Richard III. - Schauspiel Leipzig
Fingerzeig auf den Tyrannen
21. September 2024. Am Schauspiel Leipzig inszeniert Intendant Enrico Lübbe Shakespeares "Richard III." als sich langsam entwickelnde Anklage, die nach und nach Dringlichkeit entwickelt. Feministische Akzente setzt nicht die weibliche Titelfigur, sondern die anderen starken Frauen des Personariums.
Von Michael Bartsch
21. September 2024. Geschichte wiederholt sich doch, möchte man immer wieder angesichts der Shakespeare'schen Historiendramen bekräftigen. Mit dem kleinen Unterschied, dass die Herrschenden im 20. und 21. Jahrhundert zur Absicherung von Macht und Karriere nicht mehr die Verwandten meucheln. Komplizierte Verwandtschaftsgeflechte und Figurenarsenale, wie sie das Leipziger Schauspiel zur Ertüchtigung des Publikums ins Foyer hängt, sind klar fixierten Konkurrenten und Todeskandidaten gewichen. Bei Hitler etwa SA-Chef Röhm, bei Stalin Trotzki oder Marschall Tuchatschewski, bei Putin der Hasardeur Prigoschin oder der Oppositionelle Nawalny.
Tarnung des Tyrannen
In der Leipziger Inszenierung der Shakespeare-Erzählung vom Aufstieg und Fall des Duke of Gloucester, nur zwei Jahre ausgangs des 15. Jahrhunderts als Richard III. König von England, scheint sich das Tyrannische zunächst zu tarnen. Das mag auch an der Besetzung liegen: Anne Cathrin Buhtz in der Titelrolle, aha, die uns jetzt zeigen wird, dass nicht nur Männer skrupellose Despoten sein können. Vermuten konnte man die Vorführung weiblicher Machtergreifung dank ihrer sprichwörtlichen Waffen, Herrschaft über eine ohnehin bei Shakespeare nur schwach profilierte Männerclique.
Doch schon der einzigartige Prolog "Jetzt folgt des Winters Bitterkeit der Sommer unsrer Macht" zeigt eine auch nach Phänotyp eher androgyne Darstellerin. Also eine Ricarda, die bis zur Pause geradezu burschikos auftritt. Ihr/sein Ehrgeiz erscheint als ein Spiel, ein anfänglich harmlos scheinendes Schachspiel mit der Macht, eher aus sportlichem Übermut als aus naturböser Gefährlichkeit geboren. Bis zum Ende trägt er/sie ein weißes Sportshirt, als König dann anachronistisch mit Krone und Schwert kombiniert. "Oft handeln Männer ohne tieferen Sinn", sagt im vierten Akt Richard/Ricarda über sich selbst. Diese Gewöhnlichkeit, in der Brutalität fast wie ein Schabernack erscheint, macht diese Figurenzeichnung so anschlussfähig. Wer auf den Tyrannen mit dem Finger zeigt, zeigt auch auf sich selbst.
Es war einmal...
Dieses Wiedererkennen anthropologischer Konstanten stellt sich hinsichtlich der Wiederholbarkeit von Geschichte nicht im gleichen Maße ein. Man kann Leipzig zunächst einmal nur beneiden, dass das Schauspiel in Enrico Lübbe einen Intendanten hat, der auch eine durchdachte Regie führen kann. Und es tut gut, einen Klassiker ohne Regietheatermätzchen auch "klassisch" unter Bemühung eigener Rezeptions- und Assoziationskraft nacherleben zu können. Die Übersetzung von Thomas Brasch ist am Haus noch einmal bearbeitet worden.
Die Kehrseite dieses Verzichts auf plakative Gegenwartsparallelen ist ein "Es war einmal"-Gefühl, das das brutale Drama eben nicht als sich ewig repetierende unendliche Geschichte erscheinen lässt. Diese historisierende Distanz schwindet erst im vierten und fünften Akt, bei grellem Licht vor dem Eisernen Vorhang, auf dem mit Leichen in Plastiksäcken übersäten Schlachtfeld von Bosworth.
