Der Freischütz von Völksen - Hermannshof Völksen
Teufelsaugen im deutschen Wald
2. August 2024. Die Oper "Der Freischütz" handelt von gefährlichen deutschen Sehnsüchten. Im niedersächsischen Völksen nahe Hannover hat sich auf dem Hermannshof "Die Compagnie" des Stoffes in höchst eigener Weise angenommen. Wer wissen will, wie stark und schön freies Theater sein kann, kommt um einen Besuch nicht herum.
Von Michael Laages
1. August 2024. Von ganz viel Bild-Magie und Bühnenzauber war die Rede, nachdem vor zwei Wochen "Der Freischütz“, Carl Maria von Webers romantische Oper, Premiere hatte bei den Bregenzer Festspielen. Philipp Stölzl, Regisseur und Bühnenbildner, hatte das schwäbische Meer mitspielen lassen, der Bodensee persönlich stand sozusagen auf der Besetzungsliste. Und auch Eutin, Geburtsstadt des Komponisten von Weber, zeigt gerade die klassisch-deutsche Oper, die auf einer der Novellen aus dem "Gespensterbuch“ von August Apel basiert, zuerst 1810 erschienen.
Wie, wenn jemand zufällig beide neuen Versuche mit dem "Freischütz“ gesehen hätte – und nun auch noch den Ausflug nach Völksen und auf den "Hermannshof“ unternähme, diesen Ort von "Kunst und Begegnung“, der seit Jahren Spielort ist für "Die Compagnie“? Eine "Wolfsschlucht“-Bühne wie die in Völksen jedenfalls hätte der Reisende nirgends und nie zu sehen bekommen. So etwas wie diesen Spiel-Raum kann kein Bühnenbild simulieren.
Büromensch wird Jägersmann
Abseits nämlich von Herrenhaus und Streuobstwiese, abseits auch vom Geist des Worpswede-Künstlers Bernhard Hoetger, der das Landgut gestaltete vor über hundert Jahren, gibt es am Rande vom "Hermannshof“ mehrere kleine Steinbrüche. In einem von ihnen spielt "Der Freischütz von Völksen“. Und wenn Wilhelm, der verzweifelte Büro-Mensch, der unbedingt zum deutschen Jägersmann werden muss, um Käthchen zu erobern, des Erbförsters Töchterlein, gegen Ende in die Tiefe dieses Steinbruches hinein und hinauf klettert, um mit Teufels Hilfe die magisch-unfehlbaren "Freikugeln“ zu gießen am gefährlichen Kreuzweg, dann gewinnt die Inszenierung von Serkan Salihoglu eine Energie, die über jede Illusion hinausgeht.
Deutsche Sehnsüchte, lebensgefährlich seit so vielen Jahrhunderten, scheinen auf im Feuer der Kugelgießerei vor grausam glimmenden Teufelsaugen. Und durch den dichten deutschen Wald um die Wolfs- und Steinbruch-Schlucht herum wandern wir vielleicht ein bisschen beunruhigt zurück, hinauf zum Gartenhaus des historischen Landguts.
Nach der Molière-Montage, der Begegnung mit der Shakespeare-Zeitgenossin Afra Behn, hier deklariert als "Die Shakespeare von Völksen“, und nach Tschechows "Kirschgarten“, der im vorigen Sommer passenderweise die Obstwiesen selber zum Thema werden ließ, markiert die Freischütz-Bearbeitung jetzt neue Klasse und Qualität an diesem sehr besonderen Ort. Und in den Steinbruch begibt sich "Die Compagnie“ auf mehrerlei Weise – munter puzzelt sie sich das Stück aus unterschiedlichsten Motiven zusammen.
Gänsehautmomente
Natürlich zum einen (und zum größten Teil) aus der Geschichte in Apels "Genspensterbuch“ – aber auch Arrangements von Webers Musik sind dabei, für Gitarre, Schlagzeug, Bass und den supergut sortierten Posaunenchor, der hier, in und um Völksen, zu Hause ist. Das gemischte Jagdhörner-Ensemble aus Springe kommt hinzu und der stimmstarke "Chor der Landbevölkerung“. Und als wäre das nicht schon genug an Kreativ-Gemisch, setzt "Die Compagnie“ auch noch auf Tom Waits und dessen "Freischütz“-Bearbeitung, die vor einem Vierteljahrhundert unter dem Titel "The Black Rider“ am Thalia Theater in Hamburg uraufgeführt wurde, mit dem Text von William S. Burroughs in der Übersetzung von Wolfgang Wiens sowie in der magischen Optik der Inszenierung von Robert Wilson. Wer schon damals in Hamburg dabei war, bekommt jetzt in Völksen Gänsehaut pur von ganz viel glücklicher Erinnerung.
