Lautsprechern Doris Days zigfacher Filmhit "Dream a little Dream of Me" schaukelt – spätestens dann ist klar, dass das alles nur ein Film war. Wobei: Nur? Ein Film?

Ein Himmelreich für Filmkritiker*innen

Angekündigt als Theateradaption des jüngsten Karl-Ove-Knausgård-Romans "Der Morgenstern", inszeniert Viktor Bodó am Hamburger Schauspielhaus tatsächlich ein gigantisches Film-Medley. In extrem aufwendigen Bildern, mit zahlreichen (ein Himmelreich für Filmkritiker*innen!) Filmzitaten. Mit einem Live-Pianisten (Klaus von Heydenaber) für die von ihm selbst komponierte Atmosphäre, mit einem herrlich manipulativen Soundteppich (Gábor Keresztes) mit klug ineinander verschachtelten, realistischen Räumen (Jana Zandonai), die sich übergangslos und szenenweise auf der Drehbühne verändern, mit Lichtstimmungen von Realismus über Kitsch bis Grusel (Rebekka Dahnke), mit nachhaltig wabernden Nebelschwaden, mit Videos (Video: Bors Ujvari, Videodesign: Oliver Koniecki), mit Ich-weiß-nicht-mit-wie-vielen-Live-Kameras, die die Ereignisse aus allen vorstellbaren und unvorstellbaren Perspektiven zeigen, mit Projektionen aus Gaming und TV, mit Tanzeinlagen, Teenie-Stress und Tränenausbrüchen – und mit einem 16-köpfigen Ensemble.

Deutsches Schauspielhaus Hamburg,"Der Morgenstern" Theateradaption des Romans »Morgenstjernen« von Karl Ove Knausgård, Bearbeitung von Armin Kerber,Deutschsprachige Erstaufführung: 6.5.2023,Regie: Viktor Bodo, Bühne: Jane Zandonaí, Licht: Rebekka Dahnke, Kostüme: Krisztina Remete, Musik: Klaus von Heydenaber, Video: Bors Ujvari, Dramaturgie: Ludwig Haugk , Anna Veressmit:Yorck Dippe, Ute Hannig, Josefine Israel, Christoph Jöde, Henrike Jörissen, Markus John, Carlo Ljubek, Sasha Rau, Maximilian Scheidt, Jan Thümer, Samuel Weiss, Michael Weber, Julia Wieninger Copyright (C) Thomas AurinGleditschstr. 45, D-10781 BerlinTel.:+49 (0)30 2175 6205 Mobil.:+49 (0)170 2933679Veröffentlichung nur gegen Honorar zzgl. 7% MWSt. und BelegexemplarSteuer Nr.: 11/18/213/52812, UID Nr.: DE 170 902 977Commerzbank, BLZ: 810 80 000, Konto-Nr.: 316 030 000SWIFT-BIC: DRES DE FF 810, IBAN: DE07 81080000 0316030000Rätselraten durch die Filmgeschichte: Marthe Thimm und Markus John in Viktor Bodós Bilderfluten © Thomas Aurin

Dieses agiert auf der Steilklippe zwischen Witz und Wahnsinn. Stellt die Lasagne in den Ofen, spielt Ehehölle mit Brechreiz hervorrufenden Kuss-Emojis, paart poetische Bewegungen mit panischer Stimme. Spielt unterdrückte Gefühle und Lebenszweifel, Alltag und Depression, Sinnsuche, Einsamkeit und tiefe Trauer. Einige der Spieler:innen sind in ihren Rollen noch überzeugender als andere, was aber auch an den jeweiligen Rollen liegen mag. Auf manches karikierende Klischee setzt sich die Regie plump noch mal drauf.

Tatsächlich aber geht es in dieser Inszenierung weniger um einzelne Figuren oder Rollen als um ein – zumindest in Auszügen – breit angelegtes Gesellschaftspanorama. Und damit um eine Ensemblearbeit. Als solche ist dieser Abend absolut gelungen. Genau gearbeitete Szenen über die Leere des Lebens und das Aneinandervorbei. Berührendes Spiel, feinsinnige Komik, erschütternde Zusammenbrüche. Alles da. Alles mitreißend. Fast alles 'ne Eins.

