Eine deutsche Frau

von Georg Kasch

München, 6. Juni 2007. Maria Braun steigt auf. "Eine Reise ins Glück" tönt es aus den Boxen der Münchner Kammerspiele. Der Schlager beschwört das Wunschkonzert, das die junge Frau längst selbst in die Hand genommen hat. Als "Mata Hari des Wirtschaftswunders" versteht sie zwar wenig von Buchhaltung, aber viel von den Bedürfnissen der deutschen Frau.

Und weil diese nach Nylonstrümpfen verlangt, füllt sich das Leben der frischgebackenen Geschäftsfrau mit den schönen Dingen des aufkeimenden Wirtschaftswunders: Kühlschrank, Radio, Fernseher. Im Kreis dreht sich auf der Bühne von Nina Wetzel das Einfamilienhaus, eine schöne Hülle, die ebenso leer ist wie Maria. Denn die Liebe außerhalb jeder ökonomischen Abhängigkeiten, die sie imaginiert, gibt es nicht.

Eine politisch-ökonomische Analyse

Dreißig Jahre nach der Gründung der BRD fasste Rainer Werner Fassbinders Film "Die Ehe der Maria Braun" präzise die Stimmung der Jahre zwischen Kriegsende und Fußball-WM zusammen. Maria steht dabei für eine ganze Generation von Frauen: Sie heiratet Hermann Braun im Krieg, sie kämpft sich auf dem Schwarzmarkt durch, arbeitet in einem Club für GIs, beginnt ein Verhältnis mit dem schwarzen Soldaten Bill. Als sie vom heimkommenden Hermann überrascht werden, erschlägt sie den Lover. Hermann geht an ihrer Stelle ins Gefängnis, während sie als Referentin und Geliebte des Strumpffabrikanten Oswald Karriere macht, um für die erwartete Rückkehr ihres Mannes eine gesicherte Zukunft aufzubauen.

Nachdem Hermann entlassen wird, verschwindet er und kehrt erst nach dem Tod Oswalds zurück. Gemeinsam erben sie dessen Vermögen. Jetzt erfährt Maria, dass sie, Königin des Wirtschaftswunders, selbst nichts weiter war als Ware und Vertragsgegenstand. Fassbinders kommerziell erfolgreichster und international wirksamster Film ist dabei keine bloße Geschichtsstunde, sondern eine politisch-ökonomische Analyse im Geist der Siebziger. Vordergründig erzählte er sie als Melodram in der Tradition Douglas Sircks, verhinderte aber Identifikation mit der Titelheldin durch irritierende Kamerabewegungen und Hintergrundgeräusche.

Mehr als Realismus

Mit dem Drehbuch von Peter Märthesheimer und Pea Fröhlich übernimmt Thomas Ostermeier in seiner Inszenierung an den Münchner Kammerspielen nun auch die Tonspur: Adenauers Reden gegen und für eine Remilitarisierung Deutschlands, Presslufthammergeräusche, Herbert Zimmermanns WM-Reportage. Zügig lässt er die Szenen vorübergleiten und entfaltet dabei seinen gewohnten Realismus. Sowohl Wetzels saalartiger Raum voller Sessel – durch gerundete Träger gegliedert und von silbergrauen Vorhängen begrenzt – wie Ulrike Gutbrods Kostüme zitieren den Stil der Fünfziger. Schlager-, Heimatfilm- und Werbezitate erinnern an die imaginierte heile Welt der Zeit. Merkwürdig distanziert und schnell läuft das auf der Bühne ab – ein Déjà-vu-Erlebnis zum Film im Zeitraffer.

Das wäre dann doch etwas banal, wenn Ostermeier diesen Realismus nicht immer wieder mit einem klaren Bekenntnis zur Eigendynamik der Bühne konfrontieren würde. Szenenanweisungen werden eingelesen, eine Nebelmaschine auf der Bühne eingesetzt, Marias Mantel wird zum Arztkittel. In einer Restaurantszene heben die Kellner nach dem ersten Gang die beiden Teller aus, lassen sie wie in einem Jonglage-Trick durch aller Hände gleiten, um sie schließlich als zweiten Gang vor die Speisenden zu platzieren.

Ebenso fließend wie diese Szenen sind die Rollen der Männer. Steven Scharf, Jean-Pierre Cornu, Hans Kremer und Bernd Moss wechseln fliegend die Kostüme und Geschlechter, während Brigitte Hobmeier ausschließlich Maria bleibt, die sie als eine Fantasie über Hanna Schygulla – Fassbinders Maria – anlegt. Sie trägt die immergleiche Pudelfrisur, öffnet ihr Haar lasziv; ihr Schlafzimmerblick und ihre Gesten sind dabei die einer Diva und einer Hure – sie ist Schmerzensmutter mit kindlicher Anmut und bleibt doch stets die Unberührbare.

Ostermeier entdeckt viel Witz in Fassbinders Vorlage, kostet die Travestie-Nummern aus, inszeniert absurdes Ballett. Gerade hier, wo er sich vom Vorbild zu entfernen scheint, ist er ganz nah bei ihm. Denn durch diesen Witz, durch die offenen theatralen Mittel gelingt ihm jener Illusionsbruch, der als Kopie der fassbinderschen Inszenierungsweise nicht wirken wollte.

