Samsa, öffne dich!

14. September 2024. Brücken wolle er bauen, sagt Interimschef Ulrich Khuon über sein Spielzeitprogramm für Zürich. In Leonie Böhms Kafka-Adaption stürzt sich Gregor Samsa stattdessen in einen Teich. Und siehe da: Stille Wasser sind zutiefst verunsichernd.

Von Leonard Haverkamp

"Die Verwandlung" in der Regie von Leonie Böhm am Schauspielhaus Zürich © Gina Folly

14. September 2024. Jetzt also wieder die Toten. Nach ihrer Zusammenarbeit mit Kim de l’Horizon und der gemeinsamen Überführung von "Blutbuch" in "Blutstück", bei dem die Autorenperson höchstselbst mitspielte, kehrt Leonie Böhm zu ihrem Kerngeschäft zurück: dem Frisieren von Klassikern, deren Autoren sich höchstens ein paar Meter unterhalb der Bretter herumwälzen können. Bühne frei also!

I'm so excited, I just can't hide it

Diese wird aber erstmal eher zaghaft begangen. Unter der Tribüne, auf der die Zuschauenden in der Zürcher Schiffbaubox gespannt das Bühnenstillleben beschauen, wehen ein paar Stimmen hervor: "I'm so excited, and I just can't hide it." A cappella und alles andere als schmissig. Das "just can't hide it" ruft dann die ersten Gluckser beim Publikum hervor. Anschließend umgarnen Vincent Basse, Lukas Vögler und Eva Löbau ihr Habitat, lugen aber zunächst schüchtern hinter dem wellenförmig abgeschnittenen, weißen Vorhang hervor, der in einem Halbkreis das durchsichtige Off markiert. In der Bühnenmitte führt ein riesiger Baumstamm über einen orange-lachsfarbenen trockengelegten Betonteich, der gut und gerne eine Minigolfbahn sein könnte (Bühne: Zahava Rodrigo).

Jede*r darf mal Gregor Samsa sein: Lukas Vögler und Vincent Basse in Leonie Böhms Kafka-Version © Gina Folly

"Augenblick, wir kommen sofort!" So richtig trauen sich die drei noch nicht. Etwas neurotisch und ehrlich-zerbrechlich tasten sie sich vor – Böhmspieler*innen halt. Vögler und Basse dürften dem Zürcher Publikum bekannt sein, sie kamen 2019 mit ihr ans Schauspielhaus. Auch Löbau hat schon öfter mit Böhm zusammengearbeitet. Die beiden letzteren überwinden sich dann doch und treten auf die Bühne.

Die Verwandlung lässt allerdings weiter auf sich warten. Stattdessen Erklärungen und versuchte Ausflüchte aus dem Stottern. Basse habe schon öfter ein solches Unwohlsein empfunden. Vögler versucht, sich in seinem Heimatdialekt aufzulockern. Man sei gespannt, wie sich die Ohnmacht heute auflöst (und spannt dabei auch ein wenig auf die Folter). Sie seien einfach noch verschlossen, erklärt Löbau. "Wie Vorhängeschlösser, die man so an Brücken hängt." Basse wolle jetzt mal nach dem Schlüssel tauchen, erklärt er und springt, alle vier von sich gestreckt, in das Betonbecken – und taucht ab! Scheinbar hat die Verwandlung doch schon stattgefunden. Was nach trockenem Beckenboden aussah, schlägt jetzt kleine Wellen, die sich auch gleich auf den Vorhängen spiegeln.

Ehrlicher Knochen in Reihe drei

"Samsa öffne dich": Noch ein wenig Rumgeplansche, dann folgt er endlich, der berühmte Einstieg von Kafkas Erzählung. Nach dem Erwachen aus den unruhigen Startschwierigkeitsträumen findet sich Vincent Basse, die Knie noch im Wasser, tropfend zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Um ihn aufzubauen, bieten seine Mitspielenden an, einen Happen aus dem "Buffet der Zwischenmenschlichkeit" zu wählen – er wählt einen ehrlichen Knochen in Reihe drei. Erkennt, dass er sich eigentlich auch nicht so ernst nehmen will und rutscht dann auf einem Schluck Wasser herum, den Vögler vor ihm ausgeschüttet hat – die Freiheit der Fruchtfliege im Gammelkühlschrank.

Alle Probleme gut kommuniziert: Vincent Basse auf Zahava Rodrigos Bühne © Gina Folly

So geht es dann auch weiter. Jede*r darf mal Gregor Samsa sein, und die Gefühle der anderen Familienmitglieder haben natürlich auch ihre Berechtigung. Mal etwas zähflüssig, wenn Basse und Löbau sich beim Planschen mit grauen Fäden benetzen. Dann plötzlich doch wieder schwungvolll, wenn Basse als überforderter Vater den Ast heruntergestakst kommt – "Ich glaube, ich muss mir gleich wieder eine kleine Gewalttat zuschulden kommen lassen" – und die anderen beiden mit quietschenden Füßen und viel zu kurzem Minirock um die Bühne jagt. Natürlich werden alle Probleme gut kommuniziert, seien es Sexflauten in der Paarbeziehung, das Nicht-um-Hilfe-bitten-Können eines Sohnes oder sonstige Krisen, wie sie jede mitteleuropäische Kleinfamilie kennt.

