Apokalypse now

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 7. Februar 2009. In Andrej Tarkowskis cineastischem Meisterwerk "Stalker" suchen drei Männer ein Zimmer. DAS Zimmer in DER Zone. Dort, so heißt es, werden Wünsche erfüllt. Der Weg zum Zimmer ist einer voller Qualen und Irritationen. In der verbotenen Zone würden gemeine Physiklehrer und Reiseführer verzweifeln, denn die Uhren laufen anders und der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist eben nicht die Gerade. Der einzige, der sich in diesen gekrümmten Raum- und Zeitverhältnissen auszukennen glaubt, ist der Stalker, eine zivilisationsmüde Gestalt, die zwei andere durch eine Industriebrache lenkt.

Wie ein vorletzter Atemzug
Eigentlich ist das Ganze ja zum Totlachen. Nicht einmal tragikomisch. Sondern einfach nur irre lustig. Doch als Tarkowskis Film 1980 in Cannes gezeigt wurde, hat wahrscheinlich niemand gelacht. Humor war nicht die Stärke dieses priesterlichen Ausnahmeregisseurs.

Wer "Stalker" je gesehen hat, wird diese Meditation über den Sinn des Lebens nie vergessen. Ein Film wie ein vorletzter Atemzug, reizvoll langweilig und intensiv langsam, ein morbider Kommentar auf unseren kreischend bunten Filmdschungel der unterhaltsamen, weich gepolsterten Geschichtchen. In Tarkowskis imaginierten Kinosälen finden sich nur harte Kirchenbänke.

Auch Hasko Weber, der inszenierende Intendant des Stuttgarter Schauspiels, hat sich auf den schmerzhaften Weg zum Zimmer gemacht. Die von Evelyn Hribersek gestaltete Bühne ist eine Hölle aus undefiniertem Plastikmüll und tausend Schwarztönen, moduliert von wechselnden Lichtkegeln aus neun Hängelampen, die den darin verhafteten Figuren tiefe Augenringe und Schatten in die Gesichter brennen.

Bonvivant gegen Teilchenbeschleuniger
Und Weber hat bei seiner Expedition in die gefährlichen Alpträume Tarkowskis etwas gespürt, was ihm wohl selbst unheimlich vorkam. Eine winzige Sünde. Ein Zucken in den Mundwinkeln. Ein Lachen gar. Lutz Salzmann sei Dank. Er gibt den dekadenten, an allem zweifelnden, zutiefst zynischen Schriftsteller. Ein eitler Geck: Sonnenbrille im Wuschelhaar, lila Handschuhe, Stiefeletten, mit Spirituosen und Schusswaffe als Proviant, betritt dieser Bonvivant das vernebelte Sperrgebiet. Am Ziel angekommen, wartet der Künstler auf etwas, was der Stalker ein Zeichen nennt, und lässt seinem losen Mundwerk freien Lauf: "Hallo Zimmer! Lass mich nicht hängen! Na los! Nagle mich ans Kreuz! Zeig mir meinen Platz!" Der folgende Gottesbeweis – das Zimmer schießt – fällt eher mau aus. Der Schriftsteller ist überrascht, unverletzt, aber nicht bekehrt.

Auch der Wissenschaftler, genannt der Professor, wird von Jens Winterstein mit einer ordentlichen Portion selbstironischer Ratio gegeben. Verkleidet wie ein unverwüstlicher Bruchpilot aus den Zwanziger Jahren mit Lederhaube und Cargo-Hose sucht er offensichtlich das Abenteuer jenseits des Schreibtisches in seinem Institut. Dieser von intriganten Kollegen und geizigen Ministerien ausgebremste Teilchenbeschleuniger entdeckt im Künstler einen willkommenen Gegenspieler. Der Ehrgeizling bekämpft den eloquenten Schreiber mit pointiert angetippten Wissenschaftsdiskursen, die ihm für Augenblicke ein intellektuelles Hoheitsgebiet innerhalb der Zone sichern.

All das hätte seine Berechtigung, auch der dramaturgische Einfall, Lutz Salzmann bei einer Prüfung den paranoiden Fahrstuhl-Monolog aus Heiner Müllers "Der Auftrag" sprechen zu lassen, der die Frage nach dem Sinn allen Tuns noch einmal stellt.

Humoristische Nihilisten und religiöser Eiferer
Dort, wo sich diese Stuttgarter Adaption vom Film entfernt, bleibt sie meist interessant, die geradezu widerwillige Entdeckung des humoristischen Potentials beim Schriftsteller und Professor miteingeschlossen. Beide suchen ja nur einen Zonen-Kick in ihren leergeschriebenen und ausgeforschten Leben, keine Erlösung. Nihilisten-Alltag.

Doch das Problem ist die Figur des Stalkers, dem Jonas Fürstenau einen übermenschlichen Ernst einhauchen will und nicht kann, was allerdings nicht der Fehler des Schauspielers ist. Hasko Weber scheitert letztlich am Versuch, die Balance und Äquidistanz zwischen den Figuren auszuloten. Während im Film das Rätselhafte fasziniert, das zärtliche Betasten der wunden Seelen mit einer alles durchleuchtenden Filmkamera die wundersame Illusion bewirkt, der Zuschauer sei selbst in Gottes Auge gefangen, wird auf der Bühne plötzlich alles nur noch präsentiert, entmystifiziert.