Bis das Publikum allerdings auf drei geführten Wander-Strecken von den Obstwiesen hinunter in den Steinbruch gelangt, sind noch ein paar Aufgaben zu erledigen. "Die Compagnie“ spielt zunächst eine Weile mit Ideologien – schon auf den Tischen im Foyer wird rabiat zur gesellschaftlichen Ordnung gerufen: "Nur für Einheimische“ steht da geschrieben, "Nur für Männer“ oder "Nur für Frauen“. Dann folgen kleine Gesellschaftsspiele mit Publikum: Jeder soll sich verorten im gesellschaftlichen Gefüge – fühlen wir uns wohl in Masse und Menge, suchen wir im Ausland die Gesellschaft von Landsleuten? Nie, nur nach Gelegenheit oder immerzu? Ach ja – und mögen wir eigentlich Mitmach-Theater?
Spielinseln im Wald
Dann beginnen die Wanderungen hinab zur Bühne, und wir werden konditioniert für die toxische Politik im "heiligen deutschen Wald“ – Olympiasieger bekamen 1936 ja "Hitler-Eichen“ als Geschenk; und auch vom Trauma des im Exil verlorenen Wald-Gefühls nach deutscher Art ist die Rede. Am Schluss, wenn die "Freischütz“-Fabel im großen (und tragischen) musikalischen Finale enden könnte, bricht Andrea Casabianchi (als Freischütz Wilhelm) das Spiel ab, tritt aus der Rolle und weist alle Zuordnungen, alle Schubladisierungen zurück, in die Welt und Gesellschaft ein Individuum wie sie pressen wollen. So bekommt die Geschichte auch noch eine Botschaft verpasst. Ein bisschen wie ein schräges Hütchen aufgesetzt wirkt das schon – aber sei’s drum. Der Gedanke ist ja in diesen Zeiten wieder unbedingt richtig.
Im Steinbruch selber herrschte zuvor entspannte Fantasie – bevor es in die Wolfsschlucht ging, wurde die Böschung hinauf und hinunter gekraxelt; geschickt hat Ken Chinea funktionelle Spiel-Inseln in den Wald gebaut. Wildschwein, Fuchs und Hirsch aus Pappmache wurden erlegt, und die Holzgewehre waren quietschgelb – die Ausstattung ist sehr vergnüglich, die bunten Kostüme von Thora Geißler sind es auch. Alle Spielerinnen und Spieler agieren grandios, wie die wunderbar engagierte Landbevölkerung. Und nur wer sehr genau hinschaut, bemerkt das Fehlen von mindestens einer Spiel-Figur: der teuflische Stelzfuß wäre eigentlich mehr als eine Doppel-Besetzung wert.
Nach Völksen!
Aber so entwickelt sich die Szene halt gerade wieder – Förderungen werden reduziert, Besetzungen im richtigen Personal-Format sind für freie Gruppen schon wieder nicht mehr möglich. Gerade hat Veit Sprenger von "Showcase Beat Le Mot“ gewettert und gewarnt – vor dem Aushungern freier Kreativität nach all den Corona-Hilfen. Wer gerade jetzt wissen will, wie stark und schön freies Theater sein kann, kommt um die Fahrt nach Völksen nicht herum.
Der Freischütz von Völksen
nach Motiven von August Apel mit Musik von Carl Maria von Weber, Tom Waits und anderen
Inszenierung: Serkan Salihoglu, Musik: Martin Engelbach und Lars Ehrhardt, Bühne: Ken Chinea, Kostüm und Maske: Thora Geissler, Dramaturgie: Elisabeth Hoppe, Licht: Uwe Richter, Ton: Gerald Pursche und Wolfgang Würriehausen, Produktion: Rainer Frank
Mit: Andrea Casabianchi, Lars Ehrhardt, Martin Engelbach, Rainer Frank, Elisabeth Hoppe, Serkan Salihoglu, Andreas Sigrist sowie dem "Chor der Landbevölkerung“, dem Posaunen-Chor und Jagdhorn-Bläserinnen und –Bläsern aus Völksen und der Region
Premiere am 1. August 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.hermannshof.de
Kritikenrundschau
Ronald Meyer-Arlt freut sich in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (3.8.2024) über "opulentes Freilichttheater mit erheblichem Festspielflair" mit "Witz, Originalität und einer Menge Improvisationscharme". "Auch wenn nicht jeder Ton exakt getroffen wird: Das ist ziemlich wunderbar."
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