Bonbons mit Kirschengeschmack

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 24. Januar 2009. Der Kirschgarten ist bloß ein Ort, an dem die Sehnsüchte und Erinnerungen hängen wie überreife Früchte. Ein Ort, der Kinderseelen verrückt werden lässt. Ein Ort wie ein Vakuum, in das jeder füllen kann, was er mag. In Frankfurt sehen wir weder Garten noch Kirschen. Hier blüht nichts, und es werden am Ende auch keine Bäume gefällt. Der Kirschgarten ist nur eine fixe Idee, um die Urs Troller seine lebensuntüchtigen Figuren arrangiert wie Auslaufmodelle.

Auch sonst gibt es nicht viel zu sehen. Stefanie Wilhelm hat auf dem vorderen Teil der Bühne Wände eingezogen, die von Akt zu Akt andere Auswege und Einsichten bieten. Ein laufstegbreiter Streifen an der Rampe reicht die meiste Zeit als Spielfläche. Die verschachtelte Enge des Raums – von oben ragt noch ein schwarzer Prospekt auf die Bühne – korrespondiert mit der Befindlichkeitsstörung der Figuren, die sich in ihr eigenes Leben sperren wie in ein Gefängnis.

Verlebte Grandezza
Nicht nur die Bühne ist sparsam angelegt, auch die Requisiten sind ausgesucht. Die meiste Zeit müssen sich die Schauspieler ganz auf ihren Körper und ihre Gesten verlassen. Vielleicht scheint die Ranjewskaja der Friederike Kammer deswegen zu Beginn so ungewohnt aufgedreht. Im langen Pelzmantel, mit hochhackigen Schuhen und in ihrer verlebten Grandezza wirkt sie wie ein alternder Hollywoodstar mit Divenstatus aus längst vergessenen Zeiten. Schnippisch ist sie, peinlich auch und wenn sie lacht, dann geschieht das schrill und aufgesetzt.

Ihr Bruder (Felix von Manteuffel) indes ist die Ausgeburt eines Schluffis, der Bonbons, wahrscheinlich mit Kirschgeschmack, lutscht, wie nur Kinder Bonbons lutschen. Dem Verkauf ihres Guts ergeben sich die beiden wie einem Naturgesetz: Unfähig zu handeln, sich zu widersetzen und sich aufzubäumen, sehen sie tatenlos zu, wie Lopachin (Oliver Kraushaar), Sohn eines ehemaligen Leibeigenen, das Gut kauft.

Ausgestellte Langeweile
Es ist aber nicht so, dass ihnen die Kraft dafür fehlte. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass Zeiten sich ändern, dass nichts bleibt, wie es ist. In ihrem Kinderglauben halten sie aneinander und an der herrschaftlichen Vergangenheit fest wie an einem guten alten Brauch.

Urs Troller präsentiert sie in ihrer ganzen Erstarrung und Unbeweglichkeit. Unglücklich sind sie bei ihm nicht, dafür aber immens gelangweilt. In den ersten beiden Akten überträgt sich das mühelos auf den Zuschauer. Die Zeit verstreicht zäh. Auf der Bühne wird viel geschwiegen, Langweile ausgestellt. Bilder und Szenen, an denen sich der Blick festsaugen könnte – Fehlanzeige.

Da hilft es nicht viel, dass Abak Safaei-Rad eine sehr klare Warja gibt, Heiner Stadelmann als Diener Firs hingebungsvoll über die Bühne schlurft und Sandra Bayrhammer als Anja manch liebreizenden Augenblick gewährt. Der Abend kommt einfach nicht in Gang, möchte es vermutlich gar nicht, schließlich kommen die Figuren ja auch nicht in Gang. Dann kommt aber zumindest endlich die Pause und damit der bitter nötige Espresso.

Besoffene Untergangsstimmung
Danach funktioniert es weit besser, nicht nur wegen des Coffeinschubs. Im dritten und vierten Akt nämlich treten die Vorzüge der schlanken nackten Inszenierung, die sich zeit- wie ortlos gibt, wie auch ihre komischen Seiten deutlicher zu Tage. Hinreißend kommen sich da der Student Trofimow (Daniel Christensen) und die Ranjewskaja ins Gehege, und der Gutsbesitzer Pischtschik (Wolfgang Gorks) platziert seine Sätze auf dem schmalen Grat zwischen Lachen und Weinen.

Wie schon in seiner Tasso-Inszenierung verzichtet Troller auch diesmal auf musikalische Untermalung, was ihm durchaus hoch anzurechnen ist. Selbst das große Fest geht ohne einen Ton Musik über die Bühne. Und doch gelingt es dem Ensemble, besoffene Untergangsstimmung zu verbreiten. Der Tag der Abreise ist dann weniger ein Abschied als ein Aufbruch.

