Sigismund im Sigisrausch

von Peter Schneeberger

Wien, 8. Februar 2009. Um Abschied zu nehmen, kehrt Klaus Bachler an seinen Anfang zurück. Mit Calderóns "Tochter der Luft" hat er vor zehn Jahren seine Intendanz als Burgtheaterdirektor begonnen, nun schwenkt er mit dessen "Das Leben ein Traum" in seine Schlussrunde ein. "Wer bin ich?", sind die ersten Worte, die Schauspieler Nicholas Ofczarek ratlos in ein Mikrophon haucht. Nach tatsächlich über hundert Premieren scheint es Bachler noch einmal wissen zu wollen und stellt große Fragen in den Raum.

Von Caldérons Szenerie ist weit und breit nichts zu sehen: Ofczarek sitzt auf einem einfachen Holzstuhl auf der leeren Bühne und beklagt im Flüsterton sein Schicksal. "Im Dreck geboren" sei er, "ein Skelett mit Seele". Der Schmerzensmann hat nicht ganz Unrecht: Von Geburt an lebt Sigismund eingekerkert in einem Turm. "Oh ich Unglücks unglücklichster Sohn. Was tat ich nur, womit hab ich das verdient?"

Verwilderter Sprössling bei Hofe
"Das Leben ein Traum" ist ein schwerer Brocken: Calderón hat sein Stück als philosophische Tragikomödie angelegt. In strengem Versmaß verhandelt der spanische Hofdichter (1600 bis 1681) die heiklen Fragen, ob der Mensch denn nun frei oder doch bloß dem Schicksal unterworfen sei; was ihn denn überhaupt zur Güte verpflichte; und schließlich: Was den Menschen denn erst zum Mensch mache.

Die Handlung im Schnelldurchlauf: Weil die Sterne einst prophezeiten, der polnische Königssohn Sigismund werde sich zu einem skrupellosen Tyrannen entwickeln, ließ ihn sein Vater Basilio gleich in einen Kerker werfen. Doch nun, alt geworden, plagen Basilio Gewissensbisse. Er lässt Sigismund ein Schlafmittel verabreichen und ihn an den Königshof bringen: Benimmt sich sein verwilderter Sprössling ordentlich, soll er herrschen. Erfüllen sich hingegen die düsteren Prophezeiungen, muss er zurück ins Verließ. Immerhin: Sigismunds kurzer Ausflug an den Hof würde diesem nur wie ein kurzer, süßer Traum erscheinen.

Schwindel erregend schrecklich
So spröde Regisseurin Karin Beier den Abend beginnt, so spröde führt sie ihn in die nächste Runde: Die Schauspieler sitzen am Bühnenrand auf Holzstühlen und warten auf ihren Einsatz. Peter Simonischek rollt einen Schubkarren auf die Bühne und überhäuft Sigismund mit Erde, während er von dessen Schwindel erregend schrecklicher Geburt berichtet ("Steine regneten aus Wolken"): Beier setzt das Drama in höchst abstrakte, symbolgeladene Bilder um.

Ein Schauspieler nach dem anderen bringt sich ins Spiel: Leichtfüßig und vagabundierend kommt das Stück in Schwung. Andere Requisiten als markante Kostüme (Maria Roers) benötigt Beier vorerst nicht. König Basilius trägt lässig ein graues T-Shirt, schwarze Lederhandschuhe und Sporenstiefeln: Selbst wenn ein Patriarch wie er nach einem Thronfolger sucht, wird ihm im Verlauf des Abends keiner seiner Vasallen zu widersprechen wagen.

Kein Ertrinken an Trauer
Uraufgeführt 1636 im Madrider Palacio Real, zeigten Wanderbühnen "Das Leben ein Traum" schon bald in halb Europa. Doch auch wenn Beier diese Aufführungstradition gewieft zitiert: "Das Stück ist ein gedankliches Konstrukt", sagte sie in einem Interview vor der Premiere. "Die Behandlung philosophischer Fragen auf dem Theater ist ja so eine Sache. Also versuchen wir, radikal zu sein in der Formenfindung."

Gesagt, getan. Beier legt "Das Leben ein Traum" als Versuchsanordnung an und erfasst damit den Kern des Versdramas: Calderóns Fürstenspiegel ist ein Lehrstück mit einem frühen Kaspar Hauser als Hauptfigur. Die Bühne entpuppt sich als Arena, in deren Zentrum Nicholas Ofczarek gegen seine bösen Triebe kämpft. Auf den Rängen sorgen Musiker für Stimmung, aber auch die Schauspieler haben Geigen in der Hand: Spieler sind sie allesamt, die das Leben anderer orchestrieren.

