The Weird & The Eerie - Kunstfest Weimar
Im Stollen der Erinnerung
31. August 2024. Beim Kunstfest Weimar wandeln Dramatiker Thomas Köck und der Musiker Andreas Spechtl live on stage durch die Trümmer ihrer Vergangenheit. Gemeinsam mit launischen KI-Avataren, die ihnen Regisseur Michael von zur Mühlen zur Seite gestellt hat.
Von Vincent Koch
31. August 2024. An diesem Abend könnte man auf einem silbernen Rollator Platz nehmen. Die freie Platzwahl erlaubt es, sich zwischen all den verschiedenen Stühlen in der Weimarer KET-Halle dafür zu entschieden. Wahlweise könnte man auch das Kinderbett mit der abgewetzten Matratze nehmen. Die meisten Leute entscheiden sich dann doch für konventionelle Stühle. Sie sind im Halbrund angeordnet um eine Musik-Station, allerhand Kabelsalat, ein Mikro baumelt von der hohen Decke.
Die kahlen Wände, von denen der Putz bröckelt, sind mit meterhohen Stoffbahnen ausgekleidet. Darauf zu sehen sind vor allem grelle Collagen von Häuserwänden und Köpfen, dazwischen Zitate. "Ich erinnere mich an die Kabel im Garten". Oder auch Fragen: "Has anybody seen my pants?" Statements, klar: "Memories are free". Gedruckt im grellsten Rot, Grün, Blau (Visuelles Konzept: Martin Miotk).
Zwischen dieser verschrobenen Wandästhetik steht auch noch ein Schrank mit Pokalen herum und ein paar Särge in der Ecke. Es knallt alles ein bisschen in diesem Raum, der wie eine Zeitkapsel irgendwo zwischen Retro, Pop Art und 90er-Jahre-Museum stecken geblieben ist.
Die KI hat keine gute Laune
Wäre nicht die riesengroße Leinwand in der Mitte. Zunächst rieselt darauf nur leise der Schnee, bis Katharina Ernst, Annea Lounatvuori, Andreas Spechtl und Thomas Köck den Raum betreten. "The Weird and the Eerie" haben sie ihren Abend auf dem Kunstfest Weimar genannt (dt. Das Seltsame und das Gespenstische). Regie führte Michael von zur Mühlen, der mit dem Team bereits den preisgekrönten Videospiel-Essay "Opera – A Future Game" realisierte.
Köck (an ihm kommt man gerade gar nicht vorbei, ob als Dramatiker, Autor oder Regisseur) schnappt sich sofort den Controller. Die Autorin des Abends, macht er klar, sei eine KI. Sie habe die letzten 20 Jahre seines Lebens mitgeschnitten. Was genau Köck dann erwarte, könne keiner wissen, behauptet er, die Texte für den Abend entstünden im Tun. Und so stellt sich Köck direkt vor die Leinwand und startet das Game, für alle sichtbar.
Köcks Avatar steigt plötzlich aus einem Holzklo mitten in der Pampa. Und oh je, er hat keine gute Laune. Die beiden versuchen auf Englisch zu kommunizieren. Köck möchte direkt etwas über seine Vergangenheit erfahren, darum soll es ja schließlich gehen: ein Abgleich der Erinnerungen zwischen dem Menschen und seinem digitalen Äquivalent.
Der Avatar beschwert sich erst mal über die Kälte, schimpft über das bourgeoise Theaterprojekt und ist angefressen, dass niemand an Geister glaubt. Köck insistiert mehrfach. Als würde die KI einen Stinkefinger zeigen, steht auf ihrem Pullover in roten Lettern: "Don't look back". Der Controller wandert zu einem Zuschauer, der sich dann auch mal durch die Videospielwelt bewegen darf. Währenddessen musiziert die Band um den "Ja, Panik"-Musiker Andreas Spechtl. Indie-Rock, durchgängig düster wabernd.
Vergangenheitsüberwältigung
Alle vier Musiker:innen stehen im Laufe des Abends ihrem Avatar gegenüber, mal in einer Häusersiedlung, mal auf einen Steg im Maisfeld. Am intensivsten wird es bei Andreas Spechtl, der in das digitale Haus seiner Kindheit hoppelt und dort mit Collagen österreichischer Politiker wie Heinz-Christian Strache und dem Kühnengruß (eine Abwandlung des Hitlergrußes) empfangen wird.
Das Schlimmste sind die Keller der Häuser.