Da wird es dringlich. Vielleicht, weil Richard persönlich zuvor dem einstigen Getreuen Buckingham den Hals umgedreht hat, der einzige sichtbare Mord. Statt eines Entscheidungskampfes mit Richmond sinkt er einfach zwischen die Leichensäcke, und man empfindet seltsamerweise nicht einmal Genugtuung, dass das Schicksal den Kapitalverbrecher endlich gestraft hat.
Anschwellende Anklage
Da ist die schwarzdüstere Bühne schon fast leer, die anfangs wie eine Scheune mit vielfach unterteilenden vertikalen Lattenrosten anmutet. Recht geschickt für den Schauplatzwechsel mithilfe der häufig kreisenden Drehbühne. Was die Hollywoodschaukel und eine nie benutzte Badewanne in diesem Labyrinth suchen, muss man nicht ergründen, denn das Publikum goutierte auflockernde Situationskomik gern.
Gewiss auch die Kostüme, die sich in ihrer schrillen Widersprüchlichkeit und mit Jahrhunderte übergreifenden Kombinationen jeder Einordnung verweigern. Bleibt die Titelrollengestaltung ambivalent, fast schon queer, so profilieren sich die vier Frauen- und Müttergestalten immer mehr als starke und moralische Instanz. Es bleibt nicht bei der Klage über ihre den Machtgelüsten Richards geopferten toten Geschwister, Gatten und Kinder. Sie schleudern dem Tyrannen ein "Agent der Hölle" entgegen. Die volatilen Männer hingegen bringen es nicht fertig, "nein" zu sagen, gar aufzustehen.
Der Hinweis auf durchweg höchste Leistungen im Leipziger Schauspielensemble erübrigt sich angesichts des minutenlangen Schlussbeifalls schon fast. Nach Hause nimmt man, doch sehr gegenwärtig angerührt, den letzten provozierenden Satz von Richard mit: "Gewissen ist für Feiglinge ein Wort!"
Richard III.
von William Shakespeare
Deutsch von Thomas Brasch, Fassung des Leipziger Schauspiels von Marion Tiedtke
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Sabine Blickenstorfer, Video: Robi Voigt, Musik Bert Wrede, Dramaturgie: Torsten Buß.
Mit: Anne Cathrin Buhtz, Bettina Schmidt, Katja Gaudard, Vanessa Czapla, Larissa Aimée Breidbach, Tilo Krügel, Niklas Wetzel, Sasha Hayes, Denis Grafe, Wenzel Banneyer, Christoph Müller, Denis Petković, Michael Pempelforth.
Premiere am 20. September 2024
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspiel-leipzig.de/
Kritikenrundschau
Enrico Lübbe gelinge "eine Inszenierung, die wohltuend frei von Zeitgeistschnickschnack ist und mit 200 Minuten von angemessen epischer Dauer", urteilt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (29.9.2024, €). "Getragen von einem homogen präsenten Ensemble", schäle sie "den Richard-III-Kern frei: die fatale menschliche Lust an der (Selbst-)Destruktion" und . Die Faszination, die sie ausstrahlt", so der Kritiker.
Veritablen "Thriller-Charakter" bescheinigt Matthias Schmidt Enrico Lübbes Inszenierung auf MDR Kultur (21.9.2024). Der Regisseur setze "nicht auf vordergründige Effekte", sondern biete vielerlei Assoziationen an, habe das Stück "überlegt aktualisiert" und sich vor allem auf die Sprache konzentriert. Die Idee der "Crossgender-Besetzung" der Titelfigur entpuppt sich aus Sicht des Kritikers sogar als "Geniestreich": Sie sorge insofern für einen "Mehrwert", als die Darstellerin Anne Cathrin Buhtz in nichts den äußeren Charakteristika entspreche, die Shakespeare seinem Protagonisten auf den Leib geschrieben hat, sodass die Figur in ihrem Machthunger noch einmal aus einer völlig anderen Perspektive erlebbar werde.
