explodiert - Andreas Liebmanns familienzerfetzendes Stück im Vestibül
Ich bin eine Kruste, und ich platze gleich
von Peter Schneeberger
Wien, 25. Januar 2009. In ganz Europa verbreitet sich eine merkwürdige Epidemie: Menschen explodieren, scheinbar grundlos reißt es Männer und Frauen in Stücke. "Der Einfluss von Sprengstoff wird ausgeschlossen", heißt es in ersten Pressemeldungen. Gründlichere Informationen über die spektakulären Todesfälle sind nicht zu erhalten. Nur: "Auf den Gesichtern der Explodierten liegt ein Ausdruck von Erlösung."
Einer freilich kennt die Antwort auf die Frage, was denn da vor sich geht in London, Porto, Warschau, London: Andreas Liebmann, der 1972 in Zürich geborene Schauspieler, Regisseur und Autor, häuft in seinen Figuren so viel Langeweile, Überdruss und Enttäuschung an, bis es sie vor seelischem Überdruck regelrecht zerfetzt. Zuerst fliegt in "explodiert" die jugendliche Christa in die Luft, dann Vater Thomas, zum Schluss ist Anna dran: Sie erwischt es am Fuße des Ätna.
Hier sind wir gelandet!
Zu sehen ist die Allegorie in der Uraufführungsregie von Cornelia Rainer im Wiener Vestibül, der kleinsten Spielstätte des Burgtheaters. Thomas, Vera, Anna und Christa sitzen fröhlich plappernd am Frühstückstisch. Die kleine Bühne ist mit vier Malerleitern bereits vollständig überfüllt, die Wände des Zuschauerraums sind mit Packpapier verklebt, selbst über dem Piano der Heilbronner Familie liegt eine Plane: Ausstatter Aurel Lenfert hat das Vestibül in eine Höhle verwandelt.
Eine Höhle des Alltags freilich, aus der es auszubrechen gilt: Vera, die Mutter, verabschiedet sich für eine zweimonatige "Auszeit" in die Mongolei. "Was wir ihnen hier zeigen, ist eine Art Liebesgeschichte", lässt der Autor seine Figuren sagen, und: "Was wir ihnen hier erzählen, ist eine Art Familiengeschichte. Wir wollten etwas anderes erzählen, etwas Größeres, aber wir sind wieder hier gelandet." Anders formuliert: Das deutsche Drama kommt nicht vom Fleck und auch diesmal nicht über den Mikrokosmos der Kernfamilie hinaus.
Schnurgerade Gedanken, geheimnislose Figuren
"Vorschlag für einen Theaterabend" nennt Liebmann seinen Text, dessen Rechte beim Fischer Verlag liegen. Formal geschickt montiert er zahlreiche, oft nur wenige Zeilen lange Szenen zu einem Roadmovie. Während Vera in der Mongolei ihre Freiheit genießt, bricht der zu Hause gebliebene Gatte mit einer seiner beiden Töchter nach Italien auf. Schnitt – und wir sind in der Sixtinischen Kapelle. Schnitt – und wir reisen zurück in die Vergangenheit. Schnitt – und Nachrichtensprecher berichten von einer schnell steigenden Anzahl angsteinflößender Todesfälle.
Doch so anspruchsvoll die offene Struktur des Dramas ist: Liebmanns Sprache kann mit den virtuosen Kunststücken nicht mithalten, die Kollegen wie Ewald Palmetshofer auf offener Bühne vollführen. Lahme Sentenzen und schnurgerade Gedanken legt er seinen Figuren in den Mund; ungebremst im Kitsch landet "explodiert", als Vera ihrem Mann vorhält: "Wenn deine ganzen Verhärtungen weg wären, wäre ich auch weg, weil ich eine Kruste bin, an der du seit Ewigkeiten rumschabst, weil du fälschlicherweise geglaubt hast, ich wäre eine Wunde, dabei bin ich ein Mensch."
Ausgerechnet ein Autor, der so geheimnisvolle Dinge wie explodierende Menschen erfindet, erschafft Figuren, denen jedes Geheimnis fehlt: "Nichts von dem, was wesentlich wäre, habe ich je gelebt", plaudert Thomas selbstmitleidig aus. "Mein Körper ist so voll von meiner Vergangenheit, das ich fast platze. Sie taucht in mir auf, ob ich will oder nicht" – womit schließlich auch die Ursache der Explosionen gefunden wäre.
... und ein Regietalent
Regisseurin Cornelia Rainer, 24 Jahre alt und seit 2005 Regieassistentin am Burgtheater, hat den Text entsprechend stark gekürzt: ihr ist im Vestibül die erstaunliche Leistung gelungen, aus einem etwas flachen Stück einen guten Theaterabend zu machen. Als Thomas zu seiner Italienreise aufbricht, tuckert eine Modelleisenbahn über die Bühne; als Anna in den Ätna hinunterstarrt, krümmt sie sich über eine der Malerleitern. Geschickt arrangiert Rainer Bilder, blitzschnell wechselt sie Stimmungen und schreitet dabei leichtfüßig den Bogen von der Komödie über die Tragödie bis zum Pathos von Händels "Lascia ch'io pianga" aus.