Zur Feier des Tages wird Champagner ausgeschenkt. Das elegische Ziehen und nostalgische Pochen, das die Kirschgartenkinder schmerzt, ist in Frankfurt nicht mehr als eine Pointe am Rande. Troller blickt seinen Figuren unsentimental und mitleidlos ins Gesicht. Mag sein, dass das Tschechow sogar gefallen hätte. Uns lässt es die meiste Zeit ziemlich kalt.

 

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsch von Thomas Brasch
Regie: Urs Troller, Bühne: Stefanie Wilhelm, Kostüme: Katharina Weißenborn.
Mit: Sandra Bayrhammer, Daniel Christensen, Wolfgang Gorks, Andreas Haase, Friederike Kammer, Oliver Kraushaar, Leslie Malton, Felix von Manteuffel, Anne Müller, Abak Safaei-Rad, Heiner Stadelmann, Horst Templin, Bert Tischendorf.

www.schauspielfrankfurt.de


Mehr lesen? Im August 2008 eröffnete Urs Troller die 2. Frankfurter Goethe-Gedenkwoche goethe-ffm mit Torquato Tasso.

Kritikenrundschau

Der Ton der Frankfurter "Kirschgarten"-Insenierung von Urs Troller sei "das Lachen, meistens ein gackerndes Lachen, das gar nicht merkt, wie verletzend es für einen anderen ist", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (26.1.2009). Daneben habe Troller "Pausen wie Schneisen in die Aufführung hineingeschlagen. Sie reißen, fast brutal, Flanken auf, Abgründe des Missverstehens, Löcher des Aneinander-vorbei-Redens, Hohlräume des Wegquatschens. So klingt diese Aufführung insgesamt rau, böse und trocken." Einiges sei jedoch "nicht rau, sondern schlicht unsensibel." Das Bühnenbild etwa drücke die Aufführung an die Rampe, und gar kein Gespür entwickle die Aufführung für die Ranjewskaja. Dafür gelinge Oliver Kraushaar der Lopachin "ganz hervorragend". Lopachin finde bei Kraushaar "eine ungelenke, aber höchst stimmige Form. Die Aufführung gehört vor allem ihm, kein Wunder bei der prosaischen Grundanlage".

Mit ihrem Verzicht auf Musik, auf üppige Requisiten und auch auf deutliche Anspielungen auf die Gegenwart sei Trollers Inszenierung "recht karg ausgefallen", meint Michael Hierholzer in der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen (26.1.2009). Troller halte "sich so treu an Tschechows Text, (…) dass das Stück in seiner historischen Substanz erlebbar wird: Russland nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 (…). Zugleich aber wird ein Lebensgefühl ausgestellt, das sich wehrt gegen den allenthalben vorherrschenden wirtschaftlichen Verstand. So gewinnt diese Inszenierung gleichsam unter der Hand Aktualität, insofern das Verhalten der Gutsbesitzer als romantischer Vorbehalt gegen das rechnende Denken vorgeführt wird." So bekomme man einen "zwar fleischarmen, aber ziemlich unverfälschten Tschechow geboten".

Die Bühne von Stefanie Wilhelm sei "so steril und karg, dass einen fröstelt, nichts von der Heimeligkeit eines alten Landguts", schreibt Michael Kluger in der Frankfurter Neuen Presse (26.1.2009). Urs Troller treibe dem "Kirschgarten" "alles Sentimentale, jeden melancholischen Zauber aus, der sich bisweilen so süffig genießen lässt." Er erzähle die Geschichte "mit einer kühlen, sachlichen, gleichwohl schlüssigen Beiläufigkeit." Das glänzende Ensemble schließlich erstatte "dem Stück das Leben, das die seelenlose Bühne ihm verweigert".

Urs Troller mache aus den "gestrigen Figuren" aus Tschechows Komödie "eine elegische Versammlung, die meist auf der Vorderbühne herumsteht (…): Sie starren von der Rampe aus ins Dunkel des Zuschauerraums – oder heben die Arme für Verzweiflungsgesten über den Kopf, mit dem Rücken zum Publikum", schreibt Esther Boldt in der Gießener Allgemeinen (26.1.2009). "Komisch ist es hier keineswegs, eher spätsommerlich-schwermütig", fürs Komische fehle "diesem Abschiedstanz der Rhythmus, Troller entwirft vielmehr ein Drama, ein bisweilen verzweifelt-überdrehtes, vor allem schläfriges, unentwirrbar im Gestern hängendes Szenario im Breitbandformat."

 

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