Lulu - Wiener Festwochen
Schaukampf in der Tierarena
28. Mai 2023. Als Choreografin war die aus Kap Verde stammende Marlene Monteiro Freitas wiederholt zu den Wiener Festwochen eingeladen. Jetzt führt sie zum ersten Mal Opernregie, in Alban Bergs "Lulu". Sie bringt in den Opern-Torso Performerinnen und Performer ein, die rätselhafte Geschichten erzählen.
Von Reinhard Kriechbaum
28. Mai 2023. Eben hat Lulu dem sie anhimmelnden Alwa entgegengeschleudert, dass sie es war, die seinen Vater, Doktor Schön, umgebracht hat. Mit stolzem Blick, unverwandt ins Publikum gerichtet, ist sie abgegangen. Alles andere als eine gehetzte Mörderin auf der Flucht. Jetzt folgen noch – eine lange Tradition in der Aufführungsgeschichte der vom Komponisten zweiaktig hinterlassenen Oper – die beiden Instrumentalnummern aus dem dritten Akt. Ein Mann, schwarz mit Hut, erwartet die Braut. Und die kommt. Auf Knien bewegt sie sich zentimeterweise vorwärts, ein Wesen mit grell geschminktem Masken-Gesicht. Es ist wohl die uralte Lulu, selbst in diesem Zustand noch Heiratskandidatin, Ziel männlicher Erwartungen, Sehnsüchte, Fantasien. Die fatale Geschichte mit ihr und um sie wird endlos weiter gehen.
Wie Juroren beim Wettkampf
Die Wiener Festwochen und Theater an der Wien zeigen "Lulu" als Koproduktion im Museumsquartier. Eine Spielfläche zu ebener Erde, mit vielen schlichten Bänken, Stühlen. Im Lauf des Abends wird auf Yannick Fouassiers Bühne viel herumgetragen, beiseite und wieder herbei geräumt. Auf einem turmartigen Aufbau inmitten des Geschehens steht der Dirigent. Das Orchester sitzt auf einem ansteigenden Podium dahinter, dem Publikum also frontal gegenüber. Der Tierbändiger präsentiert im Prolog seine Menagerie, Lulu als Schlange, als Ur-Verführerin. Vielleicht sollen wir an eine Arena mit Schaukämpfen denken, jedenfalls sitzen die Handelnden der ersten Szene wie Journalisten seitlich an drei Tischen und heben Zettel, als seien sie Juroren.
Marlene Monteiro Freitas entwickelt die folgenden zweidreiviertel Stunden tatsächlich als eine Art Schaukampf, bei dem Lulu immer die Agierende ist. Acht Performerinnen und Performen mischen kräftig mit. Meist scheinen sie in Dreier- und Vierergruppen das Geschehen zu illustrieren, zu parodieren, zu überhöhen. Von einem "archaischen Labyrinth von Fabelwesen, Mischkreaturen, karnevalesken Geschöpfen und den Klippklappfiguren des Stummfilms" kann man im Programmheft lesen.
Sinnliches Melos
Monteiro Freitas hat alle gleich gekleidet, in schwarze Hosen, weiße Hemden, darüber tragen sie wie gestutzte Fräcke wirkende Jacken. Gamaschenartige blaue Schuhe. Blaue, manchmal grüne Handschuhe. Gelegentlich hantieren diese Leute mit Handtüchern. Manchmal scheinen den Männern – Assoziation Brett vor dem Kopf – schwarze Hüte an die Stirn genagelt. Bewegungstechnisch passiert da sehr viel in kleinen, ruckartigen Schritten, vorwärts, seitwärts im rechten Winkel. Man könnte an ein imaginäres Schachspiel denken. Ein überschaubares Bewegungsrepertoire jedenfalls und trotzdem recht viel Getriebe auf der breiten Spielfläche, sogar seitwärts und ganz hinten, hinter dem Orchester. Gar nicht leicht, das immer alles im Blick zu behalten. Wir hüten uns vor Interpretation – aus diesem rätselhaften Getriebe muss jeder seine eigenen Schlüsse ziehen und nach individuellen Anknüpfungspunkten suchen.