Doch wozu das alles? Ist Fassbinder, ist "Maria Braun" heute noch relevant? Zu Beginn lässt Ostermeier seine Schauspieler auf Dias und Filmausschnitte blicken. Marschierende BDM-Mädchen, verzückt dem Führer zujubelnde Frauen, Briefe von Verehrerinnen an Hitler werden vorgetragen. Maria war wahrscheinlich eine von ihnen, wie unsere Mütter und Großmütter. Ihre Art und Weise, mit der Vergangenheit umzugehen, ihre Verdrängungen und ihr Pragmatismus, prägten das Land – bis heute.

 

Die Ehe der Maria Braun
nach Fassbinder und Märtesheimer/Fröhlich
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne: Nina Wetzel, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Nils Ostendorf.
Mit: Jean-Pierre Cornu, Brigitte Hobmeier, Hans Kremer, Bernd Moss, Steven Scharf.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Christine Diller hat eine "schöne, stimmige, seelenvolle Inszenierung" gesehen. Die Liebes- und Sehnsuchtsgeschichte sei bei Ostermeier noch deutlicher als bei Fassbinder in einen "politischen Rahmen" gestellt, schreibt sie im Münchner Merkur (8.6.2007). Und weil die Besetzung "trickreich" sei, gelinge es dem Regisseur, die Zentralfigur auch "in der Totalen des Theaters" nicht aus dem Fokus zu verlieren. Brigitte Hobmeier spiele die Maria Braun dabei wunderbar mit "hochnäsiger Laszivität". Alles in allem, die Kritikerin war offensichtlich hingerissen, gebe es eine „berückende Variation“ von Fassbinders Film zu erleben.

Eva-Elisabeth Fischer zeigt sich nicht weniger beeindruckt. In der Süddeutschen Zeitung (8.6.2007) vermeldet sie, Ostermeier habe den Abend als "theatrales Dreischichtenmodell“ gestaltet: "als Komödie, als politisch-historisches Lehrstück und als Hommage an den Regisseur Rainer Werner Fassbinder". Zunächst unterrichtet sie recht ausführlich den Leser über die "Ambivalenzen in sexuellen wie gesellschaftlichen Rollenzuweisungen" der Filmvorlage, um darauf Brigitte Hobmeier "scharf konturierte Sinnlichkeit" zu attestieren, die in jedem Moment "gefühlsecht" sei; Hobmeier vereine dabei in sich "ganz selbstverständlich Männliches und Weibliches". Ein "Gegenprinzip zur Kindfrau Lulu". Überdies habe man "gut zu lachen", weil Ostermeier nie anklage, sondern stets "wunderleicht" zu Werke gehe.

Laut Michael Stadler in der Münchner Abendzeitung (8.6.2007) ist Ostermeier bei einer "burlesken Travestie-Show" gelandet, in der die Identitäten zerfließen, die Genre-Grenzen übersprungen werden und blitzschnell vom Klamauk ins Tragödienfach gewechselt wird. Brigitte Hobmeier in der Titelrolle weiß auch Stadler zu loben, allerdings deutlich zurückhaltender: "Beherzt in den Emotionen" sei sie. Entscheidender sei aber, so wird uns nahegelegt, dass der Abend die Groß-Frage aufwerfe, an was man sich eigentlich "in einer Welt ohne Gewissheiten" orientieren könne. Und diese Frage werde "großartig ausgespielt", sowohl komisch als auch tragisch und immer "nah am wackligen Puls unserer Zeit".

Eine "überraschend witzge 50er-Jahre-Show" hat dagegen Alexander Altmann gesehen, nachzulesen in der tz (8.6.2007). Der Abend gleiche über weite Strecken einer "Travestie-Comedy, die beim Publikum erwartungsgemäß Heiterkeitsausbrüche auslöst". Thomas Ostermeier habe eine "teils funkelnde, teils auch nur kabarettistische Komödie über die Austauschbarkeit des Menschen in der Warenwelt" inszeniert. Hobmeier gelinge es dabei lediglich "streckenweise", das "Drama der emanzipierten Frau vorzuführen".

Mounia Meiborg erinnert die "etwas atemlose Aneinanderreihung von Szenen" an eine Revue. "An den besten Stellen", schreibt sie in der Berliner Zeitung (9.6.2007), "entsteht aus der Umdeutung der Bühnensituation ganz selbstverständlich die folgende Szene – wie bei einem unerwarteten Schnitt Fassbinders. In weniger gelungenen Momenten wirkt die Theaterhaftigkeit bemüht und die Filmreminiszenzen abgekupfert." Offenbar, so vermutet Meiborg, "ist es Ostermeier schwer gefallen, sich vom Original zu lösen und den so demonstrativ vorgeführten Theatermitteln zu vertrauen." Lob aber auch von ihr für Hobmeier: Sie gebe die Maria Braun "als widersprüchliche Frau und virtuose Schauspielerin".

Für Teresa Grenzmann von der FAZ (9.6.2007) ist es ein "Glücksfall", dass sich Ostermeier und Fassbinder in Maria Braun, "dieser problematischen, hemmungslosen Frau", treffen. Ostermeier habe die Filmvorlage in ein "theaterhandwerklich fröhlich loderndes Kammerspiel" verwandelt. Im Zentrum "glänzt Brigitte Hobmeier als Maria Braun in einem lasziven Laissez-faire, mal süffisant, mal ernst und immer schön". Vergnügt spiele Ostermeier dabei "mit den beschränkten Mitteln des Theaters, während er Fassbinders Prinzip des szenischen Zeitraffens (...) in wildem Tempo überhöht". Der Abend sei so auch eine "Hommage ans handgemachte Theater".

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