Mach mir den Vulkan

von Sarah Heppekausen

Oberhausen, 23. Januar 2009. Ein schwarzer Gazevorhang hängt zu Beginn auf der Bühne: "Unter dem Vulkan" steht darauf. Der britische Schriftsteller Malcolm Lowry hat sein Buch über die Selbstvernichtung eines Trinkers so genannt. Auch in Tichons Kneipe an der großen Straße spielt Alkohol naturgemäß eine große Rolle, Wodka wärmt hier den gestrandeten Wanderern Leib und Seele und lässt verarmte Adlige ihren Liebesschmerz vergessen.

In einen Vulkan wird sich aber auch Empedokles stürzen. Der griechische Philosoph und Arzt will sein Leben der Natur zurückgeben. Und so verweist die Aufschrift gleich auf beide Stücke, die Jürgen Kruse am Theater Oberhausen zusammengefügt hat: Tschechows Einakter "Auf der großen Straße" und Hölderlins Dramenfragment "Der Tod des Empedokles" in der dritten Fassung.

Alles auf Erden und in der Kneipe

Das eine ein szenisches Gruppenbild betrunkener, pöbelnder, unglücklicher Kneipengäste, die zwar aneinander vorbei aber gemeinsam gegen die Lebensleere reden. Das andere die in Versform verfasste dramatische Darstellung eines exzentrischen Einzelnen, der den Geist der göttlichen Natur beschwört. Es sind wohl weniger die Ähnlichkeiten, die Kruse und den Dramaturgen Tilman Raabke veranlasst haben, die beiden Stücke zu kombinieren. Sie fassen das eine vielmehr als Begründung des anderen auf.

Jürgen Sarkiss kommt noch als Landstreicher Merik im Trapper-Kostüm in die Kneipe, bevor er sich als Empedokles an der Seitenbühne auf einer zerstückelten griechischen Statue niederlässt und das unflätige Treiben im Wirtshaus gelangweilt bis abfällig beobachtet. Für seine Verwandlung gibt Merik nur seinen Pelzmantel ab, bindet sich einen weißen Schal um den Hals und spielt mit einem Schlangenstab (Kostüme: Sebastian Ellrich). Als Empedokles kommt er erst zu Wort, wenn Tschechow abgespielt ist. Wenn die Schauspieler in guter alter Kruse-Manier die Silben gesplittet, die Vokale gedehnt und die Sätze zu Bruchstücken gestrichen haben. Wenn die Kostüme gewechselt und die Lieder zu Ende gesungen sind.

Sandalen, die vom Himmel baumeln

Aber immer wieder blicken schon im ersten Teil Verweise auf Empedokles’ revolutionäres Gedankengut durch. "1788/89 bis 2008/09" ist zum Beispiel an einem Eisenträger auf der zugeschütteten Bühne zu lesen. "Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit" fordert jemand. Von Empedokles habe man nach seinem Sprung in den Ätna eine seiner Sandalen gefunden, heißt es in der Legende. Und so lassen die Bühnenbildner Volker Hintermeier und Tobias Schunck ein Mobile aus Schuhen von der Decke baumeln.

Von all dem Brimbamborium ist Empedokles allerdings wenig beeindruckt. Die Axt, die Merik bei Tschechow eigentlich gegen Marja Egorovna, Borcovs betrügende Ehefrau, schwingt, schlägt Empedokles erst gegen das Geländer, als er von des Volkes Seele spricht. Ekel befällt ihn nicht angesichts eines einzigen Lasters, ihm sind alle Sterblichen zuwider.

Blind, mächtig, überdrüssig

Jürgen Sarkiss zeigt einen blasierten Empedokles, des Erdenlebens überdrüssig, wartend auf die göttliche Verheißung. Er streckt die Arme heroisch in die Luft, klimpert mit den Ringen an seiner Hand und kratzt sich angewidert am Hals. Das alles hier betrifft ihn nicht mehr. Sogar seinen treuen Freund Pausanias belächelt er nur noch müde. Dabei bemüht sich Björn Gabriel als besorgter Begleiter wahrhaftig um Empedokles' Gunst.