Die Aufführung lebt von einer Musik, die auch in solchem Setting nicht umzubringen ist. Und von Stimmen, die auch deshalb ziemlich gewaltig anmuten, weil eben alles vor dem Orchester passiert (der Graben ist schon eine sinnvolle Erfindung). Von dort hinten jedenfalls hört man nicht immer das Maximum an Transparenz, und auch mit den diese Zwölftonmusik so prägenden Tanzrhythmen hält es Dirigent Maxime Pascal nicht gar so sehr. Das dürfte schon mehr Tiefenschärfe haben. Dafür lässt der junge Dirigent das Melos sinnlich fließen, und das ist ja auch nicht unwichtig.
Buhs für die Regie
Es ist ein großer Abend für Vera-Lotte Boecker, eine Lulu, der man eine gewisse unergründliche Gefährlichkeit abnimmt. Diese Stimme kann fordernd klingen, mit Koloraturen, die ein Glas zerspringen lassen könnten. Und ist's, wenn Lulu sich den Männern scheinbar hingibt, bloß Verstellung? Sängerisch zeigt Boecker jedenfalls ein differenziertes Rollenbild, von enormer Energie und Durchhaltevermögen getragen. Das braucht's auch, wenn man es mit Bo Skovhus als Doktor Schön zu tun hat, oder mit Tenören wie Edgaras Montvidas (Alwa) oder Cameron Becker (Maler).
Kurt Rydl ist ein gefährlicher Schigolch, den Doktor Schön aus gutem Grund nicht im Haus haben will. Anne Sofie von Otter ist eine eher als statuarisch gezeichnete Gräfin Geschwitz und Katrin Wundsam ein unverdorben schwärmender Gymnasiast. Martin Summer (Tierbändiger/Athlet) läuft im zweiten Akt quasi als Spielmacher auf der Bühne zur Vollform auf.
Das Premierenpublikum hat den Beifall für die Gesangssolisten wohl dosiert, Vera-Lotte Boecker und Bo Skovhus gefeiert. Marlene Monteiro Freitas wurden dann nicht wenige Buhrufe entgegengeschleudert. Vielleicht ist diese Regie doch zu kryptisch ausgefallen, wobei man schon betonen muss: So eigenartig das Bühnengetriebe gelegentlich anmutet, so sehr es gelegentlich auch ablenkt vom Klang: Ein hoch entwickeltes Sensorium für die Musik ist Marlene Monteiro Freitas nicht abzusprechen. Schließlich ist Choreografin ihr Brotberuf. Die Oper wird schon sehr strapaziert.
Lulu
Oper von Alban Berg nach den Tragödien ERDGEIST und DIE BÜCHSE DER PANDORA von Frank Wedekind
Regie, Choreografie, Kostüme: Marlene Monteiro Freitas, Musikalische Leitung: Maxime Pascal, Bühne: Yannick Fouassier, Marlene Monteiro Freitas, Licht: Yannick Fouassier, Mitarbeit Regie, Choreografie, Kostüme: Andreas Merk, Hsin-Yi Hsiang, Dramaturgie: Armin Kerber.
Mit: Vera-Lotte Boecker, Bo Skovhus, Edgaras Montvidas, Cameron Becker, Anne-Sofie von Otter, Kurt Rydl, Katrin Wundsam, Martin Summer, Paul Kaufmann, Andreas Jankowitsch, Franz Tscherne. Performer*innen: Francisco Rolo, Henri "Cookie" Lesguillier, Ina Wojdyła, Joãozinho da Costa, Kyle Scheurich, Nina Van der Pyl, Rui Paixão, Tomás Moital. ORF Radio-Symphonieorchester Wien.
