Chefassistentin der Obdachlosen bittet zum Tête-à-tête

von Dorothea Marcus

Bonn, 18. Februar 2009. Fast drei Jahre ist es auch schon wieder her, dass Sibylle Bergs letztes Bühnenwerk, das Musical "Wünsch dir was", in Zürich zur Uraufführung kam. Und eigentlich lässt sie ihre Stücke ja auch fast nur vom Regisseur Niklas Helbling uraufführen. Es ist daher schon bemerkenswert, dass sie einfach so einen Stückauftrag vom Theater Bonn angenommen - und Regisseurin Schirin Khodadadian an ihr neuestes Werk gelassen hat, die auch schon Werke von Theresia Walser auf die Bühne brachte.

Leider ist von der Uraufführung noch nicht einmal auf Sibylle Bergs Homepage zu lesen, und sie selbst, jene feine und berühmte Chronistin der alltäglichen Erbärmlichkeit, kommt zum Schluss auch nicht auf die Bühne – sie weilt derzeit auf Reisen in Asien. "Die goldenen letzten Jahre" ist trotzdem als echter Berg-Text zu erkennen. Ein groteskes, zynisch-desillusioniertes Singspiel über Zu-Kurz-Gekommene. Denn schon als Bea, Rita, Uwe und Paul zusammen zur Schule gingen, war die Welt alles andere als in Ordnung, denn sie waren schon immer etwas anders. Außenseiter, Loser, übergewichtig, körperlich deformiert, mit Sprachfehlern und Beinschienen.

Alle Unzulänglichkeiten des Menschenleben
Zu viert sitzen sie als ausgestopfte Karikaturen auf einem Sofa zwischen einer Dschungeltapete, es zirpt und grollt aus dem Papierwald, vor ihnen liegt ein Haufen toter Tiere: Stofftiere, Kaminvorleger, ausgestopfte Jagdtrophäen. Später wird der Bärenkopf lebendig und immer von jemand anderem gespielt.

Weil die jämmerlichen Hauptfiguren noch nie etwas zu verlieren hatten, vor allen Dingen nicht ihre Schönheit, kann es nur besser werden mit dem Alter - nach Startschwierigkeiten in die Welt des unerbittlichen Scheins entdecken sie mit den Jahren, wie befreit es sich lebt, wenn man keinen Ansprüchen hinterherjagt, und kommen zu innerem Frieden, bescheidenem Aufstieg und zu ihren "goldenen letzten Jahren".

Doch zuerst erzählen sie auf einem imaginären Klassentreffen viele Jahre später abwechselnd von ihren miesen Schülererlebnissen. Bea hatte Kinderlähmung, trägt Beinschienen und verlor ihren einzigen Freund in der Pubertät. Susanne Bredehöft zieht ihren rosa Rock hoch, so dass man die Blümchenunterhose sieht, ihre Jugendliebe entjungfert sie vor seinen grölenden Freunden. Uwe spuckt beim Sprechen und stinkt. Anke Zillich trägt eine grotesk ausgestopfte Trainingsjacke und zurückgegeltes Haar. Paul (Günter Alt) macht unter seiner roten Perücke ein recht debiles Babygesicht. Rita, von Stefan Preiss als verkrampft androgynes Mannweib gespielt, wird von niemandem bemerkt, macht später einen bescheidenen Aufstieg als Chefassistentin eines Obdachlosenheims - bis sie tagelang im Keller vergewaltigt wird.

Klassentreffen und Aufstieg ins Alter
Es sieht ganz schlecht aus für die Superloser: die miesen Jobs als Tierpfleger, Putzfrau oder Möbelhausmitarbeiter verlieren sie meist gleich wieder und müssen konstatieren, dass die Welt in reiche, smarte Alphatiere und sie selbst aufgeteilt ist. Bis sie viele Jahre später zu Bestimmung und zur inneren Ruhe finden und alles doch besser wird, "das Älterwerden war uns ein Geschenk", während sich die ehemaligen Schulstars und reich Geheirateten mit faltigen Tätowierungen und Piercinglöchern herumschlagen müssen.

