Presseschau vom 11. Februar 2009 – Kritik an der Jury-Auswahl des Berliner Theatertreffens 2009

Für alle da? Von wegen!

Für Peter Michalzik von der Frankfurter Rundschau (11.2.) (2005 bis 2007 selbst tt-Juror) drückt sich im tt-Tableau die "fatale Tendenz" aus, dass "nur noch eine bestimmte Schicht von Theatern und eine ganz bestimmte Ästhetik" für die Auswahl überhaupt in Frage komme: "modern aber nicht zu radikal, zeitgemäß aber doch anschlussfähig, kostspielig und auf gehobenem Niveau". Der Rest, die "Provinz", komme einfach nicht vor, sei offenbar "nicht mehr kunstfähig". Dafür müsste keine siebenköpfige Jury ein Jahr lang herumreisen, "zwei, drei Leute" für die Theaterhauptstädte würden ausreichen. So stelle sich das Theatertreffen "selbst in Frage". Man müsse darüber nachdenken, was man eigentlich unter der "Theaterszene" verstehe, aus der man doch das Bemerkenswerteste herauszufiltern trachte. "Hervorragendes Merkmal der deutschsprachigen Theaterlandschaft ist die Vielfältigkeit der Stadt- und Staatstheater und der freien Szene", die das Theatertreffen jedoch seit Jahren nicht widerspiegele. Da die Einladung trotzdem "immer noch die wichtigste Auszeichnung der Theaterwelt" sei, an der sich alle orientierten, werde sich "der Sog der Metropolen immer weiter verstärken", der Rest "immer überflüssiger werden". Was tun? "Das Theatertreffen in anderen Städten stattfinden lassen? Abschaffen? Die Jury verkleinern, um der Auswahl eine subjektive Handschrift zu geben?" Ansonsten gilt für ihn: "Es ist eine gute Auswahl. Gegen die eingeladenen Produktionen ist an sich wenig zu sagen."

Durchaus anders sieht das Gerhard Stadelmeier in der Frankfurter Allgemeinen (11.2.), dessen Meinung nach die Jury "mehr abseitige 'Projekte' als richtige Dramen eingeladen" habe. Zum Abseitigen zählt er Marthalers Hotel-Performance, "die ironischerweise beim Theatertreffen gar nicht gezeigt werden kann" sowie Schlingensiefs Ruhrtriennale-Oratorium, Meyerhoffs "Privat-Psychiatrie-Sitzung", Mitchells "Wunschkonzert"-Installation, Löschs "Reichen-Beschimpfung (anlässlich von 'Marat')" und auch Kriegenburgs "Kafka-Ausschlachtung". Daneben dürften lediglich Kusejs "Weibtsteufel", Stemanns "Räuber" und die "Möwe" sowie "Hier und jetzt" von Gosch "den dramatischen Restbestand vertreten".


Für Dirk Pilz (Berliner Zeitung, 11.2.) gibt es "kaum Überraschungen". "Erfreulich", aber eben nicht "verblüffend" sei die Einladung Löschs, dessen Theater "in den letzten Jahren derart ideologisch aufgeladen diskutiert" worden sei, "dass die Eingemeindung eines der letzten Außenseiter des deutschsprachigen Theaters längst fällig war". "Absehbar" auch die Einladungen von "Möwe", "Räubern", "Prozess" und "Weibsteufel": Alle Regisseure seien schon einmal dagewesen, gehörten "der mittleren bis älteren Regiegeneration an" und arbeiteten "mit herausragenden Schauspielern auf dem sicheren Boden allgemein anerkannter Ästhetiken". Auch an der Einladung Schlingensiefs habe es "keinen Zweifel" gegeben. Die zweite Gosch-Einladung sei "eher Ehrerweis an seine Regiegroßmeisterschaft", während die Wahl Meyerhoffs einzig seiner Schauspielkunst zu verdanken und Mitchell "bemerkenswerterweise die einzige Regiefrau" sei. Von Marthalers "Waldhaus"-Theater hätte die Jury natürlich gewusst, dass es in Berlin nicht gezeigt werden kann, "bevor sie ins Oberengadin gefahren ist; sie hat sich dennoch die schöne Reise gegönnt". Diese Auswahl gebe die vorherrschende öffentliche Meinung über den "Zustand des deutschsprachigen Theaters" wieder: "In der Provinz wird halt in der Regel Provinztheater gemacht, gutes Theater ist meist solches mit guten Schauspielern und die jüngere Regiegeneration ist vor allem jung. Gefragt ist eben, was durchgesetzt ist".