Aufkommende Zuversicht

Das tut, wie immer, gut – wer auf einen Therapieplatz wartet, kann die Zeit getrost in Böhm-Stücken überbrücken. Da kommt bezüglich des Zwischenmenschlichen auch Zuversicht auf, dass man selbst den zähesten Familienfestdurchhaltemarathon irgendwie humorvoll unterwandern kann, bis er ganz leichtfällt (man soll ja jetzt wieder mehr miteinander reden). Trotzdem wirkt dieser Klassiker irgendwie bestellt. 100 Jahre Kafka, Leonie Böhm – kann ja eigentlich nichts schiefgehen? Das tut es auch nicht. Trotzdem fragt man sich ein wenig, ob Ulrich Khuons Brücken wirklich den Kopf durchlüften oder eher der sichere Weg über troubled water sind. Wir dürfen gespannt sein.

Die Verwandlung
nach Franz Kafka
Regie: Leonie Böhm, Bühnenbild: Zahava Rodrigo, Kostümbild: Sophie Reble, Licht: Gerhard Patzelt, Musik: Vincent Basse, Lukas Vögler, Eva Löbau, Dramaturgie: Fadrina Arpagaus.
Mit: Vincent Basse, Lukas Vögler, Eva Löbau.
Premiere am 13. September 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Diese "Verwandlung" verwandle nicht nur das das dreiköpfige Ensemble, sondern auch das Publikum und flashe einen, so Alexandra Kedves im Tagesanzeiger/Bund/Basler Zeitung (14.9.2023 online, ). Das Trio Vincent Basse, Eva Löbau und Lukas Vögler spiele "sich hier geradezu selbst an die Wand: grandios!" Im Impro-Style beamen sie alte Textteile organisch in heutige Kontexte und Diskurse hinein und mitten in unsere Sweetspots. Auf eine absurde Tour werde man mitgenommen. "Kafkas Fragen nach der eigenen Identität, nach dem Platz in der Gruppe und der Gefangenschaft in gesellschaftlichen Erwartungen erreichen die Zuschauenden."

Eine "weichgespülte 'Verwandlung'" sah dagegen Roman Bucheli für die Neue Zürcher Zeitung (14.9.2023 online). Ein Planschbecken nehme den größten Teil der Bühne ein, "also Schwimmlektionen mit Kafka". Das sei alles nicht besonders originell. "Es ist sogar ziemlich abgedroschen und schülertheatermässig. Aber es ist lustig, ein wenig komisch zuweilen, weil mitunter plötzlich Kafka-Sätze zu hören sind, die, ganz aus dem Zusammenhang gerissen, eine neue Bedeutung erhalten." Der zähe Anfang ergieße sich dann wörtlich in eine lange Reihe von Schwimm-, Tauch- und Lebensrettungsübungen.

Kommentare  
Verwandlung, Zürich: Nur Kafka wird das überleben
Man muss es offen sagen: Der subversiv-mehrdeutige Kafka passt nicht in unsere Welt, wo eindeutige Unmissverständlichkeiten gefragt und Ambivalenzen verdächtig sind. Überhaupt ist er viel zu unangepasst und denunziert die Welt der spießigen Untertanen, Pflichterfüller, Mitläufer, Moralapostel und Befehlsempfänger auf das Köstlichste. Nun wird man seiner endlich Herr(in), doch nicht mehr wie früher, als die Biederbürger gerne zum Lächerlichen tendierende Verkleinerungen des Alptraumhaften versuchten. Nein, nun macht man einfach irgendetwas, wobei dieses Irgendetwas mit Kafka etwa so viel zu tun hat wie ein deutscher Autorenfilm mit einem Orson Welles-Film. Man versucht gar nicht erst, Kafka gerecht zu werden, sondern es wird einfach Sinnloses geboten, um ihn dadurch auf seinen Platz zu verweisen und für den aktuellen deutschen Theater(regie)geschmack konsumierbar zu machen. Als toter Autor kann er sich ohnehin nicht mehr gegen falsche Freunde wehren.
Ja, Kafka wird letztlich auch das überleben, das deutschsprachige Subventionstheater jedoch vielleicht eher nicht. Insofern ist der Zürcher Plan einer sanften Renovierung des Pfauen zwar klüger als die bis vor kurzem geplante Zerstörung, aber eigentlich auch schon so irrwitzig wie ein Kafka-Text, wo die Bösen stets das völlig Sinnentleerte munter vorantreiben.
Verwandlung, Zürich: Wo bleiben Kafkas Zumutungen?
Liebe Nachtkritik Team, die Rezension der nzz habe ich auch gelesen und diese ist bei der nk leider stark selektiv zusammengefasst. Ich möchte nur! ein paar Aspekte der nzz Kritik herausgreifen, welche auch meine Gedanken bzgl des Stücks gut beschreiben.
Was blieb von Kafka und seiner Erzählung bei der Zürcher Inszenierung noch übrig?
Sollen Kafkas Zumutungen ausgelöscht werden? "Weil er zu radikal die Abgründe dessen zeigt, was dem Menschen möglich ist - seinesgleichen auszulöschen". Dies wird m.E. i. Schauspielhaus Zürich leider umgesetzt.
Meine Bitte: es wäre sehr wünschenswert wenn die Regie bei Inszenierungen mehr tiefergehendes Wissen bzgl. Psychologie/dass Unbewusste einfließen liesse.
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