Bomben, Bauernfänger und Bananen

von Matthias Schmidt

Dresden, 14. Februar 2009. Am "Goldenen Reiter" in der Dresdener Innenstadt herrscht Karnevalsstimmung. Eine Truppe mit der Kennung "Jesus verändert" tanzt und trommelt Samba. Direkt daneben ein Hauch von Love Parade: der DGB hat einen LKW mit DJ vorgefahren. Weshalb Claudia Roth von den Grünen ihre Betroffenheit sehr laut in die Fernsehkameras sprechen muss. Franz Müntefering und Gregor Gysi werden noch erwartet. Ein Fahnenmeer wogt. "Geh denken" heißt die Großveranstaltung, ein "Zeichen gegen Rechts" - eine Gegenmaßnahme.

Es geht also um das Gedenken: an eine der größten und symbolträchtigsten Kriegshandlungen der Geschichte – die Zerstörung Dresdens durch alliierte Bomber vor 64 Jahren. Alle wollen irgendwie daran erinnern, an diesem Tag in dieser Stadt.

Invasion der Zeichensetzer

Die Szenerie ist dementsprechend bizarr. Man gedenkt der Opfer von Luftangriffen, während Hubschrauber den Himmel über Dresden kontrollieren. In der Neustadt randalieren vermummte "Alternative". Vom Hauptbahnhof ziehen Tausende Rechte aus halb Europa schweigend in Richtung Altstadt, begleitet von Polizeihundertschaften in Kampfausrüstung. Vor dem Schauspielhaus stehen Wasserwerfer und Panzerwagen. Entsetzliche Bilder, nicht nur für die Überlebenden vom Februar 1945.

Die Dresdner indes bleiben unter sich: die Oberbürgermeisterin weiht mit rund 200 Zuschauern auf dem Altmarkt eine Gedenkschrift ein. Ein paar Studenten machen sich mit dem Slogan "Oma, Opa und Hans-Peter, keine Opfer, sondern Täter!" unbeliebt. Es tobt der Kampf um die Deutungshoheit. Eine regelrechte Invasion von Zeichensetzern ist über die Stadt gekommen und macht nahezu unmöglich, worum es eigentlich geht: Gedenken, Trauern, Vergeben.

An genau diesem Punkt setzen Volker Lösch und Chefdramaturg Stefan Schnabel mit der "Wunde Dresden" an, einer Text-Collage, die untersuchen will, warum das Gedenken in Dresden bis heute so schwer ist, warum es alle für ihre Zwecke nutzen und daher die Wunde einfach nicht heilen kann. In der Hauptrolle zu sehen ist einmal mehr der Dresdner Bürgerchor, mit dem Lösch bereits mehrfach gearbeitet hat. 2005 machten sie Schlagzeilen, als Sabine Christiansen ein Aufführungsverbot der "Weber" von Gerhart Hauptmann erwirkte. Die Bürger hatten die Moderatorin (und nicht nur sie) – sagen wir – herabwürdigend behandelt.

Das deutsche Florenz, eine Nazihochburg

Dieses Mal spielt der Chor den Dresdner an sich. Anfangs werden Texte vorgetragen, die den Stolz auf das "deutsche Florenz" zum Ausdruck bringen, und gleich darauf solche, die den Dresdner als nazitreuen Kleinbürger zeigen. Eine Frau schreibt dem Führer einen Brief, in dem sie sich ein Kind von ihm wünscht. Die Juden werden vom Kurbetrieb ausgeschlossen und am Theater vorauseilend "Kunst für das Reich" zelebriert. Weshalb Goebbels die erste Reichstheaterwoche eben in Dresden eröffnete. Lösch entlarvt die Legende von der "Unschuld" der Stadt, in dem er zeigt, was sie war: eine Nazihochburg.

Gleichzeitig aber, und hier beginnt das Verwirrende, zieht er alles ins Ironische. Dass Hitler und Goebbels als komische Vögel auftreten, ist en vogue und mag als plakative Zuspitzung durchgehen. Dass der alliierte Oberbefehlshaber, der die Bombardierung lobt und preist, als dumpfe Karikatur über die Bühne gockelt, wirkt hingegen wie eine Anbiederung an das Erinnern in Schwarz und Weiß. Ging es nicht um die Komplexität der Vorgänge? Haben wir nicht eben gelernt, dass es Gründe gab?

