Das gespenstische Eigenleben der Komik

von Wolfgang Behrens

Halle/Saale, 14. Februar 2009. Emanuel Striese ist in Halle weiß Gott kein Unbekannter. "Strieses Biertunnel", die Kneipe neben dem Neuen Theater, ist nach ihm benannt, und ein paar Schritte weiter findet man sogar ein Striese-Denkmal. Denn der Gründer und langjährige Leiter dieses Theaters Peter Sodann – manchem besser bekannt als ehemaliger Tatort-Kommissar Ehrlicher und Bundespräsident in spe – hatte ein Faible für den so unverwüstlichen wie unsterblichen Schmierentheaterdirektor aus Franz und Paul von Schönthans Schwank "Der Raub der Sabinerinnen". Ja, man könnte meinen, Sodann habe sich Striese zur Leitfigur erwählt, um sich nach dessen Bilde selbst zu inszenieren.

Wenn nun, vier Jahre nach Sodanns unfreiwilligem Abgang vom Neuen Theater, Intendant Christoph Werner die "Sabinerinnen" in den Spielplan hebt, so ist der Geist des Vorgängers zweifelsohne auf besondere Weise gegenwärtig. Was tun, um ihn abzuschütteln? Werner engagierte den Regisseur und Ex-Castorf-Schauspieler Herbert Fritsch, der vor Jahresfrist am gleichen Ort bereits Curt Goetz' "Das Haus in Montevideo" in hyperventilierende Groteskkunst verwandelt hatte. Mit ihm sollte die Sodann-Austreibung gelingen.

Eine Femme Fatale der Farce
Fritsch hat der Versuchung widerstanden, den Striese selbst zu spielen, und ihn stattdessen mit einer Frau besetzt. Das ist nicht neu. Auch Katharina Thalbach hat den Striese schon gegeben. Doch Danne Hoffmann ist jung, und sie klebt sich keinen Schnurrbart an, sie travestiert nicht, nein, sie spielt die Theaterdirektorin Emanuela Striese, ein Weib durch und durch – und alle Rollenvorgänger von Gustav Knuth bis Willy Millowitsch sind im Nu vergessen (von Sodann ganz zu schweigen).

Im tief ausgeschnittenen ferrariroten Overall stakst sie auf High-Heels über die Bühne und geizt hinfort weder mit Reizen noch mit gesichtsverzerrenden Grimassen: herausfordernd und lasziv richtet sie sich die Brüste und das nicht vorhandene Gemächt (ein letztes Travestie-Überbleibsel), um im nächsten Moment das abenteuerlichste Mienenspiel explodieren zu lassen: ein gefühlt bis zur Unterlippe hängendes Augenlid oder einen bis zum Ohr schräggezogenen Mund. Dabei fiepst und gurrt sie oder sächselt mit Stentorstimme, dass es einem beim Lachen das Fürchten lehrt. Eine femme fatale der Farce.

Schrille Spielwut
Diese Madame Striese führt bei Herbert Fritsch ihr Dasein in einer bis in die hintersten Winkel vom Slapstick durchdrungenen Welt. Das Heim des Gymnasialprofessors Gollwitz, dessen hölzern-missratenes Trauerspiel "Der Raub der Sabinerinnen" die Striese gegen alle komödienimmanenten Widerstände mit ihrer Schmierentruppe aufführen will – dieses Heim besteht in Halle nur aus einem unappetitlich orangefarbenen Sofa mit vollelastischen Seitenlehnen (Modell "Öre-Före-Knick-die-Möhre", wie es einmal in der Aufführung heißt) und einem überdimensionalen Meisenknödel (welcher letzterer ein von Sebastian Kaufmane dargestelltes, allzeit präsentes menschengroßes Vogelvieh auf Nahrung hoffen lässt).

Auf diesem Sofa und um es herum wird nun aufs Wunderlichste gesprungen und gepurzelt, geschubst und gefallen. Das Ensemble befindet sich in ständiger quirliger Aktion, es wird von einer schrillen Spielwut erfasst, die Gliedmaßen verselbständigen sich, ein Gag überbietet den nächsten oder verpufft auch einmal ins Nichts. Witzökonomie ist Herbert Fritschs Sache nicht: Er dosiert die Komik nicht, er massiert sie. Der Slapstick überlagert die Dialoge, er dringt in sie ein, zwängt sich zwischen Rede und Gegenrede oder springt mitten im Satz hervor, mal illustriert er das Gesagte auf absurdeste Weise, oft genug führt er auch ein gespenstisches Eigenleben. Das hat passagenweise etwas Nervtötendes, auf Dauer jedoch überwiegt das Zwerchfellzerfetzende.

