Bohrung in 3500 Jahre Tiefe

von Ulrike Gondorf

Essen 22. Januar 2009. König Tut mit seiner goldenen Maske wird sich nicht verirren in diese weitläufige Industriehalle unter dem Förderturm der Zeche Zollverein. Für folkloristische Pharaonenspektakel sind offensichtlich keine Vorkehrungen getroffen. Die Spielfläche ist ein quadratisches Feld, belegt mit groben Schottersteinen, eingerahmt von Scheinwerfern und begrenzt von einer weißen Projektionsfläche. Auf einer Seite vier beleuchtete Stehpulte, auf der anderen haben die acht Musiker vom Ensemble Folkwang modern Platz genommen, für die Günter Steinke die Partitur zu "Osiris – mit den Toten reden" komponiert hat.

Als "Sprechoper" ist diese Performance angekündigt, die der Regisseur und Folkwang-Professor Brian Michaels konzipiert und realisiert hat. Das beschreibt den Abend nur unzureichend, er ist eher eine multimediale Annäherung an das Thema, das die etwa 3500 Jahre alten Texte vorgegeben haben. Es geht um altägyptische Totensprüche, gesammelt und übersetzt, teilweise sogar erst entdeckt von dem renommierten Ägyptologen und Kulturhistoriker Jan Assmann, der sich jahrzehntelang mit dem Stoff beschäftigt hat.

Archetypische Situationen

Ein kühnes Crossover also von Respekt einflößender wissenschaftlicher Forschung und experimentellen theatralischen Formen. Das kann leicht im "gut Gemeinten" stecken bleiben, das ja bekanntlich das Gegenteil von Kunst ist. In Essen gelingt das Wagnis, und das ist wahrscheinlich darauf zurück zu führen, dass man erst gar nicht eine szenische Bebilderung und musikalische Illustration des Totenrituals oder des Mythos um den erschlagenen und in der Unterwelt wieder auferstandenen Gott Osiris angestrebt hat.

Die Komponenten des  Abends entwickeln sich unterschiedlich, interagieren nur punktuell, geben ein Konzert, in dem jede Stimme ihr eigenes Recht hat: das Körper und Gesichter bis an die Grenze des Abstrakten verfremdende Video, die Aktionen der fünf Darsteller: zwei Männer, zwei Frauen und ein Kind repräsentieren verschiedene Lebensstadien und zeigen archetypische Situationen von Verlust und Wiederfinden, Vereinzelung und Begegnung, Lebendigkeit und Starre (Choreografie: Nadia Kevan). Die außerordentlich spannende Musik von Günter Steinke ist konsequent heutig in ihren Mitteln, klanglich reizvoll und atmosphärisch dicht.

Zeitlose Fragen der Trauer

Entscheidend aber ist letztendlich: die Texte des altägyptischen Totenrituals, von Assmann in eine poetische, aber unprätentiöse Sprache gebracht, entfalten eine magische Faszination. Fassungslos, verzweifelt, wütend, sehnsüchtig klagt Isis, die Schwester und Gattin, um den erschlagenen Osiris, und sofort ist klar, dass wir 3500 Jahre später ebenso viele Fragen und ebenso wenig Antworten angesichts des Unbegreiflichen haben wie diese erste Trauernde der Mythologie, die um den ersten Toten weint.

Die Textmontage von Assmann gibt die Phasen des Totenrituals wieder. Während der Verstorbene einbalsamiert und schließlich in den Sarg gelegt wurde, beschworen die Priester den Mythos von Osiris, dem er nun folgen sollte auf seinem Weg in ein anderes Leben.

Die vier Sprecher Susanne Seuffert, Anne-Isabelle Zils, Heinz-Simon Keller und Markus Klauk gaben den Texten große Kraft und Klarheit, in den dramatisch gesteigerten chorischen Passagen auch beinah expressionistischen Nachdruck. Die Antworten, die diese stark aufs Jenseits hin orientierte Kultur in solchen Ritualen fand in der Gewissheit auf ein Fortleben in der anderen Welt, wirken heute fremd und fern. Umso näher sind uns die Fragen nach den Ungewissheiten und Gefahren, die Ängste und Sehnsüchte, die diese Antworten notwendig machten. Sie lassen an diesem Abend in der Zeche Zollverein 3500 Jahre Abstand zu einer welthistorischen Sekunde zusammenschmelzen.

 

Osiris – mit den Toten reden
Konzept und Realisation: Brian Michaels, Text: Jan Assmann, Musik: Günter Steinke, Choreografie: Nadia Kevan, Raum: Brian Michaels, Joel Michaels, Kostüme: Beata Prochowska.
Mit: Susanne Seuffert, Anne-Isabelle Zils, Heinz-Simon Keller, Markus Klauk u.a. – Ensemble Folkwang modern

www.zollverein.de

 

Kritikenrundschau

Als etwas sperrig Markus Bruderreck diesen Abend erlebt, den er in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (24.1.2009) - online zu lesen auf dem WAZ-Portal Der Westen (23.1.2009) - beschreibt. Zwar fügen sich aus seiner Sicht alle Elemente, angefangen vom "mythischen Soundtrack" bis zur Videoprojektion zu einem "überzeugenden Ganzen". Allerdings sei dies für manch einen wohl recht anstregend gewesen, weshalb er von Reißaus- nehmenden Zuschauern berichtet und auch insgesamt Zweifel hat, ob die Texte wirklich so zeitlos oder ergreifend sind, wie Jan Assman mit seinen Beschreibungen des altägyptischen Totenrituals, auf der der Abend basiere, offensichtlich glaube.

 

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