Fast erstickt in Parodie

8. September 2024. Hermann Schmidt-Rahmer spottet in Dresden über die Versöhnungsaussichten der Weltreligionen in Lessings Toleranzstück "Nathan der Weise". Und sucht mit Fremdtexten das Öl im Feuer gegenwärtiger Konflikte.

Von Michael Bartsch

"Nathan der Weise" in der Regie von Hermann Schmidt-Rahmer in Dresden © Sebastian Hoppe

8. September 2024. Lessings "Nathan" erlebt heute, ähnlich wie nach 1945 in der Reaktion auf die NS-Zeit, mit dem derzeitigen Aufflammen von Hass und Gewalt eine Renaissance. Die Hoffnung, das Theater könne vielleicht doch noch als eine moralische Instanz in Zeiten völliger Orientierungslosigkeit taugen, stirbt zuletzt. Eine Woche nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen erscheint eine Parabel auf die Toleranz, auf die Suche nach dem echten Ring, der verfeindete Lager verbinden könnte, dringender denn je.

In Dresden befindet man sich mit dem bekannten Stück und seiner bekannten Versöhnungsbotschaft im Fernwettkampf schon erlebter Titelrollenbesetzungen und Rollenentwürfe. Der neue weise Nathan wird von Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer fast zur Randfigur degradiert. Umso respektabler, wie sich Ahmad Mesgarha behauptet und das, was er ohne selbstironische Brechung sagen darf, auch mit Gewicht adressiert.

Groteskes Kriegsidyll

Es beginnt donnernd. Hermann Schmidt-Rahmer lässt eine Stimme aus dem Off apokalyptische Texte aus dem Mittelalter rezitieren, deren Herkunft das Publikum freilich nicht erfährt. Kein Stein werde auf dem anderen bleiben vor dem großen Strafgericht, aber nach dem großen Gemetzel winke so etwas wie Kants Ewiger Frieden.

Krieg naht heran, nach Heraklit der Vater aller Dinge. Und er ruft die Zeit der europäisch-christlichen Kreuzzüge auf. Ihre Konflikte liegen im Hintergrund der privaten Ebene: der Fürsorge des Juden Nathan für seine Adoptivtochter Recha und der Liebe des christlichen Tempelherrn zu ihr.

Aufklärung in Nöten: Philipp Grimm als Sultan Saladin bedroht Ahmad Mesgarha als Nathan © Sebastian Hoppe

Man wäre ja gern erschrocken, aber jedwede Militanz entschärft sich durch eine in den leeren Bühnenraum hinein rollende rosafarbene Pseudo-Militärmaschinerie. An Panzer erinnernde Lafetten, auf denen Alltagsmöbel, bequeme Thronsessel oder ein kahler Baum mit einem seltsam lustig wirkenden Gehängten montiert sind.

Die überhaupt nicht uniformen Kostüme der anfangs nicht zuzuordnenden Krieger erinnern an die apokalypseverliebten Sci-Fi-Filmindustrie der USA und passen eher auf einen Fasching: martialische Masken, umher bammelndes Getroddel, anachronistische Schwerter.

Personen schälen sich im Wortsinn allmählich heraus. Wie sie kostümiert sind, trägt auch nicht dazu bei, sie ernster zu nehmen. Sultan Saladin stelzt in einer Art Reifrock umher, der von Recha erinnert eher an einen Petticoat der 1960-er. Dass das Staatsschauspiel Dresden die Euros für Ausstattung nicht zählen muss, illustriert auch der Hokuspokus des Patriarchenauftritts im Goldrausch.

Zweifel an Ernsthaftigkeit

Was darf, ja was sollte man hier überhaupt ernst nehmen? Die Regie demontiert den oft pathetisch überhöhten Lessing gründlich. Sultan Saladin ist weder ein kluger Typ noch ein Schlächter, sondern einfach nur ein Kasper. Gelangweilt treibt er Nathan an, endlich nach zwei steckengebliebenen Anläufen seine Show abzuliefern und die Ringparabel herunterzuhaspeln.

nathan der weise 23830 022 presse fotosebastianhoppeMit Anklängen an das Gemälde "Winkelmann im Kreise der Gelehrten": das Bühnenbild von Pia Maria Mackert © Sebastian Hoppe

Selten so gut Monty Python auf der Bühne gesehen, zuckt es vor allem im ersten Teil durchs Gemüt. Das Finale, bei Lessing das Happy End einer möglichen Koexistenz verfeindeter Religionen, erstickt in Selbstparodie und Zynismus. Lasst uns in Ruhe mit solchem altmodischen Idealismus! Es findet übrigens statt in einer dem Gemälde "Winckelmann im Kreise der Gelehrten" (von 1874) nachgestalteten Bibliothek des Schlosses Nöthnitz oberhalb von Dresden. Was das Programmheft nicht verrät: Lessing ist darauf auch zu sehen.