Derart viel Theorie geht auf Kosten der Emotion. Auch wenn das Ensemble mit hoher Spiellaune zur Sache geht: Von der tiefen Trauer, in der Calderóns Figuren regelrecht ertrinken, ist bei Beier nicht viel zu spüren. Für Rosauras verzweifelte Liebe bringt sie nur wenig Imaginationskraft auf, selbst Ofczareks paranoidem Wahn, nicht mehr zu wissen, was denn nun real sei und was Traum, fehlt es an Kraft und Schrecken. Beiers Inszenierung ist eine Grafik und kein farbenprächtiges Gemälde.

Flotter Cha-cha mit Hitlerbärtchen
Doch plötzlich, als der Abend schon zur trockenen Studie zu werden droht, wirft Beier die Discokugel an, fährt die Partybeleuchtung hoch und gibt eine rauschende Theaterfete, wie sie die Burg seit langem nicht mehr gesehen hat: Sigismunds Machtergreifung inszeniert die Intendantin des Kölner Schauspielhauses als knallbunten Siegesrausch. Aus einer Kanone schießen Konfetti in die Luft, ein weißes Plastikpferd wird auf die Bühne geschoben, plötzlich trägt der Königssohn ein kleines Hitlerbärtchen, reckt die gekränkte Rosaura kampfeslustig wie Jeanne d'Arc ein überdimensionales Schwert in die Luft und tanzen die beiden einen flotten Cha-cha-cha.

Hat Beier auf eine Interpretation des Stoffes weitgehend verzichtet, verkneift sie es sich im letzten Akt glücklicher Weise nicht, Calderóns Happy End mit viel Ironie zu konterkarieren: "Verstand, Vernunft und Geist sind nun gefragt", rezitiert Sigismund brav. Doch lässt Ofczarek keinen Zweifel daran aufkommen, dass Macht allein weder glücklicher noch menschlicher macht: Gelangweilt schubst er sich die Krone vom Kopf. "Wer bin ich?", wiederholt er seinen Eröffnungsmonolog und antwortet wie 120 Minuten zuvor: "Ich weiß es nicht." Um Abschied zu nehmen, kehrt Karin Beier desillusioniert an den Anfang zurück.

 

Das Leben ein Traum
von Pedro Calderón de la Barca
Regie: Karin Beier, Bühne: Thomas Dreißigacker, Kostüme: Maria Roers, Musik: Jörg Gollasch. Mit: Peter Simonischek, Nicholas Ofczarek, Martin Reinke, Johannes Krisch, Myriam Schröder, Christiane von Poelnitz, Michael Wittenborn, Hermann Scheidleder, Johannes Terne.

www.burgtheater.at

Zuletzt inszenierte Karin Beier, Intendantin des Kölner Schauspiels, dort im November 2008 Peer Gynt und im Mai 2008 Das goldene Vlies.

 

Kritikenrundschau

Im österreichischen Standard (10.2.2009) nahm Ronald Pohl Karin Beiers Ausformulierung des "schwarzpädagogischen Barockmärchens" recht ungnädig auf: "Karin Beiers fahrlässiger, weil politisch blinder Burg-Inszenierung sollte man besser gar keinen Glauben schenken (...)." Warum? Weil sie die "Luxusfrage" nach Realität oder Traum der eigenen Existenz "nicht sogleich an die Hirn- und Kognitionsforscher weiterleitet" und dem "Missverständnis" aufsitze, "Politik als Handlungsraum für Machtvollkommenheit" zu begreifen. Sie finde "sichtbar keinen Draht zum Stoff" und probiere "ungefähr zwei Dutzend möglicher 'Haltungen'". Insgesamt eine "schlampige Reminiszenz".

Barbara Petsch
in der Wiener Presse (10.2.2009) hingegen hat eine bewusst "krasse Verdrehung" des Stoffes durch Karin Beier wahrgenommen: Die Regisseurin lasse "das katholische Besserungslehrstück als Spiel der Mächtigen ablaufen": "Sigismund lernt durch üble Erfahrung sich anzupassen. Am Ende zweifelt er an allem, als König aber wird er funktionieren." Das gäbe durchaus "Stoff zum Grübeln": "Sind wir nicht insgeheim auf des armen Sigismunds Seite? War es nicht eine Schweinerei von seinem Vater, den Jungen wegen dummen Aberglaubens einzusperren?" Das Ensemble sei "gut", Beier bemühe sich zumindest die (von Soeren Voima neu gefassten) Calderónschen "Wortkaskaden" in die Nähe von Shakespeare zu rücken und sorge für "Kurzweil: "Beiers Verständnis vom großen Welttheater des Barock hat viel mit Karneval und Trash zu tun. Es scheppert und kracht, es regnet Konfetti, ein weißes Plastikpferd erscheint, es dröhnen die Mikrofone... Das Premierenpublikum, reichlich durchsetzt mit Schauspielern, schien über die Maßen begeistert."

