Alte Wörter, Neue Musik

8. August 2024. Sieben Jahre wartet Botho Strauß' Stück "Saul" bereits auf seine Uraufführung. Nun wurde es immerhin von Ifflandringträger Jens Harzer vorgetragen. Und wie man Harzer so zuhört, weiß man plötzlich ganz genau, was das Theater dringend braucht.

Von Gabi Hift

Die Erstlesung des Stücks "Saul" von Botho Strauß bei den Salzburger Festspielen © Ruth Walz

8. August 2024. "Botho Strauß' Figuren sind Scherben, aus denen der Schauspieler lesen kann", schwärmt ein fühlbar begeisterter Jens Harzer beim Nachgespräch und plädiert leidenschaftlich für eine baldige Uraufführung des Texts. "Saul", das bis dato letzte Stück von Botho Strauß, ist bereits sieben Jahre alt, aber noch nie aufgeführt worden. 2019 erschien es anlässlich seines 75. Geburtstags als Buch. Jetzt, im Jahr seines 80. Geburtstags, hat sein Sohn, der Theaterkritiker und Autor Simon Strauß, bei den Salzburger Festspielen eine Lesung initiiert – mit Marina Galic und eben Jens Harzer, Träger des Ifflandrings, der ihm von Bruno Ganz vermacht wurde, der wiederum ein bevorzugten Darsteller von Botho Strauß war und auch sein guter Freund. Ganz ist Jens Harzer das erste Mal 1996 bei den Proben zum Straußstück "Ithaka" an den Münchner Kammerspielen begegnet – die beiden waren im Stück Vater und Sohn.

Die Geschichte von Saul steht im 1. Buch Samuel. In einer Zeit ständiger Kämpfe zwischen verschiedenen Stämmen verlangt das Volk der Israeliten nach einem weltlichen König. Der Prophet Samuel, ihr geistiger Führer, ist strikt dagegen, aber Gott weist ihn an, dem Wunsch des Volks nachzukommen und Saul als König einzusetzen. Durch den Geist Gottes wird der friedliche, unscheinbare Saul zu einem siegreichen Feldherrn. Als er aber, entgegen seiner Anweisungen, das besiegte Volk der Amalkiter nicht völlig austrottet, sondern ihren König lebend gefangen nimmt, wendet Gott sich von ihm ab und fördert von nun an den jungen Harfenspieler David.

Nah an der Bibel

Strauß bleibt der biblischen Geschichte erstaunlich treu. Es gibt keine hinzugefügten Figuren oder Vorkommnisse. Nur die zahllosen Berichte von Schlachten sind gekürzt. Über weite Strecken übernimmt er den Text der Lutherbibel wortwörtlich und überführt ihn lediglich in Dialoge. Erst in den Szenen zwischen Saul und seinem Sohn Jonathan dichtet er etwas dazu.

Die Bibel interessiert sich nicht für psychologische Entwicklungen, in ihr erklärt sich alles durch den Geist Gottes, der Saul zuerst in eine unerbittlichen Kampfmaschine verwandelt und ihn dann zu einem von Jähzorn, Neid und Wut Zerstörten macht. Botho Strauß, sonst ein Meister der Andeutungen und unerklärlichen Verwandlungen, dichtet Saul eine in sich geschlossene, plausible Erklärung für eine derart plötzliche Charakterwandlung an. Er lässt ihn wahnsinnig werden; oder doch wenigstens sich selbst sein Verhalten als Wahnsinn erklären. "Ich werde bald nicht mehr gescheit sein", sagt er zu seinem Sohn. "Ich werde bald nicht mehr sagen können, wer ich bin. Die Wüste steigt mir in den Schädel. Hinter der Stirn nichts als Staub und Geröll. Dann werde ich vergessen, alles vergessen, aber ganz tief in mir werde ich laut rufen nach dir." Das hat zwar einen hohen Ton, passt aber nicht so recht zur nüchtern martialischen Sprache des Luther–Berichts.