Freilich: mit Petra Morzé, Peter Wolfsberger, Stefanie Dvorak, Pauline Knof und Patrick O. Beck standen der Regieeinsteigerin großartige Burgtheater-Schauspieler zur Seite. Doch das untrügliche Tempogefühl, das Rainer 90 Minuten lang beweist, sowie die erstaunliche Prägnanz, mit der sie selbst kleine Szenen gestaltet, lässt keinen Zweifel daran: mit dieser Regisseurin ist zu rechnen.
explodiert (UA)
von Andreas Liebmann
Regie: Cornelia Rainer, Ausstattung: Aurel Lenfert, Musik: Karl Stirner.
Mit: Petra Morzé, Peter Wolfsberger, Stefanie Dvorak, Pauline Knof, Patrick O. Beck, Martin Beck, Josef Fuchs, Ulrike Hübl.
www.burgtheater.at
Kritikenrundschau
Die Story ist im Grunde simpel, so Barbara Petsch in der Presse (27.1.2009) Eine Frau verlasse ihre Familie, um für zwei Monate in der Mongolei auf musikalische Tournee zu gehen. Der Mann stimmt zu, doch bald bereut er, dass er die Frau gehen ließ. "Liebmann reichert seine Story mit allerlei witzigen Slapstick-Szenen und saftigen Karikaturen an. Clowns als stumme Zeugen des Geschehens verleihen der Aufführung einen Hauch von Ionesco." Regisseurin Cornelia Rainer jongliere souverän mit "dem bunten, verspielten, manchmal auch grotesken Textgebilde". Die Schauspieler seien wunderbar, "selbst jene, die sonst im Burg-Ensemble eher weniger auffallen." Peter Wolfsberger tue einem richtig leid, wie er, von der Frau sitzen gelassen, plötzlich am Lebenssinn zweifelt. Und "lyrisch, seelenvoll, dann wieder voll sprühender Energie malt Petra Morzé die Ehefrau und Mutter, die Morgenluft wittert."
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nachtkritikvorschau
"Das deutsche Drama kommt nicht vom Fleck." Herr Schneeberger weiß auch das. Kleinfamilie ist out. Welches Thema hätten Sie denn gern? Oder vielleicht sollten Sie sich mehr für das interessieren, was Sie sehen und weniger für das, was Sie gern sehen würden. Das hilft auch gegen Daumenrunter- und Daumenraufkritik. Text Daumenrunter, Regie Daumenrauf.
Schwache Kritik, das kann man sagen, ohne den Abend gesehen zu haben.
(...)
(Nu, da schauen Sie doch einfach mal in die Autorenliste, finden Sie die? Steht unter Impressum - jnm für die Redaktion).
- und sagen sie uns auch noch, wieso? vielleicht, weil da 'ne modelleisenbahn über die bühne fährt? oder weil da mal was von händel eingespielt wird?
das sind doch keine argumente. das ist (...) zusammenhangloses schulaufsatzgewäsch ohne unterbau.
"das untrügliche Tempogefühl, das Rainer 90 Minuten lang beweist, sowie die erstaunliche Prägnanz, mit der sie selbst kleine Szenen gestaltet"
Das sind Sätze, die ich in der Kritik finde. Ich kann damit was anfangen. Wo, Agnes, fängt bei dir das Argument an, wo hört das Schulaufsatzgewäsch auf? Was würdest du gelten lassen, um ein Geschmacksurteil als begründet erscheinen zu lassen?
was erreicht die regisseurin denn durch die bilder? durch stimmungswechsel?
was für einen nutzen hat denn das tempo für die inszenierung? was gewinnt sie dadurch?
ich will keine beschreibungen hören, sondern ergebnisse. für mich gehört zu einer kritik mehr als nacherzählen und -beschreiben.
(an Kritikerkritiker - über die Qualifikationen der Kritiker, die für Nachtkritik schreiben, erfahren Sie mehr, wenn Sie auf die Autorenliste im Impressum schauen, die seit Anbeginn freigeschaltet ist. Dass nachtkritik kritikresistend sein soll, ist haltlos, wenn Sie mal die Diskussionen des vergangenen Jahres Revue passieren lassen. Auf nachtkritik soll weder über Regisseure "übelst hergezogen" werden, wie sie schreiben, noch über die Kritiker. Alle sollen im Gespräch bleiben, so verstehe ich auch Ihr insistieren. Gruß aus der Redaktion, Simone Kaempf)
ich empfehle als kontrastprogramm manche kritik aus ddr-heften von theater der zeit zu lesen. erstaunlich wie wenig sich der kritiker da im vergleich zu heute in den vordergrund schiebt. solche ironisch-abfälligen formulierungen wie "einer freilich kennt die Antwort auf die Frage, was denn da vor sich geht in London, Porto, Warschau, London: Andreas Liebmann..." kann man da nicht finden. der schneebergertext dient hier als durchschnittliches beispiel für das, was kritik nicht vermag: sich uneitel und ehrlich kritisch auseinanderzusetzen.