Selbstmord in der Garage

Aber wovon der Abend eigentlich erzählen will, ob von einer Dystopie, von der Oberflächlichkeit des Lebens oder der Nichtigkeit des Seins, lässt sich nur vermuten. Klar, da ist der Plot des Knausgård-Romans – in einer klugen, dialogreichen Fassung von Armin Kerber –, in dem der titelgebende Morgenstern die Routine von neun im norwegischen Bergen lebenden Figuren in ein anderes Licht zu tauchen scheint. Eine Routine, in der etwa eine Krankenschwester ihren Job nur mit Valium bewältigt, eine Pastorin ihre schlecht gealterte Ehe anzweifelt, ein abgehalfterter Reporter um Schlagzeilen ringt und eine Künstlerin nichts weniger als einen neuen Blick auf die Malerei vermitteln möchte. Zwei heiße Sommertage lang Misstrauen, Irrwege im Taschenlampen-Dunkel und fassungslose Blicke gen Bühnenhimmel gibt's inklusive. Ebenso: Erzählungen von übernatürlichen Erscheinungen, laute Schreie und einen Selbstmord in der Garage.

Deutsches Schauspielhaus Hamburg,"Der Morgenstern" Theateradaption des Romans »Morgenstjernen« von Karl Ove Knausgård, Bearbeitung von Armin Kerber,Deutschsprachige Erstaufführung: 11.5.2023,Regie: Viktor Bodo, Bühne: Jane Zandonaí, Licht: Rebekka Dahnke, Kostüme: Krisztina Remete, Musik: Klaus von Heydenaber, Video: Bors Ujvari, Dramaturgie: Ludwig Haugk , Anna Veressmit:Yorck Dippe, Ute Hannig, Josefine Israel, Christoph Jöde, Henrike Jörissen, Markus John, Carlo Ljubek, Sasha Rau, Maximilian Scheidt, Jan Thümer, Samuel Weiss, Michael Weber, Julia Wieninger Copyright (C) Thomas AurinGleditschstr. 45, D-10781 BerlinTel.:+49 (0)30 2175 6205 Mobil.:+49 (0)170 2933679Veröffentlichung nur gegen Honorar zzgl. 7% MWSt. und BelegexemplarSteuer Nr.: 11/18/213/52812, UID Nr.: DE 170 902 977Commerzbank, BLZ: 810 80 000, Konto-Nr.: 316 030 000SWIFT-BIC: DRES DE FF 810, IBAN: DE07 81080000 0316030000Die (Bilder-)Welt ist aus den Fugen: Yorck Dippe und Josefine Israel auf Jane Zandonaís Bühne © Thomas Aurin

Ein unbekannter Stern, "schön und unheimlich", durch den die Welt aus den Fugen zu geraten droht. Doch: "Warum sollte das nicht ein Zeichen für etwas Gutes sein?" Kurz vor Schluss sitzen alle Figuren sehr, sehr nachdenklich an der Bühnenrampe und stellen ein paar Grundsatzfragen: "Wie lautet die Wahrheit über das Leben? Dass es letztlich dunkel ist? Oder dass es sich vom Licht abgewendet hat?" Oder: "Was bedeutet es zu wissen? Was bedeutet es zu glauben?" Oder: "Was, wenn die Seele in den Körper hinein und aus ihm heraus gehen kann?"

Bilderfluten

Antworten gibt's natürlich nicht. Der letzte macht das Licht aus, dreht die Glühbirne raus. Das war's dann. War Science-Fiction, Fantasy, Komödie, Horror, Thriller, Tragödie, Episodenfilm, Tragikomödie, Dark Drama, Zombie, Krimi, Mystery, Melodrama. In eindrucksvollen, eindringlichen, aber auch in ihrer Masse ertrinkenden Bilderfluten. Ästhetisches Überwältigungstheater im Cinemascope-Format. Doris Day noch und der Abspann läuft.

