Nackte Gefühle im Testfeld

von Ralph Gambihler

Leipzig, 12. Februar 2009. Eugene O'Neill, der psychisch labile Literaturnobelpreisträger des Jahres 1936, notierte in der Widmung zu seinem Familienhölledrama "Eines langen Tages Reise in die Nacht", es sei "geboren aus frühem Schmerz, geschrieben mit Blut und Tränen". So viel Pathos war selbst 1940, im Jahr der Entstehung, nicht alltäglich. Der Verfasser, von einem beginnenden Nervenleiden bereits gezeichnet, war getrieben von der Idee, dass sich familiäre Tragödien schicksalhaft von einer Generation zur nächsten vererben. Der Gedanke lag nahe. Er wurzelte tief in der eigenen Tragödie, und die wird in diesem unverhüllt autobiografischen Stück mit viel Wortaufwand ausgebreitet.

"Eines langen Tages Reise in die Nacht" handelt, kurz gesagt, von einer Katastrophe, die morgens beginnt und um Mitternacht endet. Die morbide Familie des berühmten Schmierendarstellers, Trinkers und Geizhalses James Tyrone implodiert innerhalb von wenigen Stunden. O'Neill hat dieses Stück, das im Kern um das Nichtbewältigen-Können einer schuldhaften Vergangenheit kreist, als großes Enthüllungs-Psychodram geschrieben, geschult an seinen Vorbildern Strindberg und Ibsen, gespickt mit seitenlangen Regieanweisungen, in denen er sogar die Form einer Nase vermerkt wird.

Der Regisseur erklärt sich
Mit den Mühen der Enthüllung hält sich Sebastian Hartmann (Regie) in seiner furiosen Inszenierung am Centraltheater Leipzig keine 60 Sekunden auf. Er hat das Stück radikal auf seinen emotionalen Kern reduziert. Keine Figur muss die Form wahren, um sie bühnenwirksam zu verlieren. Keine bürgerliche Fassade muss einstürzen, keine Taktgefühl zerfallen. Hier gibt es nur eins: die nackte Emotion, roh, rücksichtslos und gespenstisch, entschlüpft aus "diesem verdammten Scheißunglück".

Sebastian Hartmann, nach kontrovers verlaufenden Publikumsgesprächen (wir berichteten) zu ersten Konzessionen in Richtung Saal bereit, geht diesmal auf Nummer sicher. Er lässt vorab eine erläuternde "Reise-Notiz" verteilen. Daraus geht hervor, dass nicht das Säurebad von Dramaturgie und Regie zu diesem Ergebnis führte, sondern der Probenprozess: "Entscheidend in der Auseinandersetzung mit dem Stück war, wie sich die Emotionen der Schauspieler entwickelten: Neid, Liebe, Hass, Misstrauen. In der Regel steigen die Schauspieler in eine Szene ein und werden nach zwei, drei Minuten vom Regisseur unterbrochen, um von ihm Anweisungen zu bekommen. Diesmal spielten sie ununterbrochen, manchmal über zwei Stunden, ehe der Regisseur die Sequenz mit ihnen diskutierte, Vorschläge machte."

Happening reloaded
Der Regisseur als Moderator, der das liebe Schlachtfeld den Darstellern überlässt: Das war einmal eine große Sache, damals in den Theaterhappenings der 70er Jahre, die selbst hinter dem Regiepult deformierende Mächte vermuteten. Die neue Wahrhaftigkeit wurde zwar bisweilen mit Plumpheit oder Albernheit bezahlt. Grundsätzlich dumm war sie aber nicht, und wenn man nun sieht, was in Leipzig daraus geworden ist, muss man sagen: Oh ja! Da geht noch was!

Zumindest beim Schmerzensmann O'Neill. Sein Trauerspiel scheint wie gemacht für ein freies, vor allem schlackenfreies Remake. Erstaunlich, wie dieser verheerende Augusttag im Sommerhaus der Tyrones sofort brutal klar wird und sich dennoch dem sortierenden Blick verweigert. Das Grundmuster ist aber erkennbar: Wo die Figuren in der Vorlage die Wahrheit in Schach zu halten versuchen und am Ende scheitern, bekriegen und traktieren sie sich nun rücksichtslos damit. Das familiäre Trümmerfeld dieses Abends ist auch ein Trümmerfeld der gezielten Enthemmung und Entgleisung. Wer so inszeniert, hat der Welt den Rückzug der Konvention und die Dynamik der Entfesselung abgeschaut und das Individuum in aggressiver Verzweiflung entdeckt.