Leider trägt die simple Erkenntnis, dass im Leben nicht alles so bleibt, wie es in der Schulzeit schien, nicht besonders weit - und sicher keinen Theaterabend. Natürlich erkennt man schöne, allgemeingültige Berg-Kolumnen-Sätze wieder, wenn Paul sagt "Ich hatte das Gefühl, mein Leben war losgefahren, ohne dass ich aufgesprungen war", oder "Es wäre so schön, mich nicht mehr so wichtig zu nehmen - in Ermangelung anderer Themen". Doch Bergs unerbittlich zynische Melancholie will höchstens in den Songtexten (Musik: Michael Barfuß) aufkommen - ansonsten wird sie resolut und möglichst grell weggewitzelt.

Grelle Ausleuchtung
Regisseurin Khodadadian ist offenbar nicht auf den Gedanken gekommen, die Figuren anders als Karikaturen auszustaffieren. Traurigkeit oder Einsamkeit kommt niemals auf - stattdessen wird gebrüllt und gepresst, weil es ja unbedingt ein grotesk-distanziertes Lustspiel sein muss. Einem sehr lustigen Monolog des ehemaligen Klassenlehrers (Ulrich Hass) über die Verweigerung des Alterns wird jede Komik verweigert, wenn die anderen dazu haltlos auf dem Sofa kichern.

Und so ist es eine Aneinanderreihung von unglaubwürdigen Schauspielerauftritten mit falschen Tönen, die distanziert und ohrenbetäubend ausgestellt so tun, als seien sie benachteiligte Wesen und sichtlich wünschen, man würde sich darüber auf die Schenkel klopfen. Vermutlich gibt auch das holzschnittartige Stück eine tiefere Auseinandersetzung mit falschen Lebens-Zwangsbildern nicht her und erzählt nichts darüber, wie es passieren kann, dass sich im Alter ja vielleicht doch Schein und Sein vertauschen, ein ja letztlich doch tröstlicher Vorgang.

Und es erzählt auch nichts darüber, dass man sich doch auch schon früher Lebensnischen suchen könnte und es eine Aufteilung in Loser und Alphatiere ohnehin gar nicht gibt. Ermüdendes Thesentheater, das allerdings das Publikum nachhaltig zu begeistern schien - der Applaus wollte gar nicht mehr aufhören.

 

Die goldenen letzten Jahre (UA)
von Sibylle Berg
Regie: Schirin Khodadadian, Ausstattung: Carolin Mittler, Musik und Musikalische Leitung: Michael Barfuß.
Mit: Susanne Bredehöft, Anke Zillich, Günter Alt, Ulrich Hass, Stefan Preiss.

www.theater.bonn.de

 

Mehr über Schirin Khodadadian? In Kassel inszenierte sie im September 2008, von uns sehr gelobt, Koltès' Trunkener Prozess. In Kassel, und zwar im März 2008,  brachte sie Theresia Walsers Stück Morgen in Katar zur Uraufführung. In Mainz inszenierte sie im Dezember 2007 Schillers Jungfrau von Orleans.

 

Kritikenrundschau

Im Deutschlandradio (Fazit, 18.2.2009) gab es am Tag der Premiere ein Gespräch mit Schirin Khodadadian (hier zu hören bis 18.7.2009), die Kritik von Ulrich Fischer folgte am späten Abend. Für ihn gehören die "Courage der Dramatikerin, das Thema und die Konstruktion der Figuren" "zu den Stärken des Stücks". Die Liedtexte allerdings überzeugten ihn nicht. "Humorvolle Verse gehören zum Diffizilsten, was es gibt", und Sibylle Berg gelänge "kein Aphorismus, der das Zeug zum geflügelten Wort hätte." Auch Michael Barfuß, der "die Gedichte einfühlsam vertont" hätte, könnte keinen "Ohrwurm" vorweisen, "die Rechnung mit dem Singspiel ging nicht auf, obwohl das fünfköpfige Ensemble sich mächtig ins Zeug legte." Dennoch "hatte die Vorstellung genug Schwung, um ganz im Sinne Sibylle Bergs Mut zu machen: gegen die Ausgrenzung, gegen zerstörerische Konkurrenz, für die Autonomie jedes Einzelnen, aber auch für mehr menschliches Miteinander."