In Rembrandts Gemälde, entstanden in den 1660er-Jahren spielt David Harfe für Saul

Jens Harzer macht aus Saul allerdings ein Kabinettstück. Er skizziert den Unzeitgemäßen, Zaudernden, mit wenigen Haltungen und Gesten. Als Samuel Saul ankündigt, Gott werde ihm ab nun die Hand führen, schaut er ängstlich auf seine Hände, sie scheinen ihm suspekt, unternehmen ziellose kleine Wanderungen auf dem Tisch, als gehörten sie ihm nicht mehr. Er sitzt vorgebeugt, den Kopf leicht geneigt, als würde er unablässig zu einem Widerspruch ansetzen, den sein Körper dann doch wieder zurücknimmt. Alle anderen Rollen lesen Marina Galic und Harzer im Wechsel, und es gelingt ihnen, der nüchternen und zwischentonlosen Sprache der Bibel Lebendigkeit abzutrotzen.

Die Sprache tönt nach

An einer Stelle spielt Galic auf einem kleinen Kassettenrecorder ein Musikstück ein. Botho Strauß hatte mit dem kürzlich verstorbenen Komponisten Wolfgang Rihm eine Weile an einer Oper mit dem Saul-Text als Libretto gearbeitet. Er hatte sich von der "originaltönenden Musik" ein Gegengewicht zu seiner "nachtönenden Sprache" erhofft. Davon wurde nur ein kleines Stück verwirklicht. Als man es hört, spürt man sofort, dass das sehr gut hätte funktionieren können. Es öffnet sich eine neue Dimension, und es ist, als ob die graue Wand aus alttestamentarischer Sprache auf einmal als Monolith im All schweben würde. Schade, dass Rihm das Projekt nicht zu Ende führen konnte.

Das Schockierendste an der Geschichte scheint Strauß gar nicht zu kümmern: was das für ein Gott ist, der hier am Beginn des ersten Eingottglaubens gezeichnet wird. Soll das die eine Macht sein, die hinter allem steht? Dieser grausame, rachsüchtige Intrigant? Dessen Rolle allein darin besteht, seinem Volk Vorteile in der Schlacht zu verschaffen? In diesem Text wird man mit seinem Entsetzen allein gelassen, es fehlt das Grauen, das Conrad im "Herz der Finsternis" mit uns teilt; das einen bei Heiner Müllers Texten erfasst.

Schmerzlich vermisst

Wenn man allerdings Jens Harzer über Botho Strauß Figuren reden hört, über die Fragmente und Scherben, zwischen denen so viel Ungewisses wartet, dann vermisst man sie schmerzlich auf unseren Bühnen. Nicht unbedingt Saul, aber Lotte, Kalldewey, Marie Steuber, all die Figuren, die getrieben waren von ebenso lächerlichem wie inständigem Heilsverlangen, auf der Suche nach Fetzen von Transzendenz. Als die mythologischen und biblischen Anspielungen nur als Raunen und Kichern von der Unterbühne heraufklangen. Dieses Rascheln unter den uralten Unterröcken unserer Kultur fehlt, wir sollten es auf die Bühnen zurückholen.

 

Saul
von Botho Strauß
Erstlesung
Künstlerische Mitarbeit: Friederike Harmstorf
Moderation: Simon Strauß
Mit: Jens Harzer, Marina Galic.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten Lesung danach 1 Stunde Gespräch mit Jens Harzer, Philipp Theisohn, Rachel Salamander und Simon Strauß.

https://www.salzburgerfestspiele.at

 

Kritikenrundschau

"Botho Strauß aktualisiert nichts, er schafft vielmehr einen sprachlichen Resonanzraum. Wir werden mit einer 3000 Jahre alten Geschichte konfrontiert, die Ecken und Kanten hat und Fragen aufwirft", schreibt Jörn Florian Fuchs in den Salzburger Nachrichten (9.8.2024). In der Interpretation von Harzer und Galic blitze immer wieder auf, "was im oder hinter dem Text steht: Unfertiges, Offenes, auch Monolithisches", so Fuchs, der nicht verstehen kann, warum niemand sich an eine "richtige Inszenierung" des Stoffs getraut hat: "So bleibt das – blöderweise gibt es kein vernünftiges unenglisches Wort – Canceln mancher Autoren, sei es aus politischen Gründen oder schlicht, weil sie alte, weiße Männer sind, eine Wunde im Theaterbetrieb. (...) Seltsame Zeiten, in denen das Lesen oder gar das Inszenieren eines alten, in keinem Moment ideologisch merkwürdigen Stoffes offenbar wie ein Verbrechen ist."

