Glaube, Geld, Krieg und Liebe - Schaubühne Berlin
Und dann heben wir einfach ab
4. Oktober 2024. Robert Lepage, der große kanadische Bildererfinder, hat erstmals mit dem Ensemble der Schaubühne zusammengearbeitet. Herausgekommen ist ein Fünf-Stunden-Epos über Herkunft, Traumata, Spielsucht, Krieg, Familie – kurz: über alles. Und vor allem ein Abend, der die ganze Illusionsmacht des Theaters zum Leuchten bringt.
Von Janis El-Bira
4. Oktober 2024. Das gibt's garantiert nicht umsonst, bestimmt noch nicht einmal günstig. Vier LED-Screens, mehr als nur heimliche Hauptdarsteller, sind wie schwebend montiert im Schwarz des Bühnenrückens. Man kann sie drehen und schwenken, alles ohne Rahmen, ohne Geräusch. Atmosphärenzauberkästen sind das, die sich zu den Fenstern eines Zuges formieren, an dem herbstliche Landschaften vorüberziehen. Oder zur spiegelnden Fassade des Pariser Café de Flore, zu Automaten in einem Kasino oder den Bildern einer Kunstgalerie. Bloße Videos – und doch glaubt man beinahe an Halluzinationen.
Einmal, im alleraberwitzigsten Moment dieser technischen Hexerei, sitzen wir alle zusammen im Flugzeug. Die Finger drücken sich fest in die Armlehne. Die Füße parallel, der Körper aufrecht. Und dann heben wir einfach wirklich ab. Also fast.
Als gäbe es kein Morgen
Mitten in der apokalyptisch anmutenden Debatte zum Berliner Spardiktat landet mit dieser Uraufführung also nicht nur ein seiner sensationellen Videotechnik wegen mutmaßlich sehr teurer Abend an der Schaubühne, sondern vor allem einer, der die ganze Illusionsmacht des Theaters noch einmal delirant zum Leuchten bringt, als gäbe es tatsächlich kein Morgen mehr. Der Kanadier Robert Lepage, mit längst legendären, aber auch betagten Inszenierungen vor zwei Jahren Gast beim FIND-Festival an der Schaubühne, hat für "Glaube, Geld, Krieg und Liebe" erstmals eigens mit dem Ensemble des Hauses eine Produktion entwickelt. Über ein Jahr lang soll gemeinsam am Text gearbeitet, improvisiert und mit Unterbrechungen geprobt worden sein.
Eine spezielle Art von Deutschlandmärchen ist dabei herausgekommen, in dem die Orte Wiesbaden oder Baden-Baden heißen, in D-Mark bezahlt, viel geraucht und auch noch vom lieben Gott geredet wird. Viele Jahrzehnte und etliche Nebenstränge überspannt die Handlung, die sich unter dem Zeichen von vier Spielkarten in ebenso viele Akte gliedert. Es geht um die Traumata von Afghanistan-Soldaten genauso wie um Spielsucht, Herkunftsfragen, Leihmutterschaft und den Krieg in der Ukraine – alles zusammengehalten durch Blutsbande, Familiengeheimnisse und böse Zufälle.
Ein Epos, bei dem auch auf fünf Stunden Spieldauer einiges komprimiert werden will. Eben noch singen ein paar Nonnen das Salve Regina, während sie ein an der Klosterpforte abgegebenes Baby großziehen – da lugt der Säugling, schwupps!, auch schon als junge Frau (Herz der ganzen Sache: Alina Vimbai Strähler) unter dem Tisch hervor, wird eingekleidet und mit einem Köfferchen in die Welt entlassen.
Eine Ehe zwischen Brecht und Netflix
Diese Verdichtung zeitlicher Abläufe hat Methode. Lepage nämlich ist ein Meister nicht nur der kleinsten, sondern mehr noch der schnellsten Übergänge. In unzähligen Miniaturszenen verpuppt sich sein Theater immerfort und in unbestechlichem Erfindungsreichtum. Die Monitore wechseln den Hintergrund, Requisiten werden umgenutzt oder in Sekunden aus dem Dunkel hereingeschoben: Plötzlich ist man an einem Filmset, auf einem Laufsteg oder inmitten eines Bahnhofs an der polnisch-ukrainischen Grenze. Ein Uhrwerk, in dem Brecht und Netflix die unwahrscheinlichste Ehe zu einem Theater der symbolischen Formen eingehen. Nicht um eine Nachahmung von Wirklichkeit geht es Lepage, sondern um deren Zustandekommen aus einem Netz der Verweise und Mehrfachbedeutungen.
Dass hierbei kaum etwas mechanisch rattert, das meiste vielmehr verblüffend luftig bleibt, liegt natürlich an den Schauspielern. Es ist dies eine der wirklich herausragenden Ensembleleistungen der letzten Zeit. Dutzende Rollen teilen sich Damir Avdic, Stephanie Eidt, Christoph Gawenda, Magdalena Lermer, Bastian Reiber, Stefan Stern und Alina Vimbai Strähler. Alle spielen abwechselnd alles – von der kleinsten Statisterie bis zum aktfüllenden Kammerspiel. Unglaublich, mit was für einer tonalen Genauigkeit Eidt und Gawenda den Niedergang eines Paars am Blackjack-Tisch nachzeichnen. Großartig die falschfreundliche Kartoffeligkeit, mit der Bastian Reiber und Damir Avdic als schwules Paar ihrer ukrainischen Leihmutter (Magdalena Lermer) die optimalen Lebensbedingungen diktieren wollen.