Im Laufe des Abends verliert die Argumentation zunehmend an Stärke. Beeindruckt der Chor zunächst noch mit dem (im Dunklen gesprochenen) Bericht eines Zeitzeugen über die Bombennacht, sorgt die Kostümidee mit den sich wenden lassenden Bademänteln und Armbinden der Bürger (aus braun wird in Sekundenschnelle weiß, aus dem Hakenkreuz die DDR-Fahne) für wissendes Schmunzeln im Publikum, so gerät die Handlung nach der Wende immer mehr zu einer bunten Revue.

Gebrüllte Opferzahlen

Nun liegen die Dresdner nicht mehr Hitler und Goebbels, sondern eben Helmut Kohl und Hans-Olaf Henkel zu Füßen. Die werden als putzige Bauernfänger mit Bananenröckchen vorgeführt, umschranzt einmal mehr von den Dresdnern, die nun natürlich das DDR-Emblem von ihren Armbinden abkratzen.

Hier wird weggelacht, was aufschlussreich hätte sein können. Hier will Lösch zuviel, will alles und jeden auf den Arm nehmen. Oder etwa provozieren? Funktioniert nicht, leider. Manches hätte besser ein paar Ecken weiter gepasst, im Kabarett "Die Herkuleskeule". Zudem stören die immer wieder eingestreuten Stückfragmente – von Hauptmann über Gryphius bis zum "Faust" – die Abläufe mehr, als sie erhellen. Das mag als Leseübung dramaturgisch passen, auf der Bühne bremst es aus, was die größte Stärke des Abends hätte sein können.

Der Chor der Dresdner Bürger allein hätte genügt, um sich ein Bild zu machen vom Entstehen der Wunde Dresden. Erst am Ende, als die Chor-Bürger die echte Bürgerwut über die jüngst von Historikern vorgenommene Reduzierung der Opferzahl in den Zuschauerraum brüllen, ist die Brisanz des Themas wieder präsent. Der Dresdner ist eben auch stolz auf "die Wunde Dresden". Freundlicher Applaus für den tollen Chor und einen letztlich zu harmlosen Abend.

 

Die Wunde Dresden
eine Untersuchung von Volker Lösch und Stefan Schnabel
Regie: Volker Lösch, Bühne: Cary Gayler, Kostüm: Carola Reuther, Leitung der Chöre: Bernd Freytag, Musikalische Einstudierung: Anne Horenburg. Mit: Marlène Meyer-Dunker, Karina Plachetka, Kai Roloff, Martin Reik und dem Dresdner Bürgerchor.

www. staatsschauspiel-dresden


Mehr lesen zu Volker Lösch? Im Januar 2009 kam in Stuttgart Volker Löschs apokalyptischer Hamlet heraus. Löschs umkämpfte Peter-Weiss-Variation Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?, hatte im Oktober 2008 in Hamburg Premiere und wurde soeben zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

 

Kritikenrundschau

In der Welt (16.2.2009) schreibt Reinhard Wengierek, dass es für das Theater eine echte Herausforderung sei, wenn ohnehin die ganze Stadt als "Bühne für aufmarschierende konträre Geschichtsauffassungen" funktioniere. Der "Spiegel der Kunst", den das Staatsschauspiel diesem "Wirklichkeitsdrama" nun vorhalte, sei "eine Collage aus Zitaten", ein "Historical", das "beständig die blinden Flecken der Verdrängung, mithin das Böse, einkreist": das einstige wie auch heutige "Braun im Barock". Erzählt werde das auf der Bühne recht "unübersichtlich", jedoch gäbe es neben den "blassen" auch "überrumpelnd suggestive" Bilder. Der Bürgerchor "schleudere" das "Gros der massenhaften Textfetzen" "kraftvoll" über die Rampe und halte die Sache einigermaßen zusammen. Die Inszenierung sei "brennend aktuell", reiche jedoch an Volker Löschs "so poetisch packende wie politisch provokante" frühere Inszenierungen nicht heran.