Nicht totzukriegen

Die Kostümierten sind da alle gleichfalls vom 12. über das 23. ins 18. Jahrhundert gesprungen. Bis zum Schluss behält Ahmad Mesgarha nahezu als einziger seine Würde. Pflegetochter Recha alias Nihan Kirmanoglu kommt ihm nahe.

Nach der Pause kommt ihr großer Überfall, ballen sich Andeutungen über die Rolle der Juden und Araber in der Weltgeschichte und Klischees über sie. Minutenlang schreit Recha vehement gesammelte Texte heraus: "Will jemand uns den guten alten Holocaust stehlen?", heißt es verdächtig unkorrekt. "Wir sind das Werkzeug Gottes und keine Verlierer" wird mosaisch persifliert mit der Rechtfertigung eigener Gewalt, Säuberungen und Lager.

Angenehm erstaunte die Wahrnehmung, dass Lessings "dramatisches Gedicht", dessen Originaltext die Inszenierung weitgehend beibehielt, nicht mit den "Mätzchen" kollidierte. "Das Stück ist halt nicht totzukriegen", konstatierte eine theatererfahrene Bildungsbürgerin im Saal. Auch sie applaudierte wie die meisten am Schluss freundlich.

 

Nathan der Weise
von Gotthold Ephraim Lessing
Fassung des Staatsschauspiels Dresden
Regie: Hermann Schmidt-Rahmer, Bühne: Pia Maria Mackert, Kostüme: Regine Standfuss, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Philipp Grimm, Fanny Staffa, Ahmad Mesgarha, Nihan Kirmanoglu, Gina Calinoiu, Paul Kutzner, Holger Hübner, Sven Hönig.
Premiere am 7. September 2024 im Schauspielhaus Dresden
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de


Kritikenrundschau

"Die Inszenierung streift die aktuellen Auseinandersetzungen um die angebliche kultur-imperialistische Dominanz des Westens", schreibt gg in der Dresdner Morgenpost (9.9. 2024). "Schmidt-Rahmer begegnet dem Ernst der tatsächlichen Dinge mit Parodistischem-manchmal originell, manchmal belanglos. Sein 'Nathan' ist durchaus ambitioniertes, jedoch nicht immer packendes Theater."

"Schade, dass das dröge Textaufsagen im ersten Teil sowohl die Spiellust der Nebenrollen als auch die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums einschränkt", schreibt Sebastian Thiele in der Sächsischen Zeitung (9.9.2024). "Ansonsten gelingt der Regie ein umjubelter Abend, der den Klassiker fantasievoll und glaubhaft verortet. Mit bildgewaltigem Bühnen- und Kostümspektakel und einer fanatischen Recha, die eindrücklich das unlösbare Religionsdilemma zeigt."

Wolfgang Schilling von MDR Kultur (9.9.2024) sah einen Nathan, der wenig Hoffnung mache. "Ein Theaterabend wie von Goya gemalt: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Erbarmungslos und bildgewaltig in Szene gesetzt von Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer. Pia Maria Mackert und Regine Standfuss konnten bei Bühnenbild und Kostümen offensichtlich aus dem Vollen schöpfen. Schauspielerisch eine überzeugende Ensembleleistung."

