Friedhof der Träume

von Anne Richter

Heidelberg, 14. Februar 2009. Die Frau scheint schon sehr lange an dieser endlosen, leeren Tafel zu sitzen. Das raumbreite Möbel auf der Bühne trennt sie vom Publikum ebenso wie vom sozialen und künstlerischen Leben, vor dem sie sich hier offenbar verbarrikadiert hat. Zuvor hat sie drei Monate am Sterbebett ihres Sohnes gesessen, bis der den Kampf gegen einen bösartigen Hirntumor verlor. Ihre Karriere als gefeierte Pianistin hat sie beendet. Da tritt ihr Ex-Mann an den Tisch. Entschieden meint er, ihren Alltag neu organisieren zu müssen und stellt ihr sogar eine Schülerin in Aussicht, um sie aus der Depression zu holen.

Diese erste Szene zwischen Simone Mende als alternder Pianistin, die reglos aber hellwach ihren Exmann belauert, und Ronald Funke als besorgtem Freund und Helfer, der vor allem sich selbst von eigenen Problemen ablenken will, ist ein Kabinettstückchen

Emotionale Vielschichtigkeit
Wie ein Stehaufmännchen versucht Emil Leben in den erstarrten Raum und die erstarrte Frau zu bekommen und ist dabei selbst so kraftlos. Das ist schon erschreckend witzig, hart und treffend geschrieben und nun rhythmisch gekonnt inszeniert. Nino Haratischwili zeigt gleich am Anfang der Uraufführung ihres Familiendramas "Liv Stein", mit dem sie im vergangenen Jahr den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts gewann, was sie auch als Regisseurin kann.

In ihrem Stück entwirft sie fünf Figuren mit emotionaler Vielschichtigkeit: eine Familie mit dem sprechenden Namen Stein, nicht Herz, wird hier vorgestellt. Da ist das geschiedene Paar Liv und Emil, beide Berufsmusiker: sie eine trauernde Diva, er ein gelangweilter Konservatoriumslehrer und sarkastischer Ex-Mann. Emils zweite, deutlich jüngere Frau hat ihre Liebe zu ihm längst verloren. Der befreundeten Managerin fehlt ohne ihren Star Liv Stein der Lebensinhalt. Dann tritt Lore als ehrgeizige Meisterschülerin in das Leben aller.

Immer nah am Klischee und doch darüber hinaus
Sie scheint für alle vier das richtige Belebungsmittel im richtigen Moment zu sein. Die apathische Diva packt ihren Flügel wieder aus, die Managerin hat wieder eine Aufgabe und auch das Sexualleben von Emil und seiner jungen Frau kommt als flotter Dreier wieder in Schwung. Immer nahe am Klischee und doch darüber hinaus führt die Autorin die Geschichten ihrer Figuren geschickt und überraschend wendig. Doch souveräne Berechnungen lassen bald Unheil ahnen. Etwas stimmt hier nicht.

Nino Haratischwili vollführt am Ende des Stückes eine überraschende Wendung: Henri, der verstorbene Sohn, um den sich den ganzen Abend lang alles dreht, ohne dass er in Erscheinung tritt, er hat Lore trainiert und geschickt, um sich posthum an seiner Mutter zu rächen, die sich zu seinen Lebzeiten für ihn nie interessierte und erst nach seinem Tod zum Lebensinhalt werden ließ.

Leider verliert die Regisseurin im Laufe des Abends ihren klaren, harten Zugriff auf das eigene Stück, dessen Hang zum Melodramatischen sie am Anfang mit formaler Strenge und rhythmischer Zuspitzung noch wunderbar zu fassen bekam. Doch bald erliegt sie der Gefahr, jeden Gedanken ihrer Figuren zu illustrieren und die Situationen emotional ausagieren zu lassen. Erklärendes Theater, das dem Hobby-Psychologismus immer wieder gefährlich nahe kommt.