Ähnlich Christine Diller in der Frankfurter Rundschau (16.2.2009): Volker Lösch diagnostiziere "verdrängte Schuld, Stolz auf das eigene Leid, Erlöserfantasien, ja sogar die Opfer-Propaganda der Nazis. Nach 'Orestie', 'Die Weber' und 'Woyzeck', seiner Dresdner Bürgerchor-Trilogie über ostdeutsche Befindlichkeiten, verabreicht er nachträglich eine Geschichtsstunde über Dresden im 20. Jahrhundert." Die Diagnose sei richtig, die inszenatorische "Therapie" jedoch greife diesmal nicht. Was nicht am Bürgerchor liege. Vielmehr fehle es – da die Collage ja selbst zusammengestellt worden sei – an einer Reibung zum Stoff, und auch die ironische Übertreibung der "Dresden-Verherrlichung" bleibe letztlich unhinterfragt. Der Phantomschmerz über die verlorene Schönheit der Stadt bricht sich Bahn, indem Lösch ihn zu kurieren sucht."

Aus München ist für die Süddeutsche Zeitung (16.2.2009) Christine Dössel nach Dresden gereist. Auch ihrer Ansicht nach "bohren" Volker Lösch und Stefan Schnabel in der "Wunde Dresden" in "plakativen Bildern": "So knallig das alles ist, so wenig zündet es in seiner ironisch forcierten, teils überzogenen Politkabarett-Manier. "Es fehle der Collage an "Komplexität und szenischer Kraft, auch an Flüssigkeit der Bilder in einer monoton konfrontativen Auftritt-Abtritt-Regie." Nach wie vor sei die "Wunde Dresden" offen –  "aber geschmerzt hat sie an diesem Abend nicht".

Valeria Heintges von der Sächsischen Zeitung (16.2.2009) beginnt ihre Kritik mit einem Lob des Bürgerchores: "Er singt mehrstimmig, er flüstert, er schreit, die Laien sprechen einzeln, zu dritt oder viert, in ihrer 32-köpfigen Gesamtheit – und immer sind alle absolut synchron, ist jedes Wort zu verstehen. Sie sollen naiv sein, wütend oder apathisch, geknickt oder euphorisch – und sie zeigen diese Gefühle genau." Aus der Collage selbst indes ergäbe sich keine Handlung, eher ein "Parforce-Ritt durch die Geschichte der Stadt". Die Grundthese, dass Dresden sich der Vergangenheit stellen und seine Wunde nicht zuheilen lassen dürfe, komme "nahezu zehn Jahre zu spät". Die Besucher wüssten längst, wie nazitreu die Stadt seinerzeit gewesen sei, und die "Besserwisserei" im Programmheft, die "die Dresdner in Sippenhaft" nehme, "aber das Inszenierungsteam für unfehlbar erklärt", sei "unerträglich". Gleichwohl sei manche Einzelkritik in der Inszenierung "bedenkenswert" und wären manche Einfälle "glänzend".

"Am Anfang, im mittleren Kern und am Ende", differenziert Bistra Klunker in den Dresdner Neuesten Nachrichten (16.2.2009), "zeigt die Inszenierung potenzielle Stärken". Wenn (Anfang) die "Beweise für die Mitschuld Dresdens" im Nationalsozialismus "vorgetragen" würden, wenn (mittlerer Kern) der Männerchor den Brief eines Zeitzeugen des Bombenangriffs deklamiere, und wenn schließlich (Ende) die Leserbrieferregung über nach unten korrigierte Opferzahlen des Bombenhagels ironisiert werden. Trotzdem müsse man von einer "Verkopfung" des Themas sprechen und sei der ganze Abend recht anstrengend, auch weil die vier Schauspieler "meist überdreht agieren und ihre Texte schreien – als wollten sie lauter als der Chor sein."


