The Hunger - Volksbühne Berlin
Schiel mir das Lied vom Kannibalen!
20. September 2024. Ein argentinischer Romanklassiker, in dem orgiastisch Menschen verspeist werden, dient Constanza Macras als Sprungbrett für ihren Abend über die seltsame Spezies Homo Sapiens. Vom Seemannsschmaus springt "The Hunger" zum Gruppensex, vom Kochvideo zum modernen Wirtschaftssystem – und landet immer: im Leben.
Von Christian Rakow
20. September 2024. Arme Anne Ratte-Polle! Nachdem das Fernsehen nur noch Schrott dreht und das echte Leben längst auf Social Media stattfindet und sie selbst in einer TV-Werbung nurmehr als Kuh-Darstellerin gebraucht wurde, hat ihre Agentin sie an eine Theaterproduktion vermittelt: "Die war so eine Mischung aus Text und Tanz und ein bisschen Gesang und Mix Media, war mir alles nicht so ganz klar." So sagt sie es. Und verabschiedet sich mit wild schielenden Augen.
Es ist natürlich ein Spaß, wie so vieles an diesem Abend ein großer Spaß ist. Denn dass sie an der Volksbühne mit Musik und "Mix Media" rumtun, das weiß Anne Ratte-Polle natürlich. Sie war über Jahre, schon bei Frank Castorf, eine Ankerfrau der Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Und bei Constanza Macras, die seit der Intendanz von René Pollesch eine feste Größe am Haus ist, hat Ratte-Polle eh auch schon gespielt (in "Der Palast"). Trotzdem ist es schön gesagt: Text, Tanz, a bissl Gesang und Live-Video. So ist das bei Macras. Klingt schlicht und kann doch so toll sein.
Griff nach grausigem Stoff
Mit ihrem neuen Abend "The Hunger" greift die Choreographin Constanza Macras nach einem grausigen Stoff, den sie dem argentinischen Romanklassiker "Der fremde Zeuge" von Juan José Saer entnimmt (veröffentlicht 1983). Eine Schiffsmannschaft spanischer Konquistadoren Anfang des 16. Jahrhunderts wird in Südamerika von einem indigenen Stamm überwältigt und in orgiastischen Festivitäten verspeist. Nur ein Spanier überlebt und gibt als fremder Zeuge Rapport von den Sitten und vom kannibalischen wie erotischen Treiben bei den Eingeborenen.
Wie immer bei Macras wird dieser Stoff nicht geduldig entwickelt, sondern in schnellen, schillernden Szenen lose angespielt. Eher ein Dschungel von Motiven denn eine stringente Geschichte. Mit betont karikierenden Überzeichnungen blenden die Akteure vom Seemannsschmaus zur Gruppensex-Orgie hinüber, um dann fix in unserer globalisierten Gegenwart zu landen, wo Chloe Chua von Fundstücken aus sozialen Netzwerken berichtet: Frauen (Frauen vor allem), die mit Kochvideos Millionen Follower beglücken, oder die sich mit fettiger oder auch veganer Kost zu Tode fressen. So geht das hier zu: Die Jahrhunderte und die Kulturen wechseln, aber die Feste der Fleischeslust sind unverwüstlich.
Metropolis für Androiden
Im Hintergrund der mit wenigen Requisiten eingerichteten Bühne (von Simon Lesemann) ragt ein riesiges Bühnenprospekt auf, das eine spacige Gebirgslandschaft mit futuresken Bauten zeigt: mehr Metropolis für Androiden denn Amazonas-Landschaft. Macras und ihre Tanzkompanie Dorky Park wollen von der Conditio Humana erzählen, vom Großen und Ganzen dieser seltsamen Spezies Homo Sapiens: von ihren Lüsten, die übers Maß gehen, von ihrem modernen Wirtschaftssystem, das sie noch unerbittlicher in den Überfluss treibt, auch von den fiebernden Projektionen auf das Fremde und scheinbar Andersartige. Irgendwann singt die Crew zu den Tunes von David Bowie "Life on mars", weil die nächsten Konquistadoren ja schon an die Tore klopfen: die Musk-Männer auf ihrem Sterntrip zu den Marsmännchen.
Die tänzerische Reise quer durch Zeiten und Orte ist wie gewohnt bestechend athletisch (wie, um Himmels willen, überlebt der Breakdancer Khaled seine Rotationen auf dem Kopf!?!). Sie ist grell, poppig, ulkig, verspielt. Kostümbildnerin Slavna Martinovic tobt sich in einer ganzen Armada von Kleidern aus, mal glitzernder Disco-Style, mal angedeutete bunte Reifröcke, was die Choreographien dann entsprechend anschrägt. Wie im Textlichen ist auch im Bildnerischen und Tänzerischen alles ein wenig mit schielenden Augen angeguckt. "Ist ja wie bei den Bayern!", sagen sie, wenn das indigene Abenteuer bewältigt ist, und also kommen an dem Abend auch Dirndl und ein zünftiger Schuhplattler zu Ehren (zur Indie-Hymne "I bet that you look good on the dance floor" von den Arctic Monkeys).
Charme der Verschrobenheit
Der Charme des Ganzen liegt gar nicht so sehr in der frappanten Virtuosität, sondern eigentlich in diesem Schielen: in der Verschrobenheit, mit der Macras und Dorky Park ihr Können entfalten. Da stimmt Thulani Lord Mgidi irgendwann mal völlig dilettantisch und out of tune die olle Power-Ballade "I can’t stop this feeling" von REO Speedwagon an, und Anne Ratte-Polle neben ihm (die ansonsten ja vor allem für die wundervoll lakonischen Sprechtexte da ist) muss sich abrackern, an einem Tau (das die Tänzer so scheinbar schwerelos bespielen können). Und natürlich scheitert sie, so wie der singende Tänzer neben ihr an der Melodie scheitert.