Im Bonner Generalanzeiger (20.2.) freut sich Dietmar Kanthak indessen, dass Bergs Figuren "vor Carolin Mittlers surreal-albtraumhaftem Wald- und Tier-Tableau in der Werkstatt" sitzen und "zur Besichtigung freigegeben" sind wie vom österreichischen Karikaturisten Manfred Deix gemalt. Vier Gehinderte und Geschlagene, "die in einer Welt, wo der Mensch des Menschen Wolf ist, zwangsläufig untergehen müssen". Doch bei Berg seien sie es, die am Ende überlebten. Und wie Schirin Khodadadian die vier Schauspieler das zeigen lasse, wie Susanne Bredehöft, Stefan Preiss, Anke Zillich und Günter Alt sich den Figuren hier von außen und von innen" näherten und sie "als Slapstick-Puppen und als Seelenkrüppel" zeigten, das findet Kanthak bemerkenswert. Dazu noch Songs "mit Hit-Potenzial"– das Publikum hätte mit Sybille Bergs böser Süffisanz erst warm werden müssen, sich dann aber offenbar umso besser amüsiert.

Peter Michalzik schreibt in der Frankfurter Rundschau (20.2.2009), dass es schwierig sei, die Zukurzgekommenen für die Bühne aus ihrer Medienpräsenz zu erlösen: "Da das private Fernsehen solche Figuren längst als Quelle der Heiterkeit entdeckt hat, ist ihr subversives Potential sozusagen totgelacht." Trotzdem schaut er "mit wohligem Gruseln zu wie im Panoptikum". Ulrich Hass als Lehrer allerdings, bei dem sich die ehemaligen Schüler versammeln, "passt als wort- und gestenreicher Conferencier einfach nicht in die sonstige Beiläufigkeit". Die Lieder hingegen seien "schön", und je "länger es geht, desto mehr klingt das wie die sanften Songs einer neuen alternativen Bewegung, irgendwo versteckt sich da ein neues Selbstbewusstsein". Insgesamt überzeugt ihn die Wer-zuletzt-lacht-Botschaft von Stück und Inszenierung: "In dem unübersehbaren Schriftgut, das die absehbare Flut der Alten schon ausgelöst hat, ist Sibylle Bergs kleines Stück eines der glaubwürdigsten. Und zur Krise passt es auch."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.2.2009) zeigt sich Andreas Rossmann von Sybille Bergs "kapitalistische(r) Märchenparodie, deren Haltbarkeitsdauer gerade erst abgelaufen ist", fast wider Willen amüsiert. Michael Barfuß hätte es mit "schmissig vertonten Liedern zum grotesken Singspiel aufgemischt, und Schirin Khodadadian inszeniert es mit einem spielfreudigen Ensemble allzu schadenfroh als Klamotte". "Rasselbandig" würden die Darsteller "auf der Stelle" "trampeln", "feine Komik ziselierend, doch äußerlich grell entstellt. Ein Plüschtier-Bestiarium, das es gerade mal auf Filmlänge bringt. Nicht erheblich und schon gar nicht erhebend, aber ganz schön erheiternd."

Auch Christine Dössel findet, wie sie in der Süddeutschen Zeitung (20.2.2009) schreibt, dass "Schirin Khodadadian kein ganz so leichtes Händchen (hat), wie Bergs bös-spinöser Humor es bräuchte". Schön seien jedoch die von Michael Barfuß vertonten "Songeinlagen", "die der Inszenierung einen Halt im Traurig-Poetischen geben" – ihren "Herzrhythmus". Den jedoch könnte man sich durchaus "schneller" und "greller" vorstellen. Denn Bergs Stück hätte "das Zeug zum Grusical": "eine Lebensschocktherapie mit Happy-End".

 

 

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