Wut und Ohnmacht

18. Mai 2022. Home sweet Home? Von wegen. Regisseur Eike Weinreich hat über häusliche Gewalt recherchiert und die Dramatikerin Felicia Zeller das Material in dem Stück "Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt" in die ihr ganz eigene Kunstsprache gepackt. Herausgekommen ist ein beeindruckender Abend. 

Von Dorothea Marcus

Felicia Zellers neues Stück "Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt" von Eike Weinreich am Theater Oberhausen uraufgeführt © Axel J. Scherer

18. Mai 2023. In diesem Haus ist niemand sicher. Es besteht ja auch nur aus einem Stahlgerüst, der Innenraum von durchsichtiger Gaze umhängt. Fragil und durchsichtig ist diese Familienzelle, die doch eigentlich privat, gemütlich, letzte Oase sein sollte (Bühne: Franziska Isensee). Zynisch kündigen die altdeutsch auf einen Sitzkasten geschriebenen Worte "Home sweet home" davon, dass diese Vorstellung nur ein stressiges, uraltes Klischee ist. Zwei dumpfe Schläge erklingen, als würde hier jemand gewaltsam eine Tür eintreten und wir sehen vier Frauen, zusammengedrängt im Innersten eines unheimeligen Hauses. Und dann beginnt das hilflose Stammeln eines Behördendeutschs, das dem Phänomen der häuslichen Gewalt ziemlich inadäquat gegenübersteht und mit schwierigen Situationen kaum umzugehen weiß – wenn eine vor ihrem Mann geflüchtete, aber auch sonst geflüchtete Frau einfach Zuflucht in einem anderen Bundesland sucht, um, tja, ihrem Mann zu entfliehen.

Zum Glück gibt es die Autorin Felicia Zeller, die Bürokratendeutsch in eiskalte Ellipsen verwandelt und das ganze strukturelle Elend des mangelhaften Schutzes von Frauen in Deutschland offenlegt, einfach in dem sie das letzte Verb weglässt: "Anträge sind in dem Bundesland zu stellen, wo die genannte Person derzeit…" – "Ein Zuwiderhandeln kann zu einer Überprüfung ihres Aufenthaltstatus…", berichtet "Anna" (Maria Lehberg) aus dem Schreiben in "einfacher Sprache" und bringt die Frauenhausmitarbeitern so richtig in Wut, resolut und sympathisch gespielt von Anke Fonferek: "Wo leben die – am liebsten würde ich denen ein Foto anhängen/Wie sieht das aus wenn man einer Frau in die Oberarme sticht immer wieder mit Messer… Bitte machen Sie keine Probleme, die Frau hat schon genug Probleme".

Frauen in Zwangslage

Die Autorin Felicia Zeller bringt in "Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt" das Kunststück fertig, den Sound und die Wucht der realen Interviews, die Regisseur Eike Weinreich geführt hat, zu bewahren und ihn dennoch durch Loops, Doppelungen, Verkürzungen in ein grausames Gedicht zu verwandeln, das immer wieder verrät: hier geht es um mehr als um schlimme Einzelschicksale von "Anna", "Ronja", "Aylin", "Charifa", "Melanie" und "Maria".

Zeller ist eine Meisterin der Satzverkürzung, bei der das unausgesprochene Ende immer schön im eigenen Kopf weiterklingt. Sie setzt Orte, Namen, Daten und Herkunftsorte quasi verbal in eckige Klammern, benennt sie nicht konkret, sondern sagt "Ort-Name-Jahr": so wird die Allgegenwärtigkeit häuslicher Gewalt allein schon durch eine sprachliche Finte klargestellt und nicht sensationsheischend auf Boulevard-Grusel gesetzt. Und doch reihen sich die Geschichten auf der Bühne wie monströse Sketche aneinander, vier Schauspielerinnen wechseln zwischen Opfern und Opfer-Beobachterinnen, teilen sich Rollen und Sätze auf, filmen sich in ihren Aussagen immer wieder mit Handy, eine Selfmade-Livekamera, das Bild wird auf die Gaze übertragen.

Antrag2 c Axel J SchererIn einem fragilen Haus: v.l.n.r.: Anke Fonferek, Susanne Burkhard, Rosa Dahm, Maria Lehberg © Axel J. Scherer

Knallfarbene Outfits in lila, blau, rot und gelb tragen sie (Kostüme: Ines Koehler-Klünenberg). Teilweise sind schwarze Hände aufgedruckt, als hätte sich der stets lauernde Besitzanspruch eines durchgeknallten Typen irgendwie abgelagert. Manchmal sind die Sätze, Gewalterzählungen, die reproduzierte Männersprache schwer zu ertragen, manches an diesem Stück hätte eine Triggerwarnung verdient. Aber was ist ein Trigger gegen die Realität, die manche Frauen durchmachen? "Der findet sie doch eh immer wieder". "DIE KINDER SIND ZU LAUT" - "Es gibt Männer, die beißen, treten, wegschleudern, ohrfeigen / Männer, die ihre Frauen mit Fäusten schlagen. Sie würgen / Sie verbrühen / Sie mit Gegenständen bewerfen / Mit einer Eisenstange".

Querbeet bis in die Oberschicht

Dass es als Außenwelt so schwer ist, zu reagieren, die Außenwelt von der ausgebeuteten Frau aber auch ganz prima profitiert, erzählt etwa die Schauspielerin Susanne Burkhard, wenn sie uns mit rotumränderten Augen und vorgebeugter Haltung ihre Sicht berichtet und so brillant die gierig-voyeuristische Besorgtheit um die billig-effiziente Arbeitskraft auf den Punkt bringt. Es gruselt auch, wenn Maria Lehberg von der Zwangslage erzählt, die entsteht, wenn Kinder nicht in die Kita dürfen, sie Nachtschicht hat, der Mann arbeitslos zu Hause ist.