Ein Hauch von Erhabenheit
Das Prinzip dieser Kunst in aller Reinheit vorzuführen, bleibt dem blutjungen Bastian Reiber vorbehalten, der im Stück den Schauspieler Sterneck spielt. Dem alten Jugendfreund Doktor Neumeister (Jonas Hien) gibt Sterneck eine Kostprobe seines schauspielerischen Könnens – und Reiber spielt nun chargierend eine Charge, die jedes Wort in bizarrer und sekündlich wechselnder Manier körperlich zu unterstreichen sucht. Was herauskommt ist gänzlich psychologiewidrig und ganz und gar komisch. Wenn nicht alles täuscht, dann ist Bastian Reiber der Kronprinz des Slapsticks (er erinnert in seiner Körperverbiegungskunst an Matthias Matschke in seinen besten Momenten): der Noch-Schauspielstudent wird demnächst am Theater Magdeburg zu sehen sein.

Ein einziges Mal übrigens steht die Gag-Maschine still. Es ist der Moment, der dem Ganzen vielleicht doch so etwas wie Sinn verleiht. Die Emanuela Striese der Danne Hoffmann baut sich da vor dem jämmerlich im Sofa eingeklemmten Doktor Neumeister auf und verteidigt mit Donnerworten ihre Zunft: "Eine Schmiere, Herr Doktor, das ist ein Platz, wo auf einem Raum von wenigen Quadratmetern mehr Hingebung verlangt und gegeben wird, als Sie es sich überhaupt vorstellen können." Ein Hauch von Erhabenheit weht plötzlich durch den Saal, ungeachtet der lächerlichen Situation.

Ja, diese Hingebung, die können wir spüren.

 

Der Raub der Sabinerinnen oder Wir haben einen Vogel
von Franz und Paul von Schönthan
nach der Bearbeitung von Curt Goetz in einer Spielfassung von Sabrina Zwach
Regie: Herbert Fritsch, Bühne und Kostüme: Angela Baumgart-Wolf.
Mit: Marie Bretschneider, Petra Ehlert, Jonas Hien, Danne Hoffmann, Sebastian Kaufmane, Karl-Fred Müller, Bastian Reiber, Ines Schiller, Hannelore Schubert, Jörg Simonides.

www.kulturinsel-halle.de


Mehr lesen über Herbert Fritsch? In Halle inszenierte er zuletzt im Februar 2008 Das Haus in Montevideo. Am Theater Oberhausen kam im vergangenen September Fritschs Version von Molières Tartuffe heraus, die von den Lesern dieser Seite für das nachtkritik-theatertreffen ausgewählt wurde.

 

Kritikenrundschau

Einmal kaum ein Wort über die Inszenierung, dafür viele über die beteiligten Schauspieler: Herbert Fritsch käme es bei der "Entharmlosung dieses Spaßes" zugute, dass er selbst Schauspieler sei, schreibt Andreas Hillger im mz-web.de (17.2.), dem Internet-Portal der Mitteldeutschen Zeitung. Aber seine Inszenierung treibe auch "das hallesche Personal über seine Grenzen hinaus." Fritsch habe "ein ungebrochenes Interesse an der Körpersprache seines Ensembles" und die "so provozierte Aktionskunst kommt vor allem den jungen Schauspielern zupass". Bastian Reiber spiele seinen "gnadenlos schlechten Schauspieler Sterneck gnadenlos gut", Jonas Hien einen "omnipräsenten und springlebendigen Leopold". Ines Schiller und Marie Bretschneider verkörperten "als Paula und Marianne die mädchenhaft schwärmerische und die lüstern zupackende Seite der Liebe in grotesker Überzeichnung". Karl-Fred Müller und Hannelore Schubert gäben "ein komisches Elternpaar ab", Petra Ehlert als Dienstmädchen und Jörg Simonides als Groß spielten sich überraschend heftig "in Rage", Danne Hoffmann schließlich habe erwartungsgemäß "das Angebot einer Paraderolle wie die der Emanuela Striese zu nutzen" gewusst: Eine "oft hysterische, meist alberne und immer rasante Liebeserklärung an das Theater".

 

