Vom Eros der Tugendhaftigkeit

von Sabine Leucht

München, 17. Januar 2009. Hinter und auf den bunten Schiebewänden, die wie die Seiten schiefer Portale meist rechts und links der Bühne stehen bleiben, tobt sich die Verruchtheit aus: Bewegte Bilder von behaarten Bäuchen, lüsterne Bewegungen, Darkroom-Menschen und SM-Utensilien – alles miteinander verschnitten, alles wieder schnell vorbei. Stefan Puchers Inszenierung von Shakespeares "Maß für Maß" beginnt mit einem von vielen Videos.

Und weil die mal wieder von Chris Kondek sind, verbinden sich in ihnen manchmal konträre Elemente zu einem aufregenden Ganzen, ist ihr Einsatz ungleich zwingender als anderswo im deutschen Theater. Auch was an den Münchner Kammerspielen danach und dazwischen kommt, leuchtet lange auf unterhaltsame Weise ein. Dann aber wird der Aufführung ihr zweites großes Pfund zum Verhängnis: Die schnoddrige, anarchische, quer zum Rest stehende Urgewalt des Schauspielers Thomas Schmauser. Doch der Reihe nach.

Die Tugendwächter mahnen sich selbst

Schmauser spielt den Herzog Vincentio, der seine Macht vorübergehend an den Statthalter Angelo abtritt in der Hoffnung, dass dieser die Einhaltung der Gesetze strenger überwachen werde als er selbst. Denn Moral und Sitten Viennas sind im Verfall begriffen. Vincentio jedoch will die Gunst seines Volkes nicht verlieren und handelt deshalb nicht selbst. Aber er traut auch seinem Vertreter nicht und schleicht sich, als Mönch verkleidet, unerkannt zurück.

Stadthalter Angelo, bei Christoph Luser ein versonnen lächelnder Stockfisch mit Handschuhen und pomadisiertem Haar, fackelt nicht lange und verurteilt Claudio zum Tode, weil er seine Julia geschwängert hat, bevor die geplante Hochzeit stattfinden konnte. Eine lässliche Sünde, möchte man meinen, verglichen mit jenen der Rotlicht-Fürsten am Rande der Stadt. Doch während Walter Hess als fröhlicher Kuppler Pompejus lediglich ins Gefängnis wandert, wird an Lasse Myhrs auf kläglichste Weise nacktem Claudio ein Exempel statuiert. Es geht hier um das rechte Maß der Sünden wie der Strafen, aber vor allem auch um die, die diese Strafen verhängen: Mit übertrieben großer Geste, so scheint es, mahnen sie sich selbst.

Der flotten (von Pucher bearbeiteten) Übersetzung von Jens Roselt hört man gerne zu: mit ihren Worten argumentiert Luser so klar, dass man ihm fast Recht geben will; mit ihnen redet Brigitte Hobmeier als Claudios Schwester Isabella so lange auf Angelo ein, bis die Sittlichkeit der angehenden Nonne seine Sinnlichkeit weckt. Eine hoch spannende Szene, worin Hobmeiers keuschen Hände in Höhe der Scham widerholt ein Dreieck zwischen Daumen und Zeigefingern formen und Angelo sich hitzig die alberne Rollkragen-Pellerine vom Hals reißt, die den Tugendwächter bis dato noch zugeknöpfter wirken ließ. Der Eros der Tugendhaftigkeit hat es Pucher angetan.

Das enge Korsett des Herrschers

Was schlummert hinter Angelos samtenem Lächeln, was erzählen Hände über die Körperregionen, die sie streifen? Auf diesen Nebenschauplätzen hagelt es Glücksmomente in München. Wenn die Hobmeier auf dem Video schon schreit, während ein ähnlicher Schrei life gerade erst entsteht. Wenn Angelo sekundenlang schwach wird, um gleich darauf wieder ganz anders stark zu werden: "Mach dich auf meine Geilheit gefasst!" Alle Figuren hat Pucher ganz klar konzipiert – auch seinen Herzog.

Doch der holt seine Klarheit ganz woanders her. Thomas Schmauser spielt einen, der auf Konventionen pfeift, aber darin nicht ganz im Reinen ist mit sich. Sein blauer Samtanzug ist ihm wie das Korsett des Herrschers zu eng, also stiehlt er sich hastig aus seiner Rolle. Wie im Stück angelegt ist er der Spielemacher, der auf verschlungenen Wegen der Gerechtigkeit zum Sieg verhift.