Die Fallen des Melodrams
Es wird taktiert und erpresst, gefürchtet und gehasst, geweint und geschwärmt und vor allem immer wieder Halbwahres berichtet und gelogen. Mit viel Cola und Wein können Lore und Emil einiges herunterspülen, wobei auch der Griff zum Glas oder zur Dose oft zur schweren Bedeutungseinheit wird. Monika Wiedemers Lore gelingt dabei der schwierige Akt, die Unschuld vom Lande, die noch lieben kann, mit der durchtriebenen Intrigantin glaubhaft zu vereinen. Vor allem Monika Wiedemer und Simone Mende malen die Entwicklung ihrer Beziehung aber mit so naturalistischen Mitteln aus, dass der als spannender Psychokrimi begonnene Abend bald doch in die Falle des Melodrams tappt.

Da hilft auch der spärlich möbilierte goldene Raum im Zwinger 1, der Studiobühne des Heidelberger Theaters, wenig. Solange die lange, weiße Tafel an der Bühnenrampe dem Spiel Halt und den Figuren die reduzierte Kraft von Handpuppen gibt, zieht das Stück als Psychothriller seine Zuschauer in den Bann. Doch dann wird die lange Tafel aufgelöst und damit die Barriere zwischen dem Publikum und dem goldenen Podest samt verpacktem Flügel symbolträchtig eingerissen. Nun dürfen die junge und die alte Pianistin ihre Konzertbühne betreten und sich vor versammeltem Publikum gegenseitig zerstören. Die drei anderen Figuren schauen dem Showdown den Rest des Abends vom Rande aus zu, ein "Friedhof toter Träume". Das haben auch wir dann irgendwann begriffen.

 

Liv Stein (UA)
von Nino Haratischwili
Regie: Nino Haratischwili, Bühne: Silke Rudolph, Kostüme: Gunna Meyer.
Mit: Simone Mende, Monika Wiedemer, Ronald Funke, Antonia Mohr, Helene Grass.

www.theaterheidelberg.de


Mehr lesen? Für Liv Stein erhielt Nino Haratischwili 2008 den Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts, den sie sich mit Philipp Löhle teilte. Dessen Siegerstück Lilly Link oder schwere Zeiten für die Rev... wurde im November 2008 von Orazio Zambelletti am Theater Heidelberg uraufgeführt.

 

Kritikenrundschau

Volker Oesterreich schreibt in der Rhein-Neckar Zeitung (16.02.2009) über Nino Haratischwili: Der doppelte Einsatz als Autorin und Regisseurin berge ein "erhöhtes Risiko des Scheiterns", potenziere aber im vorliegenden Fall den Erfolg, weil Haratischwili nicht der Gefahr erliege, das "gedankenreiche Geschehen durch aufgesetzte Äußerlichkeiten zu torpedieren". Simone Mende in der Titelpartie und Monika Wiedemer als Klavierschülerin spielten "perfekt auf der Gefühlsklaviatur ihrer Figuren". Zuerst komplett gegensätzlich, würden sich die beiden immer ähnlicher. Den Schauspielerinnen gelinge es dabei, "in düstere Seelenwinkel zu leuchten und die magische Kraft der Kunst aufscheinen zu lassen".

Im Morgenweb des Mannheimer Morgens (17.2.2009) schreibt Alfred Huber: Haratischwili habe einen "glänzend formulierten", "gelegentlich aber zu ausschweifenden Text" geschrieben über das, "was im Leben mancher Menschen hätte werden können, wenn die Ereignisse anders verlaufen wären". Lore und Liv unterhielten eine "heikle und extrem komplizierte Beziehung", die jedoch in der Inszenierung mehr "Tiefe und emotionale Dichte" verdient habe. Die Regisseurin vertraue "zu harmlos" den Gesten und Bewegungen der Figuren, "ihren äußerlichen Merkmalen". Das zeige sich vor allem bei Simone Mende als Liv. Sie spiele ihre Figur zwar überzeugend, "doch wer Liv Stein früher gewesen sein könnte", erführen wir nicht. "Der Alltag ist schrecklich - wir wissen es. … Glücklich ist keiner. Dafür sorgt in dieser Heidelberger Aufführung schon das Grau bürgerlicher Mittellagen".

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