Aber ganz langsam übernimmt ein vierköpfiger Frauenchor im Hintergrund, und plötzlich wird alles glasklar, musicalhaft einschmeichelnd, und die ölige Schmonzette kriegt eine seltene Würde. Weil ihr Entstehen miterzählt wurde, das Ringen um den Ton, um die Haltung. Weil alles hier im Werden ist, nie fertig, nie auf letzte Perfektion getrimmt. Weil das Vergehen immer schon präsent ist, im kurzen orgiastischen Moment schon sein Zerfallen – das Ganze ins Fragment gerückt. Mit anderen Worten: Diese Kunst erzählt vom Leben. So unfertig, wie es ist, so überbordend und dann wieder so entkernt. So grausig und so albern. Vom Leben, wie es womöglich nie war, aber doch gewesen sein könnte. Oder einmal sein wird.
The Hunger
von Constanza Macras
Text, Regie & Choreographie: Constanza Macras, Bühne: Simon Lesemann, Kostüme: Slavna Martinovic, Musik: Robert Lippok, Komposition Chormusik: Kristina Lösche-Löwensen, Licht: Kevin Sock, Live-Kamera: Greta Markurt, Dramaturgie: Carmen Mehnert, Tamara Saphir, Leonie Hahn.
Von und mit: Candaş Baş, Adaya Berkovich, Alexandra Bódi, Emil Bordás, Chloe Chua, Oksana Chupryniuk, Deborah Dalla Valle, WooSang Jeon, Khaled, Moritz Lucht, Thulani Lord Mgidi, Steph Quinci, Anne Ratte-Polle, Miki Shoji, Shiori Sumikawa.
Premiere am 19. September 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
Eine Koproduktion mit Constanza Macras | DorkyPark
www.volksbuehne.berlin
Kritikenrundschau
"Macras schlägt den Bogen vom Kolonialismus über kapitalistischen Konsumrausch bis zu Exzessen in den sozialen Netzwerken", berichtet Sandra Luzina im Tagesspiegel (20.9.2024, €). "Das Dorky-Park-Ensemble ist fabelhaft; es singt und tanzt und agiert so lustig wie sexy", schwärmt die Kritikerin. Der Abend sei "maßlos, ausufernd, verschwenderisch in seinen Mitteln – und überaus amüsant". Die Tänzer stürzten sich "mit viel Elan in Exzesse und Exaltationen". Macras habe sich diesmal selbst übertroffen. "Dieses Tanztheater hat das Zeug zum Hit."
"The Hunger" zeige, "wie sich diese Gesellschaft in und mit den sozialen Medien selbst kannibalisiert", schreibt Jakob Hayner in der Welt (20.9.2024). Die Philosophin Nancy Fraser spreche vom "kannibalistischen Kapitalismus", einem "Allesfresser". Und Macras bringe "für bildungsbürgerlich verhätschelte Einsteiger die Slow-Motion-Variante von TikTok auf die Bühne" – was allerdings "harmlos" ausfalle. "Man darf sich sehr zeitgenössisch und kulturkritisch zugleich fühlen, aber viel mehr auch nicht."
"'The Hunger' ist auf der Oberfläche rasant, verrückt und unterhaltsam, und darunter so dystopisch und hart wie schon lange kein Stück von Constanza Macras mehr", stellt Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (20.9.2024, €) fest. Der Abend sei "ein unendliches Spiel der Überschreibungen, der Ausstülpungen, die sich im Lauf des Stücks (wie im realen Leben) immer mehr und medial immer vielschichtiger abspielen – und die alle nur einem dienen, einer unstillbaren Gier", so die Kritikerin. Während es zunächst so wirke, "als habe sich Macras, die Meisterin des Chaos, dieses Mal zu sehr in ihren tausend Assoziationen verzettelt", verdichte sich in der zweiten Hälfte "doch alles grandios".
Von "Illustrationen für einen Gedankenfluss in Andeutungen, der immer wieder fischig wegflutscht, wenn man meint, ihn zu fassen zu bekommen", spricht Eberhard Spreng im Deutschlandfunk Kultur (20.9.2024). "The Hunger" sei "vor allem Show-Biz" und werde "der Volksbühne in unsicheren Zeiten einen großen Publikumserfolg bescheren", meint der Kritiker.
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Manchmal gelingen so schöne Szenen wie in Christian Rakows Einstieg beschrieben, in denen Ratte-Polle den gesamten Abend mit wenigen Sätzen parodistisch zusammenfasst. Stringenz ist nicht die Stärke von „The Hunger“, in dem überbordenden Wust an Ideen und Motiven, den Macras mit gleich drei Dramaturginnen entwickelt hat, gibt es kaum gedankliche Schneisen oder gar einen roten Faden. Macras-Abende werden immer dann richtig gut, wenn es ihr gelingt, ihren Hochenergie-Mix aus Theater, Tanz und Themenschnipseln so zu konzipieren, dass der Betrachter noch eine Chance hat, in der rasanten Show ein Anliegen auszumachen, das die Szenen verbindet, die diesmal zu beliebig angeordnet wirken.
Jubel gab es dennoch am Rosa Luxemburg-Platz, der neben den tänzerischen Leistungen sicher auch dem Durchhalte-Willen des Volksbühnen-Kollektivs galt, dem es gelang, trotz der unklaren Zukunft nach dem Tod des Intendanten einen Premieren-Spielplan für die erste Spielzeit-Hälfte auf die Beine zu stellen, der sich vor anderen Häusern nicht verstecken muss. Das Publikum erwartet eine Mischung aus neuen Namen und bekannten Säulen wie Constanza Macras.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/09/20/the-hunger-constanza-macras-kritik/