"Harzer und Galic setzen die Scherben aus grauer Vorzeit vorsichtig zusammen, spürend und suchend, momentweise sogar in die Andeutung eines Spiels kommend", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (9.8.2024). "Saul" erfordere große Konzentration, "weil es ein raues, sperriges Stück ist und Strauß darin gar nicht erst versucht, Konzessionen an psychologische Entwicklungen, heutige Leseerwartungen oder gar den Zeitgeist zu machen". Einen besseren Anwalt als Jens Harzer könnte das Stück nicht haben, so Dössel: "So eindringlich, wie die beiden sich für diesen angemosten Textfindling in die Bresche werfen, fühlt man sich direkt genötigt, sich und das Stück noch einmal zu hinterfragen: Was hat man verpasst, wenn man rein gar nichts damit anfangen kann?" Das Theater habe sicher nicht auf dieses Stück gewartet, schließt die Rezensentin aus dem Ereignis des Lesung: "Aber dass und warum Botho Strauß völlig von den deutschen Spielplänen verschwunden ist, auch mit seinen tollen Stücken, darüber sollte man reden."

In der Lesung "trat der Text in seiner angespannten Gravität fabelhaft hervor", schreibt Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.8.2024). "Es kann nicht verwundern, dass dieser Saul Jens Harzer wie auf den Leib geschrieben erscheint. Er ist der größte Gefühlszurückstauer unter den gegenwärtigen Schauspielern. Niemand kann wie er den Eindruck vermitteln, all diese Bühnengefühle seien ihm eigentlich zu viel. Was natürlich seinerseits ein Bühnengefühl ist, aber eben ein in sich reflektiertes." Seit zwei Jahrzehnten mache das deutschsprachige Theater einen großen Bogen um die Stücke von Botho Strauß, so Kaube weiter. "Dermaleinst, im Jahrzehnt nach 1980, war er mit seinen traurigen Komödien über unser unentschlossenes Leben der Liebling aller Bühnen. Doch irgendwann haben die Regisseure und Dramaturgen den Geschmack an ihnen verloren. Das mag mit den essayistischen Einlassungen des Autors zusammenhängen, in denen er die Gefahr nicht scheute, als kulturpessimistischer Reaktionär dazustehen." Der Schluss von den Essays auf die Stücke sei aber töricht, "denn die Stücke wurde ja nicht von den Essays geschrieben, sondern von einem Autor, der darin mehr zu sagen hatte, als ihm zum Tagesgeschehen und zum Abendland einfiel." In „Saul" zeige sich das erneut, so Kaube. "Denn das Stück, das fast nichts mehr vom Konversationston der früheren Werke hat und die Salzburger Zuschauer achtzig Minuten lang pausen- und atemlos zuhören ließ, war wie die Anamnese einer kranken Seele von welthistorischer Bedeutung." Nach der Salzburger Aufführung sei nur zu hoffen, "dass sich bald ein Theater an diese Geschichte eines Helden, der keiner sein wollte, heranwagt".

Kommentare  
Lesung Saul, Salzburg: Verrat an der Freiheit
Es ist vielleicht interessant anlässlich dieser Lesung nocheinmal den Artikel von Thomas Asheusser :Botho Strauss
Verrat an der Freiheit" ,erschienen 2019 bei gegneranalyse , nachzulesen und sich mit den mythischen, heilserwartenden Gedanken des Schriftstellers auseinanderzusetzen und die Gefahren zu sehen, die von diesem Denken, das gerade von einigen Kulturträgern wieder eingefordert wird, ausgehen.
Lesung Saul, Salzburg: Mentale Gitterstäbe
Wer verrät die Freiheit? Diejenigen, die mentale Gitterstäbe installieren und die Insassen vor Gefahren schützen wollen? Oder diejenigen, die sich ins Offene wagen und sich Gefahren aussetzen? Oder wie es Sloterdijk im Gespräch mit Carlos Oliviera vor langer Zeit bereits zu Botho Strauß sinngemäß formulierte (Oliviera sagte, dass das was bei Strauß steht alles andere als harmlos sei): Es ist nicht die Aufgabe eines Autors, harmlos zu sein. - Danke vielmals für den Artikel über die Lesung.
Kommentar schreiben