Premiere am 27. Mai 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.festwochen.at
Kritikenrundschau
"Wie ferngesteuerte Schlafwandler verhalten sich auch die Sänger und Sängerinnen bisweilen, die ein unnahbares Wesen umschwirren, eine Lulu, die distanziert bei sich bleibt, während um sie herum Männer an ihrem eigenen Begehren verbrennen", schreibt Ljubisa Tosic im Standard (28.5.2023). "Nur selten ereignet sich ein körperlicher Ausbruch aus Freitas‘ Geometrie der Bewegungen, etwa, wenn Lulu es nötig hat, jemanden manipulativ zu umgarnen." Die Tänzer:innen webten um Lulus männlichen Figurenharem eine endlose Folge an Kommentaren, Verdopplungen und freien Extrapolationen. "Szenische Gleichzeitigkeit ist also das Grundprinzip dieser genauen und ambitionierten Arbeit. Trotz der Ideenfülle führt das Enigmatische der vielen Seitenszenen und der minutiös ausgestalteten Gesten allerdings etwas weg von Alban Bergs Oper."
Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (30.5.2023) ist hingerissen von Vera-Lotte Boeckers Titelpartie. "Boecker tut gar nicht so, als sei es leicht, was sie hier machen muss. Ihr Gesang und ihr Spiel wirken zwar völlig selbstverständlich, souverän, aber man spürt die Anstrengung, die vollkommene Konzentration in jeder Sekunde." Der Abend sei auch sonst "ein Fest der Stimmen, aber auch eines der Musik". Alles großartig also? Nein, denn die Regisseurin Freitas schaffe keine Situation, keine Szenen. "[W]er 'Lulu' nicht kennt, erkennt nichts."
"Das muss man auch erst einmal schaffen: Alban Bergs(unvollendeten) Opernreißer 'Lulu' so langweilig umzusetzen", staunt Peter Jarolin vom Kurier (28.5.2023). Bei Freitas blieben die Charaktere hölzerne Schablonen. "Statt Interaktion ist Distanz angesagt. Eine Personenführung wird ausgelassen. Das aber geht am Kern des Stücks vorbei." Und die musikalische Seite? "Diese ist exzellent." Am Pult des ORF Radio-Symphonie Orchesters Wien zeige Dirigent Maxime Pascal, warum er zu den gefragtesten Shootingstars zählte. "Das tolle RSO wiederum demonstriert seine Unverzichtbarkeit in der Musiklandschaft."
"Ohne Kenntnis der Geschichte des Stückes, ist dieser Abend ein tönendes, sich bewegendes abstraktes Gemälde - mit einer starken Bildsprache, die sich aus einer Quelle jenseits der verbalen Vernunft speist. Das hat Kraft und wirkt nach, ist als einziger Ansatz für eine Opernproduktion jedoch nicht abendfüllend", schreibt Judith Belfkih von der Wiener Zeitung (29.5.2023). Immerhin gesanglich hat die Kritikerin nichts auszusetzen. "Allen voran beeindruckt Vera-Lotte Boecker in der Titelpartie durch ihre unerschrockene Präsenz und Präzision bis zum letzten Ton."
"Regisseurin Marlene Monteiro Freitas zwängt die Figuren in ein Korsett abstrakter Bewegungsmuster und Nicht-Aktion. Für die Action sind die Tänzer zuständig, die das Geschehen kontextualisieren, kommentieren und konterkarieren sollen. Das ist zwar üppig gedacht und gemacht, erzeugt aber fast nie Spannung, sondern abstrahiert das innere und äußere Geschehen bis an die Grenze der Belanglosigkeit", schreibt Martin Gasser von der Kleinen Zeitung (28.5.2023).
"Abgesehen davon, dass die dominante Choreographie das eigentliche Geschehen der Oper unkenntlich macht, sitzt sie einem grundlegenden Missverständnis auf: Denn die Meisterschaft Bergs, dessen 'Lulu' aus dem Material einer einzigen Grundreihe abgeleitet wird, besteht darin, diese formalen Strukturen in eine feinst instrumentierte und klanglich so starke Musik zu kleiden, dass die Zuhörer emotional berührt werden und den stringenten Formablauf gleichsam nur subkutan spüren", schreibt Reinhard Kager in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.6.2023). Hier werde er zur Hauptsache erhoben, und dafür würden die Sänger:innen komplett im Stich gelassen. "Schade, mit diesem Ensemble hätte sich eine prächtige 'Lulu' realisieren lassen."
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