Kommentare  
Fritschs Sabinerinnen: herrlich
ein brüllend-komischer abend, ein herrliches ensemble, möchte der kritik noch die nennung von hannelore schubert empfehlen, die das volle haus zum kochen brachte.
Sabinerinnen: Mainstream ironisieren, aber auch einheimsen
...kann es sein, dass pfaff auf der gehaltsliste des theaters halle steht? der abend ist doch ein absoluter witz, leider ohne pointe. dada ist nicht tot, aber fritsch ist auch nicht dada. "theater, theater"... es ist immer ein spagat, der im schritt nicht schmerzt, wenn man den mainstream überhöht, man sich damit vormachen kann, ihn zu ironisieren, ihn sich damit aber zur gleichen zeit aber auch einheimst. in halle klatscht das publikum mit, in hamburg oder sonstwo wären zwei drittel der leute da schon gar nicht mehr da gewesen.
Sabinerinnen: geht hin!
Ich fand es super witzig, mir gefiel schon Fritschs "Haus in Montevideo"- Inszenierung ebenfalls in Halle. Die Darsteller sind wirklich super, wenn man lachen will, geht dorthin!
Sabinerinnen: durchdachte Sinnlosigkeit
nein, lieber pfiff, pfaff steht nicht auf der gehaltsliste. ich habe das ganze als statement gesehen, als fußnote zum theater, als durchdachte sinnlosigkeit, als lust an der lust und das darf man wohl empfinden, ohne gleich als provinzieller depp dargestellt zu werden?
Sabinerinnen: wer? warum?
man fragt sich halt, warum wer ins theater geht?
Sabinerinnen: keine Deppen, alle geben Bestes
depp? wo sind wir gelandet? nur niedermachen? alle geben ihr bestes (was immer das auch ist und sein kann) - doch: als deppen sich selbst einordnen zu müssen in diesem kontext - unwürdig. mann - wir wollen doch das theater in allen facetten leben lassen! sabinerinnen: neu und durchdacht - finde ich.
Sabinerinnen: auf höchstem Niveau!
wenn man mal schauspieler sehen will, dann muss man nach halle fahren, da dürfen schauspieler in den sabinerinnen zeigen, was es heißt, schauspiel als kunst zu begreifen....durchweg....alle spielen auf höchstem niveau!
Sabinerinnen: dem Stoff die Komik ausgetrieben
Fritschs Zugriff ist mit seinem Ansatz, auch den Begriff von Komik selbst zu modernisieren, interessant. Aber es fehlt dem Ding dramaturgische Stringenz. Alles wird aufs Putzige, Gaghafte hingebürstet, statt das Hintergründige von Fritschs anarchischer, apokalyptischer Komik in ihrer Konsequenz für die Figuren zu durchdenken, wie das ansatzweise beim Tartuffe geschah. Dieses Rampendenken ragt ins Dümmliche. Man denkt immer: wo bleibt die Dramturgie? Denn die Inszenierung hätte genial sein können. Stattdessen treibt sie dem Stoff die Komik aus.
Sabinerinnen: Kollegenbesuch
sieh an, die leipziger waren auch drin!
Sabinerinnen: zu Kollegenbesuch
Die Leipziger waren nicht nur auch drin. Haben sie etwa ein persönliches Problem mit der Dramaturgie?
Fritschs Sabinerinnen: kleines Haus, wenig Aufmerksamkeit
ich fand es gestern sehr witzig, habe mich weg gepackt! die halleschen Schauspieler können allemal mit Berliner Häuser mithalten... Hätten Größen wie Nina Hoss, Samuel Finzi oder Corinna Harfouch genau das geiche gespielt, es wäre sicher zum Theatertreffen eingeladen worden. Schade, dass kleinerer Häuser oft wenig Aufmerksamkeit erhalten und nur regional wahr genommen werden!
Fritschs Sabinerinnen: nicht auf dem Mond
ich frage mich auch, warum so wenig presseressonanz auf diese arbeit erklingt. fritsch ist eine hausnummer, halle ist nicht auf dem mond, wo also liegt das problem?
Fritschs Sabinerinnen: Großartiges im Osten wird ignoriert
Ist doch ein Problem vieler Häuser, die sich "Provinz" schimpfen lassen müssen. Die Auswahl zum Theatertreffen hat das doch gerade beinahe desaströs zutage gefördert. Bevorzugt ostdeutsche Häuser mit großartigen Produktionen in dieser Spielzeit (Fritsch in Halle, Kruse und Hartmann in Leipzig, Dresden und Senftenberg) werden von vornherein stiefmütterlich behandelt.
Fritschs Sabinerinnen: Liegt Halle nicht bei Salzburg?
Bislang dachte ich, Halle liegt in Österreich, irgendwo in der Nähe von Salzburg, wo da diese Spiele gefeiert werden. Immerhin wurde durch Nachtkritik mein Horizont erweitert. Mein Chauffeur hat mich darauf hingewiesen, dass Herr Fritsch früher in der Volksbühne gespielt hat. Richtig, der "Kirillow" in den Dämonen. Obwohl er schon das Penionärsalter erreicht haben dürfte, wird er noch mit einem Preis geehrt. Gratulation.
Fritschs Sabinerinnen: Preise für alte Männer
hey lady, sie waren doch auch beim tartuffe? sie sind umtriebig! ist doch schön, wenn alte männer preise bekommen, oder sind sie da persönlich beleidigt? ein schauspieler-preis für einen alten mann ist doch überzeugender, als für einen anfänger?
mit dem jaguar werden sie in halle übrigens nicht auffallen, da gibt es viele sportwagen. heidiho!
Sabinerinnen in Halle: Angriff auf die Netzhaut
...komme gerade aus der Vorstellung. Sabinerinnen in Halle. u.a. wegen Nachtkritik und der Diskussion reingegangen. Das ist ja ein Angriff auf das Zwerchfell, auf die Netzhaut....hab noch Tränen in den Augen. So lustig kann Theater sein!?
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