Im Deutschlandradio sagte Bernhard Doppler (MP3 hier) gleich nach Premierenende in der Sendung Fazit (8.2.2009), Karin Beier gelinge es sehr gut, die mathematische Versuchsanordnung, die dieses Stück darstelle, durchzuführen und gleichzeitig das Komödiantische daran auszukosten.
In der Sendung Kultur heute (9.2.2009) am Nachmittag darauf, geht Hartmut Krug (Flash anzuklicken) noch etwas genauer auf die Inszenierung ein und stimmt zu: Karin Beier "konzentriert sich (...) ganz auf die politisch-philosophische Grundfrage des Stückes" und bietet "eine schwungvolle Inszenierung mit einem auf allen Positionen vorzüglich besetztem Ensemble", "die Calderóns auf Gott und das Gute setzendes Stück sehr souverän in unsere skeptische Zeit übersetzt". 

Martin Lhotzky indessen, der Wiener Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.2.2009), fand Beiers Inszenierung insgesamt "verzweifelt um Aktualität bemüht". Die Holzgerüste von Thomas Dreißigacker seien ebenso wie die Schlabberpullover von Maria Roers "ein alter Hut", das durch Oberlicht erzeugte Quadrat, das den Kerkerturm symbolisiere, wäre "dürftig". Man sähe keine Geschichte, sondern nur "Einzelbilder, Musikeinlagen und Tangotänze, halblustige Einfälle", etwa wenn Sigismund den Bürgerkrieg gewinnt und dann "mit Riesensonnenbrille und Hitlerbärtchen" auf einem "Elektroauto" stehe. – "Ein einziges Mal freilich durfte man Sigismunds bösem Blick folgen, wie er seinen Bewacher Clotald anstarrend gefangen hält. Für wenige Sekunden nur lag das Versprechen eines Dramas in der Luft. Es hat getrogen."

In der Süddeutschen Zeitung (10.2.2009) feiert Helmut Schödel den Triumph des Hauptdarstellers: "So wie Nicholas Ofczarek diesen Sigismund spielt, träumt hier das Leid von der Macht, das Opfer von der Tat. Aber Ofczarek zeigt nicht einen dämonischen Menschen, schlimmer: Er spielt ihn, wie Komiker Monster vorführen, einen virtuosen Kinderschreck. Im Turm sitzt der schwarze Mann, und hinter allem steht die Frage: Was kann der Sigismund dafür?" – "Ein Meisterstück, eine Großartigkeit, eine schauspielerische Glanzleistung (...)." Auch der König Basilius des Peter Simonischek sei kein Tyrann. "Karin Beiers 2-Stunden-Version des Stückes zeigt eine Tragikomödie mit zwei Unschuldigen in einer Welt mit zwei Möglichkeiten: herrschen oder leiden."

 

Kommentare  
Beiers Das Leben ein Traum: nicht fertiggeprobt
Ich hatte das Gefühl, die Inszenierung war schlicht nicht fertiggeprobt. Die erste Hälfte fand ich noch stringent, witzig, textgenau, musikalisch - doch spätestens ab der zweiten "Einkerkerung" ist Beier leider nichts mehr zum Stück, zu viel aber zur Bühne eingefallen. Um zu verstecken, dass man zu den Fragen, die das Stück aufwirft, nichts zu sagen hat (und um den Rest des Stückes möglichst schnell hinter sich zu bringen), wird dann halt all das gemacht, was auf der Bühne schon längere Zeit langweilt: Ein bisschen Konvetti, Dico-Kugel und den Text unverständlich und konfus gekürzt wegnuscheln. Da rutscht man in fade Theaterkonventionen von vor zehn Jahren ab und verblödelt nur mehr, nichts sonst. Wie spannend hätte etwa die Figur des Revolutionärs sein können: Das Volk holt den Tyrannen zurück auf den Thron. Aber hier: Nur eine Witzfigur mit blödem Kostüm. Schade. Die Inszenierung hätte genauer, ernsthafter sein müssen (auch im Witz). So - fand ich - den Abend zwar spannend und zerrissen (zwischen tollem Anfang und blödem Ende) aber leider überhaupt nicht gelungen ... wahrscheinlich war zwischen Köln und Wien einfach zu wenig Zeit und Energie für so ein Drama.
Beiers Das Leben ein Traum: eher Wiener Strukturproblem?
Das Problem, dass eine Inszenierung nur angedeutet, skizzenhaft und nicht fertig geprobt erscheint, gab es schon bei der vorhergehenden Premiere "Der Schein trügt". Wenn es also nicht ein unglückseliger Zufall sondern ein Strukturproblem ist, weist das nicht so sehr auf Überlastung oder Zerrissenheit der Intendantin K. Beier zwischen Köln und Wien sondern nach Wien.