Das Verborgene kommt zur Sprache. So gewinnt das intellektuelle Duo, der Missionar aber verliert. Der Stalker ist schließlich ein religiöser Eiferer, der in zwei eingeschobenen Texten den Herrgott anfleht und in seinem Glauben unglaubwürdig wird, um nicht zu sagen: lächerlich.

Seine Erlöserphantasien, die er den anderen im besagten Zimmer einimpfen will, bekommen auch noch himmlische Unterstützung von der Ehefrau (Anna Windmüller), die einen wahrlich befremdlichen Part in bester Gothic-Manier absolviert. Im tosenden Windkanal bauscht sich das Abendkleid mit der meterlangen Stoffpracht wundersam auf und hätte fast abgelenkt von der dahingezischten, völlig unnötigen Apokalypse aus der Johannes-Offenbarung.

Aber vielleicht war es ja auch nur ein schlechter Witz.

 

Stalker
nach Andrej Tarkowski
Übersetzung und Bühnenfassung: Jörg Bochow und Hasko Weber, unter Verwendung von "Der Mann im Fahrstuhl" aus "Der Auftrag" von Heiner Müller.
Regie: Hasko Weber, Bühne/Kostüme: Evelyn Hribersek, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Claudia Grottke, Anna Windmüller, Jonas Fürstenau, Lutz Salzmann, Jens Winterstein.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Hasko Webers letzte Inszenierung, die auf nachtkritik.de besprochen wurde, liegt schon einige Zeit zurück: Als Teil des Stammheim-Projektes am Stuttgarter Schauspiel inszenierte er Die dritte Generation nach dem Film von Rainer Werner Fassbinder im Oktober 2007.

 

Kritikenrundschau

Einen "Diskurstheaterabend mit viel Diskurs, viel Individualität, aber wenig Theater" hat Nicole Golombek von den Stuttgarter Nachrichten (9.1.2009) gesehen. Auf dem "düsteren Terrain", das Bühnenbildnerin Hribersek für Hasko Webers "Stalker"-Inszenierung gebaut hat, würden die im Tarkowski-Film kaum unterscheidbaren Figuren zu Menschen. Zudem sei Stalker hier – u.a. durch "heftigst angereicherte" Bibel-Zitate "überdeutlich als Typ mit Erlöserfantasie gezeichnet". So solle es "einen spannungsvollen Dreierdiskurs ergeben über die Wahrheitsansprüche und Rivalitäten von Religion, Wissenschaft und Kunst". Jedoch lege man den Figuren bisweilen "allzu amüsante Zynismen ins Schandmäulchen", "die Individualität, der locker unterhaltsame Ton geht auf Kosten der Strenge und der abstrakt-verzweifelten, meditativen Künstlichkeit der Vorlage". Salzmann als Schriftsteller dominiere dabei den Abend, seine Gegner hingegen seien schwach. Vieles wirke "wie zeitlos schönes Thesengeplapper von Gehirnaristokraten, dem man mit interesselosem Wohlgefallen folgt, mehr nicht".

Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (9.2.2009) ordnet die Theatralisierung von Tarkowskis "Gottsucherfilm" zunächst einer zweiten, nicht primär politischen Programmschiene zu, die es unter Webers Intendanz spätestens "seit seiner Inszenierung von 'Wörter und Körper' im Februar 2007" eben auch gebe: "Weber spürt, drunter geht es nunmal nicht, dem Sinn des Lebens in einer Gesellschaft nach, die schon lange keinen Sinn mehr stiften kann." Auf der Bühne hebe dann aber "ein anstrengendes Diskurstheater an, das punktuell von schweren, altmodischen Verhörscheinwerfern ausgeleuchtet wird." Auch verwechsle Jonas Fürstenau als Stalker "das Fiebrige, das Nervöse, das durch alle Fasern dieses sonderbaren Jüngers fließen müsse", mit "eifernder Starre". Dennoch bringe Hasko Weber "die Gedanken mächtig in Schwung". "Dieser Stuttgarter 'Stalker' ist schön, macht aber verdammt viel Arbeit."

Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (13.2.2009) ist Hubert Spiegel, von Haus aus Literaturkritiker, in Stuttgart ins Theater gegangen. Die Kostümierung des Stalker erinnert ihn an einen Autonomen aus Kreuzberg und weiter stellt er fest: Tarkowskis Film beziehe seine Wirkung aus den langen, langsamen Kamerafahrten, den "betörend schön fotografierten Bildern" einer Industriebrache und dem "Charisma des Hauptdarstellers", aber nichts davon stünde "Hasko Weber zur Verfügung". Der entkleide "die Parabel ihrer Botschaft", und verzichte auf "große apokalyptische Bilder". Stattdessen bürde er den Dialogen "die Dynamik" auf, die der Handlung fehle. Doch die "abgedroschenen Zynismen des Schriftstellers" wie die "pseudo-rationalen Sottisen des Wissenschaftlers" seien bei Tarkowski nur durch die langen Pausen zwischen den Dialogen erträglich. Weber hingegen gebe alles "in einen großen Quarkbeschleuniger" und hülle es in einen "Bleimantel überbordender Sprödigkeit".

 

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