Crash mit letzten Gespenstern
Ein Testfeld also, ein Blick ins Innerste, ein Crash mit letzten Gespenstern. O'Neillsche Charaktere werden darin nicht mehr sichtbar. In den emotionalen Extremkreisen, die auf Hildegard Altmeyers Bühne vor roten Samtvorhängen ausgeschritten werden, haben sie sich eher in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn Anita Vulesicas die Mutter und rückfällige Morphinistin Mary als höhnische Furie zeigt, ist die fragile Dame mit den hypernervös flatternden Händen weit weg. Peter René Lüdicke macht aus dem schrecklich robusten Säufergatten James ein Säuferwrack mit benebelten, gewalttätigen und weichen Seiten. Guido Lamprecht spielt als der ältere Sohn Jamie einen großen Aggressiven, in dem ein großer Lieber steckt. Maxmilian Brauer gibt den jüngeren, schwindsüchtigen Brüder Edmund heftig ringend, mal starrstill, mal mit dem Vater schlägernd. Lassen können sie alle nicht voneinander. Nur ohne Zeugen wollen sie am Ende sein: "Wir würden jetzt gerne allein weitermachen!"

 

Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O'Neill, deutsch von Michael Walter
Regie: Sebastian Hartmann, Ausstattung: Hildegard Altmeyer.
Mit: Maximilian Brauer, Guido Lambrecht, Peter René Lüdicke, Henrike von Kuick, Anita Vulesica.

www.centraltheater-leipzig.de


Mehr zu Leipzig? Nach den ersten 100 Tagen seiner Intendanz berief Sebastian Hartmann im Herbst 2008 eine Zuschauerkonferenz ein. Denn er hatte mit seinen ersten Inszenierungen am in Centraltheater umbenannten Schaupielhaus – Matthäuspassion, Macbeth und Publikumsbeschimpfung – sein Theatervolk arg verstört, dem er sogar begleitende Programmhefte zu den Aufführungen verwehrte.

 

Kritikenrundschau

"Alles, was in dem von rotem Theatersamtvorhängen eingefassten Raum passiert, ist in einen wohlkomponierten Spannungsbogen gefügt und aus der Logik des Augenblick begründet", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (14.2.2009), für den Hartmann in Leipzig das "kleine Wunder" vollbracht hat, sich mit dieser Inszenierung fortzubewegen (und auf seine Zuschauer zu), ohne dabei "schlaffe Kompromisse" einzugehen oder einen "egozentrischen Olymp-Rückzug" zu exekutieren. Stattdessen knalle er mit diesem "Seelendrama", das auch ein "Theaterdrama" sei, sein Intendanten-Dilemma einfach mit auf die Bühne. Denn die im Stück verhandelte Geschichte des künstlerisch am eigenen Erfolg gescheiterten Tyrone und seiner Söhne böte viel Raum für Anspielungen. Dass aber Hartmanns Rechnung tatsächlich so großartig aufgeht, verdankt er nach Ansicht Seidlers hauptsächlich seinen Schauspielerin. "Es ist das Spiel, das diesen Abend zum Schatz macht, dieses durchscheinende, knallwache, entfesselte und durch die Theatersituation immer wieder eingefangene Spiel, dessen hohe Qualen und tiefe Freuden augenblicklich zu nichts zerkrümeln können, das dabei aber nichts an Pathos und Lust, vielleicht auch noch nicht einmal etwas an Wahrheit einbüßt."

"Mutig" und sehr beeindruckend findet Gisela Hoyer in der Leipziger Volkszeitung (14.2.2009) den Abend und protokolliert auch allerlei Jubel um sie herum. Sebastian Hartmann habe für diese Inszenierung "zugunsten größtmöglicher Intimität und Nähe auf wallende Nebel, aufwändige Lichteffekte, dröhnende Beats, Video-Assoziationen und seine berühmten Bilder verzichtet" und triumphiere hier nun auf ganz andere Weise, "aber einmal mehr dank Intensität und Genauigkeit." Intensität und Genauigkeit ergeben sich für die Kritikerin vor allem aus der "schönen Idee", sich dem Stück und seinen Themen auf der Konversationsebene zu nähern, und zwar ebenso respektvoll wie emanzipiert. Dass der Abend dann in derartigem Jubel endete, ist aus Hoyers Sicht aber auch den "wunderbaren Schauspielern" geschuldet.

"Wer hätte gedacht, dass dem Leipziger Centraltheater ausgerechnet mit dieser
traurigen Travestie des klassischen Künstlerdramas nun ein entscheidender
Schritt zur Verständigung mit seinem Publikum gelingen würde?" freut sich Andreas Hillger in der Mitteldeutschen Zeitung (20.2.2009) Und da Hartmann zudem die Spitzen seines Ensembles für diese Expedition ins Ungewisse versammeln würde, sein ein wahres Schauspieler-Fest zu bestaunen.

 

 

 

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