Dass der Marthaler-Abend ein "reizender Sonderling ist und die Jury bestimmt einen exquisiten Ausflug ins schöne Engadin hatte", glaubt auch Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (11.2.) "unbesehen", hält die Einladung allerdings für "fragwürdigen Luxus". Schlingensiefs "Kirche der Angst" hat für sie das Potential, das Theatertreffen "zur Pilgerstätte" zu machen. Berechtigt findet sie auch beide Gosch-Einladungen: die "Möwe" "von großer, berührender Wahrhaftigkeit", "Hier und Jetzt" mit einem "fulminanten Schauspielensemble". Außerdem komme "endlich" Lösch "zu Ehren – Zeit wird's". Stemanns "Räuber" seien "kein Muss, aber brillant gemacht und gedacht", ein "Must-have" hingegen Kriegenburgs "Der Prozess", "unübersehbar virtuos und das Bühnenbild: genial". Überrascht zeigt sich Dössel von den Einladungen Mitchells und Meyerhoffs. Von Kusej erhofft sie sich die Errettung des "Weibsteufel" aus dem Bäuerlich-Volksstückhaften in die Zeitgenossenschaft und bilanziert angesichts dieser Auswahl, die "Gegenwartsbespiegelung" sei momentan "wohl eher von Regisseuren zu erwarten als von neuen Stücken".

Katrin Bettina Müller geht die Auswahl "zu Herzen". Sie gleiche "einem kleinen Triumph über die Angst", schreibt sie in der taz (11.2.). Nicht nur ob der zwei eingeladenen Inszenierungen von Gosch, der "umso berührender" inszeniere, "je älter er wird und je länger er seiner Krankheit standhält", sondern auch wegen Schlingensiefs "Kirche der Angst". Bei beiden würde Theater "zu einer Art Bekenntnis und Liebeserklärung der Schauspieler" an ihre Regisseure und deren Theaterauffassung – mögen diese "noch so verschieden scheinen". Sie sieht auch eine Parallele zu Meyerhoff Soloperformances, in denen er "extrem autobiografisch" werde, "mit einer großen Portion Eigenliebe und Narzissmus auf die Bühne" komme und das Theater dabei "auch in einen neuen Kommunikationsraum" verwandle. Seine Einladung verspreche ebenso "die Entdeckung einer neuen Stimme" wie die von Mitchell. Im Gegensatz zu den anderen Kritikern findet Müller, dass es "lange nicht mehr so viel Zeichen für Aufbruch" gegeben habe: "Nur liegen sie mehr in der Emanzipation von Vorhersehbarem und der Entwicklung der Regisseure als in neuen Namen".

"Zwei waren gesetzt", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (11.2.). "Wer auch nur einen Funken Theatergefühl im Leib hat", dem sei klar gewesen, dass Schlingensiefs "erschütternde, befreiende Performance-Messe" eingeladen würde. Auch führe "kein Weg an Jürgen Gosch" vorbei, denn: "Wann zuletzt hat eine Aufführung eine ganze Stadt derart in ihren Bann gezogen!" Gerechnet hat Schaper auch mit Löschs "Marat": "Thesentheater. Krisentheater." Es sei "die mittlere Regisseursgeneration", die diesmal den Ton angebe. "Kaum Überraschungen also", lautet auch Schapers Fazit, "aber alles andere wäre nach Lage der Dinge eher eine böse Überraschung gewesen".