Kommentare  
Nathan, Dresden: Verbaute Sicht
Mit Verlaub, da schwingt doch ein wenig zu viel taz-Timbre in des Rezensenten Stimme (und leider auch eine politisierte Deutungserwartung, wie der Einstieg in den Text belegt). Auch ich bin kein Freund der ersten halben Rosaroten-Apo(kalypse)-Harmlos-Stunde dieses Theaterabends am Dresdner Staatsschauspiel, der die Befürchtungen derjenigen zu bestätigen schien, dass mit der Wahl des Regisseurs auch die an seinem Hause (UdK) zum Standardmaß erhobene, bisweilen arg proletkulthaft wirkende Frontalästhetik einer thematisch unscharfen Identitätspolitik nun auch in der Elbestadt Einzug hielte. Wer aber diesen Abend bis zum Ende verfolgte, sah etwas völlig anderes - nämlich eine grandiose Neuausdeutung der Nathan-Figur durch den an diesem Haus seit langem konkurrenzlosen Schauspieler Ahmad Mesgara. Nicht als einen eloquent-weltweisen Geschichtsrhetoriker, der, wie noch sein Dresdner Nathan-Vorgänger Dieter Mann, mit der charismatisch zelebrierten Stringenz vorgebrachter Argumente zu überzeugen versuchte, legte dieser seinen Nathan an, sondern als einen heillos-zerrissenen Unbehausten, der angesichts der Zeitenläufe eine Chance zur Versöhnung nicht mehr finden kann. Durch die effekt- und kalkülbefreite Reduktion seiner immensen komödiantischen Mittel gelingt dem Darsteller diese Rollenanlage in überzeugender Weise. Das Weglassen der theatralischen Mittel korrespondiert dabei mit dem Wegfall der Gründe menschlicher Hoffnung. In der Konzeption des Abends gerät dieser Nathan deshalb zwangsläufig in eine Abschieds-, Projektions- und Kommentarsituation; insofern zielt der Vorwurf des Rezensenten, Nathan würde zu einer "Randfigur" degradiert, ins Leere, weil ja genau diese Statusverschiebung des Akteurs die aktuelle Zeitbezogenheit dieser Inszenierung überhaupt erst ermöglicht. Entscheidend dazu bei trägt auch die Darstellerin der Recha, Nina Kirmanoglu, ausgebildet an der UdK. In einem wohl zehnminütigen Monolog, halb Rap, halb Klagegebet, dessen nicht im Programmheft ausgewiesene Textkomposition an Sentenzen von Sivan Ben Yishai erinnert, bringt sie mit ungebärdig-motorischer Kraft die Referenz der Gegenwart in das Geschehen ein. Ihren vermeintlichen Vater Nathan hält sie dabei wie eine Marionette am Schlafittchen, was dieser (auch dies ein Bravourstück) geschehen lässt, bevor sie beide, sich umklammernd, in der gemeinsam empfundenen Ausweglosigkeit ihre Verbundenheit dokumentieren. Das sind anrührende Momente eines Schauspielertheaters, das in diesem, viel zu seltenen Fall, durch den Verschnitt mit aktuellen Texten nicht denunziert, sondern in einen völlig neuen Resonanzraum geführt wird. An dieser Stelle muss auch der Widerpart Nathans, Saladin, gespielt von Philip Grimm, dessen Rollenanlage der Rezensent als "Kasper" missversteht, noch Erwähnung finden: Grimm bietet mit seinem moralfreien Großmachthaber-Zappelphilipp eine vitale Kontrastposition zur versteinernden Handlungsfigur des Nathan. Ohne die dadurch entstehende Spannung zweier vollends konträrer Charaktere (oder: Charaktermasken) würde der elementare Rückzug des Protagonisten Nathan unverständlich bleiben. Im Übrigen: Wer Grimm in "Lulu" gesehen hat, und ihn nun auch in dieser Rolle verfolgt, wird nicht umhin kommen zu konstatieren, dass ein maßvollerer Einsatz der auch ihm zur Verfügung stehenden Mittel seine Prägnanz fürderhin steigern könnte, dass dafür aber ein Ratschlag aus dem Reich der Normalität wenig taugt. Sein Weg, so spürt man, führt über solche Stege, die kaum einer kennt und deren Wegmarken mit Rausch, Experiment und ergebnisoffener Totalität zu beschreiben wären. Eine gute Konstellation und ein überzeugender Theaterabend! Paul Kaiser, Dresden
Nathan, Dresden: Unterschätze nicht den Kasper!
Unterschätze niemals den Kasper, denn er hat Geld, Macht und Einfluss in das Weltgeschehen und wird es maßgeblich verändern.
Hier meine drei Top Kasper unserer Zeit:
Elon Musk
Donald Trump
Boris Johnson
Grüße an Herrn Bartsch
Nathan, Dresden: Das liebe Geld
Es ist unglaublich, dass hier so offenkundig populistisch gegen die finanziellen Möglichkeiten eines Theaters Stimmung gemacht wird. Als gäbe es derzeit nicht ohnehin die schon existenziell bedrohenden Kürzungen im Kulturbetrieb. Etwas mehr Soldarität und Unterstützung wäre dagegen von Nöten. Es ist doch gut, dass es noch Orte gibt, an denen eine Förderung in dieser Größenordnung noch moglich ist. Eine 'Kritik', die kaum als Kritik taugt.
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