 

Der Morgenstern
nach dem Roman von Karl Ove Knausgård
In einer Fassung von Armin Kerber
Regie: Viktor Bodó, Bühne: Jane Zandonaí, Kostüme: Kriszta Remete, Musik: Klaus von Heydenaber, Sounddesign: Gábor Keresztes, Video: Bors Ujvari, Videodesign: Oliver Koniecki, Licht: Rebekka Dahnke, Dramaturgie: Ludwig Haugk , Anna Veress, Mitarbeit Dramaturgie: Máté Szilvay.
Mit: Yorck Dippe, Ute Hannig, Josefine Israel, Christoph Jöde, Henni Jörissen, Markus John, Sasha Rau, Maximilian Scheidt, Jan Thümer, Marthe Timm, Leonard Tondorf, Samuel Weiss, Michael Weber, Julia Wieninger, Musik: Klaus von Heydenaber sowie im Video Lina Beckmann und Rosemary Hardy.
Premiere am 11. Mai 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspielhaus.de

Kritikenrundschau

"Diesem Spektakel sieht man immer die Mühe an, mit der es entstanden ist", findet Peter Helling im NDR (12.5.2023). Man merke mit Ermüdung, wie die Regie eine gruselige Endzeitstimmung erzeugen wolle. "Die Stärke dieser Erzählsplitter liegt wie so oft im Einzelschicksal. Das kann Viktor Bodo." Allerdings: "Warum der Aufwand? Diese Apokalypse nimmt man nicht wirklich ernst." Der Theaterabend flimmere wie eine Discokugel. Ein Licht gehe einem nicht dabei auf.

"Bei Viktor Bodo, der die fantastischen Bestandsstoffe dieses Armageddons stark reduziert hat für die genüssliche Betrachtung zerschlissener Beziehungen und Lebenspläne, erinnert diese Romanadaption oft an ein Botho-Strauß-Stück, aber in der Geisterbahn", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (13.5.2023). Intensiv werde es meist, wenn es ernst wird mit der Lebenstrauer. Allerdings agiere dieser Mix aus Fantasy-Horror und Lebenslügen "manchmal schon nah am Bereich gegenseitiger Auslöschung, im Unentschiedenen". So bleibe dieser Abend "in seiner exzessiven Vielheit selbst ein wenig im Zwischenreich, wo lebendige Albträume und tote Beziehungen sich Gute Nacht sagen".

"Was da andauernd los ist!", staunt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (13.5.2023) über die multiperspektivische, überbordende Inszenierung, die man eigentlich mehrmals gucken müsse. Bodo arbeite sich an der Realität als Variable ab. "Das ist verstörend, überwältigend, ungemein präzise gearbeitet und tatsächlich immer wieder sehr, sehr lustig."

Kommentare  
Der Morgenstern, Hamburg: Viele Themen im Raum
Drei Stunden, und wir haben uns kein bisschen gelangweilt. Sehr präzise gespielte Szenen, anregende Ideen, interessante Figuren. Toll war auch, wie die Kommunikation mit Handys, mit Emojis etc eingebunden wurde, die Tiktok-Videos und Games, mit denen Jugendliche sich entziehen. Es waren mehrere Themen im Raum: Aneinander-vorbei-Beziehungen, „Der Tod gibt dem Leben Sinn“, die Vereinsamung der Einzelnen bzw. der Rückzug aus dem öffentlichen Raum. Erträumt man sich ein anderes Leben? Oder gibt man seine Wünsche auf und lebt sein Leben mehr oder weniger resigniert und endet vielleicht als Kodokushi?
Josefine Israel und Yorck Dippe beispielsweise verkörpern diese Fragen grandios und es ist eine wahre Freude dem ganzen Ensemble zuzusehen, mit welcher Freude dieser Film des Lebens (oder des Todes) gespielt wird. Unbedingt anschauen!
Kommentar schreiben