Michael Laages freut sich in der "Fazit"-Sendung vom Deutschlandradio (9.2.) über die mutigen Entscheidungen für Mitchell und Lösch. Auch sonst ist er nicht unzufrieden, vermisst aber vor allem junge Autoren und auch "ein bisschen mehr formales Experiment". Außerdem seien es meist Abende, "die keine Methode als Neuerung kenntlich machen". Der Jury hat Laages außerdem angemerkt, dass "zumindest zwei Mitglieder", die Redakteure von Focus und Spiegel, "nicht immer über Theater schreiben" ("in diesen Blättern, muss man ja ehrlich sagen, gibt es so was wie eine reguläre, kontinuierliche Theaterkritik eher nicht, sie sind aber dabei, sind kluge Leute"). Und ein wenig habe man bei diesen "Jurierungen" schon "ans Spektakelige" gedacht.

Für den Schweizer Kultursender DRS2 wurde Dagmar Walser zum tt-Tableau befragt, das für sie ebensowenig überraschend ist, wohl aber eine "interessante, eine gute Auswahl" darstellt, wobei Marthaler hier ihrer Meinung nach eher mit einem "Ehren-Oscar" bedacht werde. Gefragt wird Walser auch nach der "alternativen Auswahl" von nachtkritik.de, die sie – "mit der ganzen Ironie, die sie in sich trägt" – "im Ansatz" durchaus als eine Kritik an der offiziellen versteht, "zumindest ganz klar als eine Aufforderung zur Diskussion". nachtkritik sei "pro-aktiv", gehe nach vorn und sage: "Wir können das auch". Dass dort etwa eine kleine Inszenierung aus Biel/Solothurn neben großen stehe, liege vor allem am Verfahren (Korrespondenten schlagen vor, LeserInnen voten). Deswegen sei diese Schlussauswahl anders zu betrachten; sie erzähle v.a. etwas darüber, welche Künstler welche Lobby hätten, weil das Ergebnis nicht aus einer "Diskussion, die aus dem Überblick heraus geführt wurde", entstanden sei. Bei der tt-Debatte geht es ihrer Meinung nach nicht nur um die im Theater (ob seiner Flüchtigkeit und lokalen Verwurzelung) schwer zu führende "Qualitätsdiskussion", sondern eben auch um "Meinungsmacht" und "Definitionsansprüche". Dahinter stehe die Frage: "Wer hat das Recht zu sagen, was jetzt Qualität ist, wer die besten sind."

Über Lösch habe man lange diskutiert, so der derzeitige tt-Juror Stefan Keim gegenüber Karin Fischer vom Deutschlandradio (Kultur heute, 10.2.): Ob man "diesen groben und sehr direkten Lösch" oder die "etwas feinere Arbeit 'Manderlay'" einladen solle. Doch der "Marat" sei "eben noch ein bisschen kraftvoller" und "so etwas ist wie eine Neuentdeckung des Agitproptheaters". Meyerhoffs Selbstdarstellungsstück sei "eine unglaublich lebenspralle und wahnsinnig witzige Geschichte", bei der die Jury "Tränen gelacht" habe. Bei Schlingensief komme man "ganz nah an das ran, was es eben wirklich heißt zu leben und zu überleben", bei Mitchell hingegen gebe es "keine Hoffnung mehr". Diese Arbeit sei "ästhetisch so unglaublich reizvoll", weil man hier sehe, "wie ein Film auf der Bühne ganz genau choreographiert hergestellt wird" – natürlich habe man nach Aufführungen gesucht, "die Impulse geben auch ästhetischer Natur", eben Schlingensief oder Mitchell. Gosch hingegen sei "der große Schauspieler-Regisseur", in dessen Inszenierungen "das Leben pulsiert, in dem die Schauspieler so in die Tiefen hineingehen, wie man es selten sieht". Die Jury habe "diesmal eigentlich sehr genau nach dem Ungewöhnlichen geschaut" und sich "auch viel in der freien Szene bewegt". So fehle ihm "diesmal wirklich nichts", weil das, was "als klassisches großes Theater" gelte, z.B. Kriegenburgs "Prozess", "so originell" sei, "dass man es einfach so noch nicht oft gesehen hat".

 

 

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