Andreas SpechtlAußerdem überlagern sich verschiedene Tonspuren. Kohls "Blühende Landschaften" kommen darin ebenso vor wie die Meldung eines terroristischen Anschlags und die NPD. Lautstärke und Verortung variieren, und so schnappt man nur Häppchen dessen auf, was die KI in ihrem Bewusstsein über die 90er gespeichert hat. Zwar war das als historischer Rahmen eingespeist, jedoch fragt man sich, was da plötzlich HC Strache zu suchen hat. Überlagern sich im digitalen Gedächtnis Vergangenheit und Gegenwart? Oder handelt es sich hier um einen Fehler? Gerade diese zunächst unlogisch erscheinenden Momente, werfen Fragen danach auf, wie weit man mit der KI gehen kann. Oder eher sie mit uns?
"Das Schlimmste sind die Keller der Häuser", betont Spechtl, bevor sein Avatar in einen "Stollen der Erinnerung" fährt. Als würde man eine Dunkelrutsche heruntersausen, rennt der Avatar minutenlang durch ein Labyrinth aus Gängen. Gemischt mit den treibenden Sounds evoziert das einen beeindruckenden Strudel, der einen einsaugt und kurz Raum schafft für eine persönliche Reise in die Vergangenheit. Was das Gefühl an Vergangenheitsüberwältigung angeht, macht dieses schwarze Loch mehr mit einem als die klaren politischen Referenzen, die auf dem Streifzug zur Sprache kommen.
Die KI als Labertasche
Innovativ wird der Abend immer dann, die KI sich über Menschen hinwegsetzen möchte. In einem Game-Level steht plötzlich ein Anime-ähnliches Mädchen auf einer Insel und wettert darüber, dass KI Arbeitsplätze ersetzen soll. "Was interessieren mich Eure Bullshit-Jobs", brüllt sie. Mitunter sind es genau diese Grenzen, die der Abend auszuloten versucht. Ein Avatar bittet das Publikum, ihm Fragen zu stellen, ist aber selbst eine totale Labertasche und lässt dann keinen so richtig zu Wort kommen. Wenn es dann auch noch subtil um den Klimawandel geht, fragt man sich, wie viel hier tatsächlich von der KI selbst kommt und was vorprogrammiert war – für den Diskurs.
Als Erinnerungsraum mittels KI ist der Abend vielleicht ein wenig zu harmlos und schnell durchschaut. Die Frage bleibt natürlich: Wenn die Kritik lautet, dass es ein bisschen tiefer hätte sein können, ist das dann einfach zu viel erwartet von der launigen KI? Vielleicht hätte allein schon der Fokus auf einen Avatar den Abend etwas dynamischer und spannender gemacht. Eine atmosphärische Performance ist "The Weird and the Eerie" allemal, für einen Theaterabend fehlt es etwas an Drive. Ein Videospiel spielt sich eben selten zu zweit.
So wird der Open-World-Raum in den nächsten Tagen als Installation zu erleben sein – die Performance kann als Auftakt gelten. Wahrscheinlich macht es am meisten Spaß, wenn man den Controller selbst in der Hand hat und durch Vergangenes spaziert. Auf dem Rollator, versteht sich.
The Weird & The Eerie
Regie, Gamedesign und Produktion: Michael v. zur Mühlen, Text: Thomas Köck & KI, Visuelles Konzept: Martin Miotk, Komposition: Andreas Spechtl.
Live-Musiker:innen und Performer:innen: Katharina Ernst, Annea Lounatvuori, Thomas Köck, Andreas Spechtl.
Premiere am 30. August 2024 in Weimar
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Koproduktion PAD Festival Wiesbaden, CfL Münster, Pumpenhaus Münster, Kunstfest Weimar, Kooperation mit Lefx Leipzig
www.kunstfest-weimar.de
Kritikenrundschau
Ein "merkwürdiger Hybrid zwischen Konzert und Performance" war dieser Abend für Georg Kasch in "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (31.8.2024). "Leider ist das aber inhaltlich alles so ein bisschen wirr und dünn und dazu auf Englisch und akustisch schwierig, weshalb dann auch etliche Leute vorzeitig das Weite gesucht haben." Trotz einiger atmosphärischer Momente war es im Ganzen "eine schwache Uraufführung".
"Will man versichert sein, dass künstliche Intelligenz in performativen Zusammenhängen bislang wenig bringt, dann liefert der Abend Trost", gibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.9.2024) sarkastisch zu Protokoll. Die "monströs hallende Akustik" mache zudem "ein Verstehen unmöglich", da helfe auch "der an sich elaborierte, hybride Surroundsound" nichts.
Als "eitles Künstlerselbstgespräch" watscht Jakob Hayner von der Welt (4.9.2024) den Abend in seinem Überblickstext zum Weimarer Kunstfest ab.
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