Dass dies kein Phänomen der Unterschicht ist, macht Schauspielerin Rosa Dahm klar, wenn sie vom "Mann der Gesellschaft", einem "Obersten der…" und "Autor von…" erzählt. Immer wieder sprechen sie chorisch, weil viele Dinge eben allgegenwärtig und allgemeingültig sind. Das weibliche Internalisieren der Schuld. Das Inschutznehmen der Täter ("Ich muss einfach einfühlsamer sein./ Er liebt mich doch.") Aber auch der Männer-Sprache wird viel Raum gegeben, immer wieder brüllt sie aus dem Text (Halt dein Maul und sitz sofort Auto). Und auch die finanzielle Verzweiflung der Frauen wird deutlich, und die absolute Hilflosigkeit des Staates, angemessenen Schutz zu bieten. Denn Frauenhäuser sind staatlich nicht voll finanziert, 46 Euro pro Tag pro Person kostet ein Aufenthalt – wie soll sich das eine Frau mit Kindern leisten.

Endlich Wut

Warum das ein Mann inszeniert? Könnte frau sich fragen. Aber es ist nun einmal so, dass Eike Weinreich jahrelang Kontakte zu Oberhausener Frauenhäusern hielt, mit Betroffenen auch schon einen Dokumentarfilm über das Thema gedreht hat, tief im Thema ist. Seine Inszenierung macht mit klugen, aber diskreten Mitteln die Bedrohung, die Qual, die Gewalt jederzeit klar, ohne sie voyeuristisch auszuschlachten. Immer wieder vibriert da etwa ein Handy, das die Vier kurz in Schockstarre versetzt, bevor es weitergeht.

Und am Schluss kommt dann endlich die Wut. Stellen sich die Frauen vor uns auf, als seien sie Uma Thurman in "Kill Bill", werden zu Rachegöttinnen. Brüllen heraus, was ihnen sonst zugebrüllt wird. Und reproduzieren dabei dann leider doch auch nur gewaltvolle, patriarchale Sprache. Viel zu plötzlich ist das Stück vorbei, lässt wütend, hilflos und empört zurück. Wäre jetzt nicht der Zeitpunkt, weiterzugehen? Andere Wut, andere Lösungen zu finden, nicht in Gewaltsprache zu verharren? Warum nicht die Namen der Männer veröffentlichen, warum keine Selbstverteidigungskurse, Notknöpfe, Vollfinanzierung?

Nach dem Applaus treten noch zwei Mitarbeiterinnen des Frauenhauses auf die Bühne und erzählen, dass sie im letzten Jahr nur noch 30 neuen Frauen Plätze anbieten konnten – wegen der Wohnungsnot bleiben die anderen immer länger. Wie wichtig es ist, dass sie eine Stimme bekommen. Dass es eine neue Kampagne "Gewaltschutz-kein Luxus" gibt. Man ahnt trotzdem: das wird nicht reichen. Ein beeindruckender, wichtiger Abend, der Strukturen und Schicksale eines unsäglichen Phänomens beleuchtet.

Antrag auf größtmögliche Entfernung von Gewalt
von Felicia Zeller
Uraufführung
Regie: Eike Weinreich, Bühne: Franziska Isensee, Kostüme: Ines Koehler-Klünenberg, Musik: Elias Baumann, Mitarbeit Musik: Sönke Gaumert, Dramaturgie: Anne Verena Freybott.
Mit: Susanne Burkhard, Rosa Dahm, Anke Fonferek, Maria Lehberg.
Dauer: 1 Stunde 30, keine Pause
Premiere am 17. Mai 2023

www.theater-oberhausen.de

Kritikenrundschau

Stefan Keim hat aus Felicia Zellers Stück über häusliche Gewalt "viel erfahren" und zeigt sich in der Sendung "Fazit" auf DLF Kultur außerdem "begeistert, dass es nicht gleich mit der großen Betroffenheitskeule losgeht", wenngleich das Thema des Abends "natürlich absolut dramatisch" sei und "alle Gesellschaftsschichten durchfährt". Das Stück thematisiere auch die "unfassbare Bürokratie", die etwa mit der Aufnahme in ein Frauenhaus verbunden sei, und verfüge dabei über einen "garstigen Humor", ist der Kritiker angetan. Eine "große Schwäche" der Aufführung und wie des Textes sieht er indes im Schluss: "Da fangen die vier Frauen auf der Bühne an, grölende, schimpfenden, sie beleidigende und dann auch missbrauchende Männer zu spielen und schreien das ins Publikum." Das habe natürlich "seine Wirkung", ist dem Kritiker aber "zu plakativ".

Eine "beeindruckende Uraufführung" hat Elisabeth Höving erlebt und schreibt in der WAZ (22.5.2023): "Ein starkes Stück von Felicia Zeller über ein trauriges, gesellschaftsrelevantes Thema. Vier großartige Schauspielerinnen (Susanne Burkhard, Rosa Dahm, Anke Fonferek, Maria Lehberg) verkörpern in raschem Wechsel Frauen, die ganz unterschiedlicher häuslicher Repression entflohen sind. (...) Regisseur Eike Weinreich inszenierte ein intensives Recherchestück." "Das Publikum, berührt und begeistert."

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