Liebes neues Jahr!

Vera Cruz (Itaparica / Bahia), 26. Dezember 2008. Das hättest Du Dir auch nicht gedacht, dass ausgerechnet Du dieses kleine Deutschland im Zustand des Abstürzens übernehmen musst, nicht wahr? Darum wirst Du genug zu tun haben damit, den ökonomischen Dreck aufzuräumen, den die führenden Gangster des herrschenden Kapitalismus gerade angerichtet haben; gerade so, als wären sie "agents provocateurs" im Geiste des so gern und so oft totgesagten Privat-Philosophen aus Trier, dessen "Marxismus" auf einmal (Ironie dieser schlimmen Geschichte) wie bewiesen daher kommt. Hätten wir nur besser aufgepasst und nachgefragt, wenn die Lehrer in Gemeinschaftskunde früher immer sagten, Wirtschaft sei so schwierig und eigentlich ja nicht zu erklären.

Also, Neues Jahr, kümmere Dich bitte außer um die Müllabfuhr des überkommenen Kapitalismus amerikanischer Bauart auch noch um das Theater. Ich weiss: das ist eine Marginalie im Vergleich zum Großen und Ganzen! Aber es ist sehr wertvoll für dieses kleine Land, dass Du auf der Landkarte durchaus leicht übersehen könntest - wenn es nicht Theater besäße wie kein Land sonst auf der Welt. Schau mal rein! Und rede denen, die es machen, gern auch mal ins Gewissen.

Mehr Körper, weniger Kopf

Ich bin gerade mal weg, ganz woanders, in Brasilien, wo es sehr heiß ist und das Theater zwar reich ist an Farben und Ideen, viel reicher als in Deutschland, aber ansonsten ganz arm. Die, die hier im und für das Theater arbeiten, leben vornehmlich von der Hand in den Mund. Nun will ich das ja eigentlich niemandem wünschen - aber dieser dauernde Ausnahmezustand in der Ökonomie bei der Produktion von Kunst schweißt und schmiedet die Theatermenschen hier ganz anders zusammen als in Deutschland noch im besten Ensemble eines Stadt- oder Staatstheaters, mehr sogar noch als in der "freien" Szene, die ja dieses "von-der-Hand-in-den-Mund" auch ganz gut kennt.

Mehr existenziellen Kampf auf der Bühne wünsche ich mir darum fast immer, wenn ich "nach Hause" komme; ein bisschen weniger Klugheit vielleicht sogar, und dafür viel mehr Sinnlichkeit; mehr Körper, weniger Kopf. Wobei übrigens gerade die abstraktesten, am ehesten nach "Kopf" aussehenden Aufführungen die meiste Sinnlichkeit entfesseln können. Mehr Empfinden für den Alltag des sozialen Elends wünsche ich mir auch immer, wenn ich von hier wieder weg muss - weil ich hier ja so oft sehe, welche Wirkung die Allgegenwart menschenunwürdigster Ungerechtigkeit im Spiegel der Bühne haben kann; und, wie ich finde, haben muss. Wozu sonst gibt's Theater? Für die "happy few", die sich auch gleich ein ganzes Theater kaufen könnten? Nein.

In Brasilien gibt's einen Dachverband des "Comercio", der seit 60 Jahren schon Stadt für Stadt Kulturzentren baut, in denen die Mitarbeiter der Firmen, die dem Verband mehr oder weniger gezwungenermassen angehören, Lesen, Schreiben, Rechnen und im Internet arbeiten lernen; wo sie schwimmen gehen und sich sonstwie fit machen lassen können. Wo sie eine Bibliothek vorfinden, Spielflächen für Kinder, Ausstellungsflächen für die Künste - und fast immer ein Theater.

Alternativen für den Fall des Absturzes

Dieses Theater wird als Spielort finanziert von der Industrie, es wird bespielt von freien Gruppen, denen nicht reingeredet wird und die ordentlich bezahlt werden für das, was sie erzählen wollen. Nur dass wir schon mal wissen, wo wir nach Beispielen suchen sollten für Alternativen in der Struktur des Theaterbetriebs - zur Vorsorge nämlich für den Fall, dass es Dir, liebes Neues Jahr, und Deinen Nachfolgern nicht gelingen sollte, das einzigartige System des Theaters in diesem Deutschland durch die Krise zu führen, die die Welt schon erfasst hat und wahrscheinlich nicht wieder loslassen wird. Die Grenzen des Wachstums sind ja schon länger erreicht, wie das er "Club of Rome" vor über 30 Jahren beschrieb - aber erst jetzt bekommt es jeder und jede zu spüren. Eine Gesellschaft, die nur auf Zuwachs baute, muss an dessen Verschwinden zerbrechen. Das mag traurig sein - es ist aber nur logisch.

Vom Theater wünsche ich mir, dass es diesen Prozess (unabweis- und unumkehrbar, wie er ist) wach und kämpferisch begleitet; und uns die harten Wahrheiten sagt, denen wir jetzt nicht mehr werden ausweichen können. Uns Zuschauern, den normalen wie den professionellen, wünsche ich, dass niemand mehr so tut, als sei nicht klar, wohin die Reise geht.

Nach Hause nämlich, immer nach Haus; auch in der Fremde, die uns im Abschwung so viel helfen könnte: weil sie ihn schon kennt... Wir sehen uns Mitte Januar, liebes Neues Jahr. Mal sehen, wie Du wirst. Viel zu tun hast Du ja mit uns.


Michael Laages

im Internet-Cafe von Seu Jorge.