Verfallsformen der Vernunft

von Marcus Hladek

Frankfurt am Main, 16. Januar 2009. Zwei Jahre ist es her, da schickte der Lautpoet und Romancier, der Ingeborg-Bachmann- und Literaturhaus-Preisträger Michael Lentz im Kammerspiel des Schauspiels Frankfurt in seiner kauzigen Sinnsuchersatire "Gotthelm", einer Zwitterform zwischen Ionesco und René Polleschs Bühnen-Soaps, eine achtfache Frauenfigur beim Kreuzworträtseln im Frisiersalon auf die Suche nach dem Lösungswort "Gott". Jetzt, in neuerlicher Lentz-Uraufführung an gleichem Ort, weichen die letzten Fragen in banaler Quizform einer anderen komischen Recherche.

Vom hellen Licht, das durch die Studiofenster in die kreativ verräumte Wohnung der Freundinnen Friederike (Sabine Waibel) und Amalia (Sascha Maria Icks) fällt, darf man sich nicht täuschen lassen. Auf den ersten Blick wirkt das Ambiente mit den Bücherschränken hinten, zwei Schreibmaschinen und längs der Wand ausgelegten Büchern voll Lesezeichen nebst Pinwand, Tischen, Lampen, Teppichen (Bühne und Kostüme: Dirk Thiele) wie die Appartmentwohnung zweier Intellektueller.

Briefträger Rüdiger als Grabbe-Geist

Nur ist Friederike der Geisterseherei ergeben und vertauscht ihr bequemes Alltagsoutfit gern mal gegen glänzende Seidenkleider oder ein exzentrisches Nonnen-Habit, während von oben bald blauromantisches Nachtlicht einfällt und Videoprojektionen uns geisterhafte Gesichter, Revolver und immer wieder Tulpen vor Augen führen. Wie heißt es so schön: "Nichts ist schöner als ein Tulpenbaum" – den es selbstredend nicht gibt. Da Friederike, so die süffisante Unterstellung, schon keinen Mann halten kann und sich als "Protokollantin des Verblühens" im altjüngferlichen Dasein einzurichten droht, zieht die skeptische Amalia die Notbremse und bewegt Friederike dazu, ihren Helden, den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe, in einer Séance von den Toten herbeizurufen und den ähnlich genialischen wie gescheiterten Physiker Johann Wilhelm Ritter gleich mit.

Dass es Amalia ist, die Rüdiger, den Briefträger, als Grabbe-Geist (Aljoscha Stadelmann) und dessen Kumpel Paul als Ritter-Geist im roten Husarenjäckchen (Mathias Max Herrmann) mit Hilfe einer parodierten Brief-Intrige à la Schiller auftat, um die falschen Geister auf frischer Tat zu entlarven und Friederike mittels einer "Hyposensibilisierung" durch eine Überdosis Geister zu therapieren, weiß diese natürlich nicht.

Allerdings geht Amalias Komplott tüchtig in die Hose, wobei dann auch die realistische Bühnenlogik dadaistisch aus dem Lot gerät und ein winziger Schritt uns von Hamlets Tapetenwänden zum russischen Roulette-Spiel der am Ende wie drogenberauschten kleinen Schar führt. Im Grunde geht die Vernunft insgesamt den Bach runter. Dagegen kommt auch der qua Profession vernunftgebundene Hausarzt, der unwissentlich als Totengeist des Dadaisten Raoul Hausmann mitspielt (Sebastian Schindegger), nicht an.

Somnambule Randphänomene

Bei all dem liefern Waibel und Icks souveräne, sympathische, nuancierte, intelligente, immer frische  Rolleninterpretationen ab. Helblings flotter Inszenierung und den gut eingestellten, flink und effektvoll agierenden Darstellern – der tolle Stadelmann hat diesmal seine gelegentlich sämige Neigung zum "swingenden" Aus-der-Rolle-Treten fest im Griff – ist vieles zugute zu halten, vor allem, dass Lentz' Vision nie narzisstisch erstickt wird.

Bei aller Komik knüpft "Warum wir also hier sind" ja an "Gotthelm" an. Das neue Stück fragt in ähnlicher Richtung, wenn es all die unkoscheren Randphänomene eines Zeitalters der Vernunft vom Ektoplasma über Swedenborg bis zur Präkognition, Wünschelrutengängerei und somnambuler Trance als Verfallsformen einer von der philosophischen Vernunft exorzierten Religiösität liest.

Da bleibt auch noch Zeit, mit einer Leiter unterm geisterhaften Betttuch auf Hegels Todes- und Zeichen-Symbol der Pyramide anzuspielen. Dem amüsierten Zuschauer bleibt der kleine zusätzliche Schritt überlassen, Erscheinungen wie die Bhagwan-Gefolgschaft Berliner Intellektueller und ähnliches mehr mit in die Liste aufzunehmen. Überdies leistet Lentz sich mit dem frischen Blick des Neudramatikers den Spaß, die Geister, die er rief, mit dem szenischen Ouijabrett darauf zu befragen, was eine als real gedachte Bühnengestalt überhaupt von einem Bühnengeist unterscheiden sollte. Leben Hamlet und all die andern Theaterfiguren, die er zitiert, etwa kein geisterhaftes Nach-Leben?