Hatte Gabriel noch im ersten Teil als sonnenbebrillter Fabrikarbeiter Fedja einige lockere Sprüche auf der Zunge, hofft er jetzt fast trotzig auf Anweisungen des geliebten Meisters. Aber er wird Empedokles nicht folgen dürfen, denn Pausanias trägt die Blindenbinde am Arm. Er sieht so wenig klar wie all die anderen unbelehrten Menschen. Es ist nicht immer leicht, Hölderlins hervorragend umgesetzten Versen zu folgen, denn das Geschehen auf der Mittelbühne läuft ungeachtet der weltweisen Worte weiter. Auf der großen Straße wird Gitarre gespielt, eine Sandburg gebaut, Schreibmaschine getippt, gesoffen und geflucht.

Der Ätna öffnet sich

Gerade dadurch aber bekommt Empedokles' widersprüchlicher Charakter eine klare Setzung: Er verzweifelt am oberflächlichen Geplänkel und Geprahle der Sterblichen, am Müll des Daseins. Er ist genauso genervt wie der Zuschauer. "Aber wo ist er?" fragt der Hölderlin-Schlusschor zum Ende. Da öffnet sich im hinteren Teil der Bühne ein Tor. Dahinter leuchtet und brodelt der Ätna im Miniatur-Format. "Tja, das hätte ich euch gleich sagen können", meint einer allwissend-achselzuckend.

Im ersten Teil war er der verlassene Ehemann Borcov, bekleidet bloß noch mit einem großen Kreuz um den Hals und einer langen Unterhose, weil er für Wodka selbst sein letztes Hemd gibt. Jetzt trägt er Anzug und Zylinder. Ein Bob Dylan-Verschnitt, weil der zu Kruses Inszenierungen einfach dazugehört? Oder der verstorbene Klaus Michael Grüber. Schließlich hatte er zuvor schon Engelsflügel umgebunden, und Jürgen Kruse wollte seiner mit der Aufführung offiziell gedenken. In jedem Fall aber ist er Empedokles' Bruder im Geiste.


Auf der großen Straße/Tod des Empedokles
von Anton Tschechow und Friedrich Hölderlin
Regie: Jürgen Kruse, Bühne: Volker Hintermeier und Tobias Schunck, Kostüme: Sebastian Ellrich, Dramaturgie: Tilman Raabke.
Mit: Julia Breier, Manja Kuhl, Annika Meier, Anna Polke, Sascha Blyum, Björn Gabriel, Henry Meyer, Jürgen Sarkiss, Hartmut Stanke, Klaus Zwick.

www.theater-oberhausen.de

 

Mehr zu Jürgen Kruse: Im Dezember 2007 hat er am Schauspiel Köln Jack Kerouacs Beat Generation inszeniert und in Leipzig, im Oktober 2008 Moliéres Don Juan.

 

Kritikenrundschau

Mit der Kombination von Tschechows "Auf der großen Straße" und Hölderlins "Empedokles" habe Jürgen Kruse am Theater Oberhausen "eine Geduldsprobe auf offener Bühne" angerichtet, "die Kruses Ruf als großer Trinker und Schmerzensmann des deutschen Theaters" festige, meint Jens Dirksen in der Neuen Ruhr Zeitung (26.1.2009). "Heitermelancholischer Trash gegen depressionsfreudige Hochkultur, das trägt sprachlich zwei, drei Szenen lang. Kruse aber dehnt es auf ein ganzes Stück und lässt es in pittoreske Kostüme steigen, die zwischen Trödel und Absurdistan entstanden sind." Da Tschechows Stück "völlig unbekannt" sei, habe "das Zertrümmern und Neulesen, mit dem Kruse oft schon Klassiker in die Gegenwart retten konnte, (…) nur einen ermüdenden Doppler-Effekt".


In der Westdeutschen Allgemeinen (26.1.2009) konstatiert Michael Schmitz, dass Jürgen Kruse sich in Oberhausen nicht neu entdecke: "In die für ihn typischen, mit Banalitäten und Derbheiten gespickten Sprachversatzstücke und Verdrehungen wie Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit, auf die der Regisseur Tschechows Gruppenbild mit saufendem Pöbel reduziert, positioniert er Klangbilder von den Rolling Stones bis Boney M." Sei es "auf der großen Straße zwischen Sandburgenbauen, Schreibmaschinetippen und Gitarrespielen noch unterhaltsam", so falle Kruse "zum undramatischen Drama Hölderlins wenig ein. Er überlässt den großen Einzelkämpfer in der feindlichen Gesellschaft beinahe tatenlos Jürgen Sarkiss, der Empedokles mit weltweiser Abgeklärtheit, ja Arroganz beinahe über den irdischen Verwerfungen stehen lässt. Eine Glanzleistung inmitten eines großartigen Ensemblespiels."

 

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