Das Deutschlandradio (15.2.) brachte zwei Beiträge zum Thema: Michael Laages über den Chor in der Kunst, Hartmut Krug lieferte in Kultur heute die Inszenierungs-Kritik. Darin heißt es, der Abend schwanke "zwischen Kabarett und anklagenden Erklärungen" und überrolle "den Zuschauer mit seiner Materialfülle". "Leider besitzt die Inszenierung weder Rhythmus noch Spannungsaufbau (...) Der Abend bleibt trotz seines brisanten Thema harmlos, weil er auf Ausgleich und politische Korrektheit setzt, weil er weder polarisiert noch provoziert." Seine Grundthese von der Verführbarkeit des Volkes sei "zu platt". Ebenfalls problematisch sei, dass der Chor nur Fremdtexte singe, "was ihm seine innere Kraft und Echtheit und die Reibung mit den Dichtertexten nimmt, die bei den 'Webern' und bei 'Woyzeck' so beeindruckte." Nur am Ende, wenn sich der Chor über die Versuche streitet, "die Opferzahlen des Bombenangriffes herunter zu rechnen (...) harmonisiert und ästhetisiert Lösch nicht mehr, sondern zeigt die offene Wunde und die latenten Widersprüche im historischen Bewusstsein der Bürger Dresdens noch heute."

Hans-Dieter Schütt schreibt im Neuen Deutschland (17.2.2009): "Dresdens Bürgerchor, von Lösch und Chorleiter Bernd Freytag zur kollektiven Kunstfigur erhoben, ist eine einmalige, furiose Leistung der jüngeren deutschen Theatergeschichte". Angesichts der Inszenierung, die von den "nach wie vor aufeinander prallenden" Dresden-Deutungen erzähle, gerät Schütt ins träumerische Sinnieren: ihm kommt die "Utopie in den Sinn", ob es nicht "endlich ein Denken gegen die geläufige, unüberschreitbar gehaltene Standpunktgebundenheit von Geschichtsschreibung" geben könne. "Es müsste möglich sein, eine Sicht auf Geschichte zu beschwören, die allen nah ist, indem sie über die bloße Täter-Opfer-Ursache-Wirkung-Einteilung hinausgeht."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.2.2009) findet Irene Bazinger angesichts der "gutgemeinten Collage" keinerlei Anlass für weiter reichende Gedanken: sie sah bloß eine "Nummernrevue … zum Generalthema 'Dresden gestern, heute, immer - nazideutsch, ostdeutsch, gesamtdeutsch' ". Die "klinisch saubere" Uraufführung sei "redlich ausgedacht, solide choreographiert und manchmal sogar ein wenig keck". Bloß habe die Inszenierung weder inhaltlich "zu überzeugen" noch durch die "aufgebotene Masse Mensch zu überrumpeln" vermocht. Die Aufführung halte sich "mit routinierter Oberflächlichkeit, trotz ihres heiligen Ernstes und didaktschen Eifers aus ihrem Sujet heraus".

Auch Christian Semler war am Gedenktag in Dresden. In der taz (17.2.2009) schreibt er: Lösch ginge es in seiner "aufregenden Inszenierung" nicht darum, "subjektive Einstellungen, Befindlichkeiten von Überlebenden der beiden Bombennächte und von deren Nachkommen" auf die Bühne zu bringen. "Indem der Bürgerchor diesen Stimmen zum Ausdruck hilft, objektiviert er sie." Der Chor verkörpere nicht "Volkes Stimme". Lösch sei "kein Agitpropper", sein Chor demonstriere "nicht die gerechte Seite". Er versuche, "Wirklichkeit" darzustellen, "vor allem auch den Wankelmut und den Opportunismus der Dresdener Bürger". Seine Arbeit bemühe sich um "Entmystifizierung" der Dresdner Lieblingserzählung von der Stadt als unschuldigem Opfer.

Kommentare  
Wunde Dresden: Lösch kann Bürgerchor nichts hinzufügen
Ja, schade immer wieder. Bernd Freytag leistet Großartiges in der Arbeit mit dem "Dresdner Bürger-Chor", doch der Regisseur hat der Kraft dieser Authentizität nichts hinzufügen, ist weder an wirklicher Zuspitzung noch an erhellenden Differenzierungen und Diskursen interessiert.
Wunde Dresden: eine Parole
Mehr Freytag, weniger Lösch!
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