 

Warum wir also hier sind. Kein Traumspiel
von Michael Lentz
Regie: Niklaus Helbling, Bühne und Kostüme: Dirk Thiele, Dramaturgie: Jens Groß, Video: Philipp Batereau, Licht: Jan Walther Mit: Sabine Waibel, Sascha  Maria Icks, Aljoscha Stadelmann, Mathias Max Herrmann, Sebastian Schindegger.

www.schauspielfrankfurt.de

Kritikenrundschau

Magie pur, leider im Verlauf der Inszenierung mit stark abfallender Tendenz, notiert Uwe Ebbinghaus in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (18.1.2009). Das Stück "Warum wir also hier sind" von Michael Lentz gefällt ihm, die Schauspieler auch. Allein die Frankfurter Regie Niklaus Helblings zeigt sich aus seiner Sicht den starken Setzungen und Fantasien dieses sprachspielenden Autors zunehmend nicht gewachsen. Aber auch der Autor selbst hält, wie Ebbinghaus schreibt, nicht das großartige Ausgangsniveau seines Dramas und streut zu seinem Unbill zunzehmend V-Effekte ein, die aus Ebbinghaus' Sicht das, was so hoffnungsvoll begann und dann nicht werden wollte, "prophylaktisch diskreditieren: Alle auf der Bühne werfen jetzt Pillen und Tropfen ein und bestätigen den im Getümmel laut werdenden Ausruf 'Thesentheater!'", so dass er erleichtert ist, als der Grabbe-Briefträger schließlich das nahende Ende des Abends ins Aussicht stellt.

Seine eigentliche Qualität habe Lentz' Text nicht in der Story, "sondern in seiner Sinnbohrerei, auf der die Sprache sozusagen ausrutscht, um im Fallen komische Figuren aufzuführen", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (19.1.2009). "Der größte Tiefsinn wie die Träume Svedenborgs (der auch vorkommt) produziert dabei den besten Nonsens. Lentz' Stück ist ein gelungenes Beispiel der abseitigen Gattung Literaturgroteske." Zunächst jedoch liege "über der Aufführung die Käseglocke der Regiebemühung", der Witz des Textes versuche "sich mal hier und mal da durchzuboxen". Die Befreiung des Abends schafften dann die Schauspieler, die sich "hingebungsvoll" der Kunst der Komödie überließen und "irgendwann abheben".

In der Frankfurter Allgemeinen (19.1.2009) meint Tilmann Spreckelsen, dass Lentz' neues Stück gut aussehe, stellenweise auch äußerst amüsant sei, "und doch wird man des Ganzen wegen seiner umfassenden Richtungslosigkeit müde." Die Schauspieler machten ihre Sache "ordentlich", was aber "im Einzelfall herbeizitiert und herbeigewunken wird" erscheine als wenig zwingend: "mäßige Scherze werden wiederholt, ohne dass klar würde, was damit nun im Einzelnen dekonstruiert werden soll". Phasenweise setze das Stück "allzu sehr auf die Fallhöhe zwischen dem überspannten Gerede der Dame und dem bodenständigen Charme des Briefträgers".

Unter Niklaus Helblings Regie entstehe in Michael Lentz' Stück ein munteres Chaos, "in dem die Realitätsebenen zunehmend ununterscheidbar werden, Wissenschaft und höherer Blödsinn, Theater und Wirklichkeit in fröhlicher, gleichsam frühromantischer Konfusion durcheinandergeraten", schreibt Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (19.1.2009). "Die Vernunft steht Kopf. Die Figuren werden zu somnambulen Grenzgängern in einem vergnüglichen Spiel mit Sprache und Wirklichkeit, Theater und Illusion. Rasant und witzig irren die Geister durchs Bühnenzwielicht und führen einen grotesk-komischen Spuk auf. Eine schöne Ensemble-Leistung, ein turbulenter Spaß. Er lohnt sich."

Lentz hätte sein Stück "problemlos" als "ausweglose, aber eintönige Geschichte einer Krankheit zum Tode fortsetzen können", gebe sich damit jedoch glücklicherweise nicht zufrieden, sondern lasse drei Größen der Literaturgeschichte auftreten (Ritter, Grabbe und Hausmann) auftreten, die die Protagonistin Friederike "mit mustergültigem Engagement lehren, Genuss an Nonsens, am verweigerten Sinn zu finden". Da es im Frankfurter Schauspielhaus "gewöhnlich nicht viel zu lachen" gebe, findet Uwe Wittstock von der Welt (20.1.2009) die zweite Hälfte des Abends "umso erstaunlicher": Die Spiellust, mit der die fünf Darsteller die Bühne "ohne jede Albernheit in ein Schlachtfeld anarchischer, sinnfreier Komik verwandeln", nötigt ihm Respekt ab. "Besondere Bewunderung" auch für Helbling, der "in dem langen furiosen Finale jeden Anflug jener Bedeutungshuberei und Bildungsbeflissenheit vermieden" habe, "die das deutsche Stadttheater so oft zur Qual macht, sobald es sich an Komik versucht". Stattdessen verlasse er sich "auf Tempo und Phantasie" und überschwemme das Publikum "mit unerwarteten, rätselhaften, paradoxen, abwegigen Einfällen", "ohne je irgendeine Logik ihres Handelns erkennen zu lassen".

 

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