auffällig auch, daß sich die kriterien des urteils unklar und schwammig zeigen. "Mikrokosmos Kernfamilie" ist, so schneeberger, als gegenstand für ein stück nicht genug. das klingt nach dramaturgenstammtisch, aber sollte kein ästhetisches kriterium sein. und so könnte man schneebergers versuch zeile für zeile auseinandernehmen. aber das ginge hier zu weit.
aber ich muss auch sagen, dass mir die kritik wenig gefallen hat. vor allem der palmetshofer-vergleich hinkt. nicht, weil die beiden stücke nicht vergleichbar wären, sondern weil man da einen noch ziemlich jungen autor zum maßstab erhebt. das ist ärgerlich für liebmann und auch für palmetshofer: denn wie soll er diesem maßstabsein in seinen nächsten texten gerecht werden. um so abgehobener das lob umso schärfer die nächste kritik. leider.
gleichzeitig frage ich mich, warum dann immer gleich gesagt wird, junge dramatiker hätten nichts zu erzählen, nichts erlebt blala. finde ich schade, anstatt sich damit auseinanderzusetzen, warum die kunst sich eben in den privatraum zurückzieht. und so weiter. das sagt doch eine ganze menge aus, wenn mitdreißiger, die eigentlich alles haben, total unzufrieden sind, wenn familien an der "selbstverwirklichung" zerbrechen und so weiter. ich fände so eine diskussion mal gut und das wäre dem autor sicher auch gerecht: die angesprochenen themen diskutieren. denn davon kann man mal ausgehen: da haben sich leute verdammt lange mit beschäftigt. der autor sicher über monate und jahre, das theaterteam mindestens 6 wochen. das kann man doch erstmal annehmen und nicht gleich auf abwehr schalten und sagen: ach wie flach schon tausend mal gesehen. lieber mal genauer hingucken, ob es da nicht doch etwas gibt.
übrigens sind unzufriedene mitdreißiger kein neues thema, man denke an ibsens hedda gabler "das einzige, wozu ich talent habe, ist mich zu langweilen."
warum sind 90minütige stücke schlecht?
warum sind wenige figuren schlecht?
grüße, krah
90minütige Stücke sind nicht per se schlecht, auch wenige Personen nicht. Und selbstverständlich kann man auch über Mitdreißiger schreiben. Nur: All das wird momentan zum Dogma erklärt. Ich selbst habe an zwei Schreibworkshops am Burgtheater teilgenommen und es wird einem in solchen Veranstaltungen beinahe penetrant eingehämmert: Die Sprache muss platt sein, nur wenige Worte, möglichst umgangssprachlich. NUr nichts zu anspruchsvolles. Das Stück muss kurz sein. Es muss so wenig Personen haben, dass jedes Theater es spielen kann. Das Thema muss in einen Satz zu fassen sein. Und alles, was nicht in dieses Schema passt, wird niedergemacht, man lässt es nicht gelten. Es gibt also ein gewisses Schema, dem sich neue Stücke anpassen müssen, um in Workshops, Wettbewerben und in Dramaturgieabteilungen zu bestehen. Und dadurch werden Stücke austauschbar - weil sich Dramatiker mit nichts anderem mehr beschäftigen. Glauben Sie, auf den Fließbändern der Jungdramatikerherstellung entstehen heute so unverwechselbare Stimmen wie - nur als Beispiele - Bernhard, Jelinek, Schwab, Jonke usw...? Ich habe schon lang nichts eigenwillig-spannendes gesehen. Und zum Rückzug ins Private: Es ist für mich wirklich nur eine Ausrede, dass dieser ja einen Grund hätte. Es gibt nun wirklich - gerade in unseren Zeiten - mehr zu erzählen als das Gejammer der Mitdreißiger. Ich muss gar kein großes Politstück haben - aber wo bleibt denn das Irrationale, Wüste, Mythische, Absurde des Theaters in den Wohnküchen der Jungdramatiker?
Wer hat diesen Schreibworkshop am Burgtheater gemacht? Wenn das alles stimmt, wäre es skandalös, aber ich kann mir das kaum vorstellen.
Das führt nun noch weiter weg von der oben beschriebenen Aufführung. Ich meine, die Nachtkritik-Redaktion könnte sich überlegen, ob es nicht gut wäre, einen eigenen Blog zu machen zu den Schreibschulen. Auch einen zur Kritik der Kritik.
Was hier geschrieben wird, ist oft wüst und irrational, aber ich bin dennoch überzeugt, daß so ein Blog, (eventuell ein wenig administriert, wenn es zu ausschweifend wird,) einen Erkenntnisgewinn bringen kann, gerade weil es hier die Möglichkeit gibt, anonym zu schreiben.