Wenn Anne Cathrin Buhtz die körperliche Missgestalt ihrer Figur anspricht, "schlägt sie nur kurz das Sakko auf, und wir wissen: Das Handicap wird hier auch dadurch verkörpert, dass eine Frau diese Rolle spielt", so Andreas Platthaus in der FAZ (1.10.2024). Das sei ein interessanter und umso konsequenter Ansatz, weil Buhtz ansonsten androgyn auftrete. Was sie in drei Stunden Spielzeit vorführe, "ist eine Tour de Force, die jedoch niemals angestrengt wirkt." Vielmehr legt Buhtz ihren Richard als leise Bedrohung an. "Und dafür feiert das Leipziger Publikum sie und das Ensemble stehend, selbst dann noch, als die Türen schon wieder lange offen sind."
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Ganz hervorragende Leistung des Schauspielensembles, sehr guter Umgang mit Bühne, Licht und Musik. Die Badewanne habe ich übrigens szenisch genutzt gesehen. Lag da nicht Clerance kopfüber drin?
Das Schlussbild war sensationell. Ann Cathrin Buhtz als Richard ein Genuss.
Gestern fand anscheinend ein grosser Theaterabend in Leipzig statt, in einer der größten Städte des Landes. Heute morgen schau ich ins überregionale Feulliton und finde Nichts.
Man stelle sich vor, der Abend hätte in Hamburg, München, NRW stattgefunden. Was wäre da heute los gewesen.
Aber jetzt hat der Ossi erst mal gewählt, es ist irgendwie noch gerade so gut gegangen und wir lesen zum wiederholten Male aus Bochum, Hannover, Hamburg, Düsseldorf, München, Frankfurt, Oberhausen, Köln und so weiter.
"überregionale Feuilleton" (nicht Feulliton , schwieriges Wort) ?
Oder vielleicht doch für die Menschen vor Ort ?
Wenn es gut war wird es sich rumsprechen und das Theater ist voll.
Ich weiß auch nicht, ob sich die Bewohner von Neustrelitz durch "überregionale Medien"
über die Kultur in ihrer Stadt informieren.
Oder soll es "der Westen" erklären was da so im Osten passiert ?
Ball ein bisschen flach halten...
Und warum soll ich dann über München, Hamburg, Wien etc...... informiert werden?
bitte achten Sie beim Diskutieren doch auf eine gewisse Sachlichkeit.
Viele Grüße aus der Redaktion!
Und ich kann nicht jede Regionalzeitung abonnieren! Von dem her ist es berechtigt, dass auch über die "Provinz" überregional berichtet wird.
Es gibt insgesamt viel weniger überregionale Rezensionen, auch zu Hamburg, Hannover, Bochum usw. Das hat zwei Gründe: es gibt bei allen Zeitungen so viele EPaper-Leser, dass jetzt unübersehbar ist, wie wenig extrem wenig Leute das anklicken oder gar ganz lesen. Und Zeitungen haben weniger Redakteure und weniger Geld. Der Platz für Kultur ist auch geschrumpft. Warum sollen sie jemanden hinschicken oder einen Bericht bestellen, wenn es sowieso fast niemand liest? Das hat mit Ost und West wenig zu tun, eher mit dem Interesse der Leser. Ich finde das sinnlos, Journalisten oder Zeitungen zu kritisieren, weil sie sich auch am Bedarf orientieren.
Was man kritisieren könnte: ich finde, es sind in den letzten Jahrzehnten neue Arten entstanden über Politik, Sport, Literatur zu berichten und die Schreibe hat sich sehr verändert. Viele Rezensionen (nicht alle) lesen sich heute aber genauso dröge wie vor 20, 30 Jahren. Und es gibt halt oft viel Meinung und wenig anschauliche Beschreibung oder gar Analyse. Warum soll also jemand lesen, was ein unbekannter Journalist zu einer Aufführung in A, B oder C wenig lebendig und emotional geschrieben so meint?
Das nimmt dem Theater das Geheimnis.
Frau kann sich über jedes Stück bis zum abwinken im Netz informieren und abwägen, ob es ihrem Geschmack entspricht.
So haben es die Zeitungen und ihre Kulturkritikerinnen nicht mehr leicht, denn auch sie müssen verkaufen was interessiert.
Mit dieser endlosen Informationsüberflutung schaufeln sich die Theater ihr eigenes Grab.
Wahnsinnig intensives Schlussbild. Mal wieder richtiges Theater ohne angestrengte Zeitgeistmodernismen. Toll