Für Strukturprobleme spricht auch die missglückte Premiere von "Macbeth" aufgrund technischer Schwierigkeiten, das schwer gefährdete Gastspiel von "Maria Stuart" aufgrund fast unglaublicher Probleme mit der Requisite etc.

Vielleicht (und da komme ich dann doch der Vermutung meines Vorschreibers sehr nahe) ist eine permanente Anwesenheit, eine gedankliche Konzentration auf einen Ort, eine künstlerische Arbeit, ein Theater doch weitreichender sichtbarer und nötig als uns Erfolg und Engagement hamsternde Intendanten und Dramaturgen einreden möchten.
Beiers Calderón: Geliebte in der Untermaschinerie
Liebe Frau Peschina, Sie sind offenbar eine Verschwörungstheoretikerin, lesen Sie mal meine Werke, und Sie werden lernen, daß das Leben aus vielen kleinen Glücks- oder Unglücksmomenten besteht, zwischen denen meist gar kein Zusammenhang besteht. Es gibt einfach keinen Weltgeist, das ist ja das Teuflische. Wenn dreimal etwas schief geht, muß es nicht an einem einzigen Grund liegen - das ist zwar äußerst schade, aber nun mal leider wahr. Meine Geliebte, die in der Untermaschinerie des Burgtheaters arbeitet, hat mir erzählt, daß Frau Beier ihre Inszenierung genau so gemacht hat wie sie wollte. Und ein Taxifahrer, dessen Bruder in der Kantine des Burgtheaters arbeitet, hat mir berichtet, daß "Der Schein trügt" eine fix und (über)fertig inszenierte Arbeit sei. Schließlich hat meine anglophile Urgroßmutter in der englischen Zeitung "Sun" gelesen, daß der reale Beinahe-Selbstmord des Hamburger Schauspielers Daniel Hoevels beim "Maria Stuart"-Gastspiel einem reinen Versagen der Hamburger Requisite zuzuschreiben ist, nicht aber Klaus Bachler, der zwar zugleich Intendant des Burgtheaters und der Münchner Staatsoper ist, aber - so schwört mein Zahnarzt, der mit ihm befreundet ist, noch nie die Requsitenkiste gastierender Theater auf scharfe und unscharfe Messer durchforstet hat.
Spaß beiseite: Hören Sie einfach auf mit ihrem Geschwätz! Sie wissen wirklich nicht, wovon Sie reden.
Gruß
Karl Popper
Beiers Calderón: letzte Saison
Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass in der letzten Saison Bachler beinahe alle Premieren so aussehen, als hätte man sie nach ein paar Tagen Probenzeit mal eben auf die Bühne gebracht ohne weiter darüber nachzudenken. Vielleicht ist schlicht die Motivation dahin, bei einer "lame duck" als Intendant, aber es entsteht schon der Eindruck, als würde sich niemand mehr kümmern. SchauspielerInnen, Dramaturgie, Regie, Betriebsbüro ... da herrscht ein Chaos und ein lustloses "Dahinwurschteln", wie man in Wien sagt, das ist traurig. Und was der Taxifahrer dazu sagt, ist mir egal. Auf die Außenwirkung kommt es an.
Beiers Calderón: falsch, falsch, falsch
Lieber Karl Popper,

falsch, falsch, falsch! Keine Verschwörung! Nicht einmal in der Theorie!

Dass ein fehlender Entscheidungsträger bei Problemen nachteilig wird (z.B. bei eigentlich erforderlichen, krankheitsbedingten Premiereverschiebungen etwa), entspringt zwar nur meiner Fantasie, ist aber wohl nachvollziehbar.

Dass Geliebte, Zahnärzte, Taxifahrer mit Burgtheaterconnections derzeit alles ganz genau wissen können (wie Sie schreiben), viel besser als das interessierte Publikum, möchte ich Ihnen eigentlich glauben!


Ihre Verteidigung des scheidenden Intendanten Klaus Bachler in Ehren, aber besondere Verbundenheit und Liebe zum Burgtheater signalisiert er auch während seiner Anwesenheit in Wien in Interviews nicht. Er sagt nämlich ganz laut und deutlich...."Und morgen endlich München...."
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