Doch auch energetisch wirbelt Schmausers Vincentio das Geschehen durcheinander – so flapsig, teils geistesabwesend und scheinbar unberechenbar wie der junge Fassbinder oder ein Rockstar auf Droge. Eine Zeit lang ist es sehr faszinierend, Schmauser dabei zuzusehen. Zuletzt trifft aber sein Ausspruch "So Freunde, jetzt wird die Luft dünn", leider ins Schwarze. Das Ende "auf der Maxistreet" zerfasert, und obwohl keiner "totgemacht" wird, erhalten die Fragen nach Recht und Verantwortung auch kein neues Leben.

 

Maß für Maß
von William Shakespeare, Deutsch von Jens Roselt
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Marcel Blatti, Video: Chris Kondek, Licht Stephan Mariani, Dramaturgie: Matthias Günther. Mit: Tabea Bettin, Peter Brombacher, Selale Gonca Cerit, Walter Hess, Brigitte Hobmeier, Christoph Luser, Stefan Merki, Lasse Myhr, Wolfgang Pregler, Thomas Schmauser, Sebastian Weber.

www.muenchner-kammerspiele.de


Mehr zu Stefan Pucher? Zuletzt sahen wir im Oktober 2008 in Zürich seine Aischylos-Inszenierung Die Perser. In Berlin brachte Pucher im Juni 2008 eine Adaption von Fritz Langs Film M - eine Stadt sucht einen Mörder auf die Bühne des Maxim Gorki Theaters.

 

Kritikenrundschau

Stefan Pucher nehme sich "Theaterstücke vor wie abgelegte Prozessakten aus dem Archiv, und was wir sehen, sind kalte Wiederaufnahmeverfahren, die der Regisseur im Kopf durchspielt", schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (19.1.2009). "Da ist nur noch das aschige Gefühl, das aufsteigt, wenn sich überall das wiederkehrende Muster zeigt." Und auch in der Inszenierung von "Maß für Maß" an den Münchner Kammerspielen seien die Bilder so "explizit, dass sie die Handlung außer Kraft setzen". Pucher habe "sein Konzept wie eine Gummimaske über das Stück gestülpt", die Figuren blieben "zweidimensional", das Ensemble, von dem "die meisten nur Chargenrollen apportieren", sei unterfordert, und Jens Roselts freie Übersetzung sei vor allem "frei von Kunst".

"Was ist Recht? Und wie viel Recht und Ordnung braucht eine Gesellschaft? Wie viel Freiheit darf, muss sein? Fragen, die in Zeiten, da Bürgerrechte im Namen der Sicherheit beschnitten werden, aktueller kaum sein könnten", meint Christoph Leibold auf Deutschlandradio Kultur (18.1.2009). Das Erstaunliche an Stefan Puchers "bestechender" Inszenierung sei, "dass er diesen aktuellen Hintergrund immer mitschwingen lässt, ohne Shakespeares Drama je mit aufdringlichen Gegenwartsverweisen zu überziehen." Nicht zuletzt Thomas Schmauser als Herzog spiele hinreißend, er sei "der personifizierte Zweifel, exzessiv in seinem Leiden an der unlösbaren Aufgabe, Recht herzustellen; ätzend in seinem Zynismus, mit dem er am Ende alles – rein pro forma! – doch zum Rechten wendet".

Das Beste an Stefan Puchers "missratener" "Maß für Maß"-Inszenierung, einer "flapsigen Pop-Version des Shakespeare-Stückes", seien die "furiosen Videocollagen" von Chris Kondek, schreibt Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (19.1.2009). Ansonsten aber sei das meiste "in dieser humorlosen Inszenierung, die ihr Publikum für dumm" halte, "plakativ, überdeutlich und geschmäcklerisch". Pucher denunziere "alle Figuren als bigott, verlogen und korrupt", und die Nebenfiguren seien "reine Klischees".

In der Frankfurter Rundschau (21.1.2009) schreibt Christine Diller: Keine Sekunde erliege Pucher "der Verführungskunst dieser charismatische Dramenfigur" des von Thomas Schmauser gespielten Herzogs: "Er führt sie vor, so skrupellos, wie sie selbst ihre Mitspieler vorführen und ihre Macht auskosten. Das ist der große Reiz an Puchers Shakespeare-Interpretationen." Der Regisseur gehe "behutsam" vor, um der "gut versteckten Perfidie aller Figuren auf die Schliche zu kommen". "Zeile für Zeile, Wort für Wort, legen die Schauspieler sie frei", Stück für Stück werde "ihr vorgeblicher Altruismus mit ihren wahren Zielen aufgewogen". Eine Inszenierung, die "mit klarem Blick und großer Ruhe die menschlichen Verhältnisse analysiert". Dazu kämen die "atmosphärisch zwingenden" Videobilder von Chris Kondek, die immer wieder "ein pornografisches Sodom und Gomorrha herauf" beschwörten.

 

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