Hingegeben an den Erzählsog
Wo so präzise gearbeitet wird, da fällt allerdings auch erst recht auf, wenn's ächzt im Gebälk: Ein Epilog, der ohne Not zu viel verrät. Ein paar Gebrauchsfiguren, die auf Nimmerwiedersehen unter losen Enden verlorengehen. Auch mal Küchenpsychologisches und Plattes. Überhaupt die Frage, ob die Einsichten, die dieser in wenigen Schwächephasen wie theatrale Fahrstuhlmusik dahinplätschernde Riesenfluss mitschwemmt, für sich genommen wirklich so tief sind. Dass unsere Geschicke vom Zufall durchkreuzt werden? Dass die Selbstverwirklichung mancher um den Preis des Leidens anderer erkauft wird?
Und doch: Man folgt jenen rasch verfliegenden fünf Stunden zumeist hingegeben an ihren ungeheuren Erzählsog. Man ist betört von diesen Spielern und verzaubert von der Schönheit des steten Wandels. Es kommt uns teuer, dieses Theater. Aber dafür momentweise auch unbezahlbar.
Glaube, Geld, Krieg und Liebe
von Robert Lepage
In einer Übersetzung von Uli Menke
Regie: Robert Lepage, Bühne: Robert Lepage, Ulla Willis, Kostüme: Vanessa Sampaio Borgmann, Video: Félix Fradet-Faguy, Sound: Stefan Pinkernell, Dramaturgie: Nils Haarmann, Licht: Erich Schneider.
Mit: Damir Avdic, Stephanie Eidt, Christoph Gawenda, Magdalena Lermer, Bastian Reiber, Stefan Stern, Alina Vimbai Strähler.
Uraufführung am 3. Oktober 2024
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen
www.schaubuehne.de
Kritikenrundschau
Robert Lepage werde seinem Ruf als "Bilderzauberer" absolut gerecht, urteilt Barbara Behrendt, die sich "in fünf Stunden keine Sekunde gelangweilt" hat, im rbb (4.10.2024). Die Kritikerin sah "hohe Präzisions-" und eine sehr "starke Ensemblearbeit". Inhaltlich dürfe man allerdings "nicht zuviel erwarten", das Politische sei Lepages Stärke nicht, über achtzig Jahre deutsche Geschichte erzähle der Abend eher stereotyp. Aber man nehme es dem Regisseur "nicht krumm", weil es in seinem Theater ohnehin weniger um "Information" und "Kommunikation" als vielmehr um "Kommunion" gehe. Zumal an diesem "menschenfreundlichen, weltfreundlichen und irgendwie auch positiven Abend".
"Das Stück ist in vielem eine Sensation", schreibt Sophie Klieeisen (€) in der Berliner Morgenpost (4.10.2024). "Wie diese Figuren aufeinandertreffen, sich ihre Schicksale miteinander verketten und von weiteren 57 Geschichten umwoben werden, erleben wir so dicht wie klar, so fein gezeichnet wie komplex komponiert." Lepage erinnere uns endlich wieder daran, "dass die vierte Wand nicht nur zum Durchbrechen da ist, sondern auch zum Erweitern".
"Soviel altmodischer Glaube in die Kraft des Theaters hat im postdramatischen Deutschland Seltenheitswert", lobt Eberhard Spreng in "Kultur Heute" auf Deutschlandfunk (4.10.2024) und auf der Homepages des Autors. Der erste Akt biete "mit raschen Verwandlungen und magischen Bildfindungen geradezu süffiges, berührendes und entzückendes Theater". Danach entwickle Legage immer wieder "Szenen größter theatraler Einfachheit und Klarheit", aber "der große epische Strom seiner fünfstündigen Aufführung" mändere "nun in etwas seichteren Gefilden". Als "Edelboulevard mit Netflix-Dramaturgie. Was aber diesen gewaltigen theatralen Wurf dann doch von dieser Form des menschelnden Entertainments abhebt, ist seine geradezu abenteuerliche Bühnenphysik und der mit ihr fabrizierte Illusionismus."
Robert Lepage ziehe sich "in Berlin eher mit einer Vollprofi-Routineübung aus der Affäre, als eines seiner Meisterwerke zustande zu bringen", bedauert Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (5.10.2024). "Lepage hat das Stück gemeinsam mit den Schauspielern entwickelt, und weil er dabei von den Menschen eines Landes erzählen wollte, das er nur von Gastspielreisen kennt, ist der Griff in die Klischeekiste vielleicht ein wenig zu beherzt", schreibt der Kritiker. "Auch wenn der Abend gegen Ende durchaus Momente emotionaler Dichte entwickelt, sieht man einem großen Regie-Könner und tollen Schauspielern vor allem dabei zu, wie sie vorführen, dass Theater nicht unbedingt subtiler als Netflix sein muss."
"Am besten" gelinge Lepages Erzählung des Nachkriegsdeutschland "in der ersten Stunde, in der sich die Erzählung der Jeanne wie ein atemloser Erinnerungsstrom entrollt. Die dann folgenden Geschichtsstränge aber verlieren immer mehr an Bildkraft", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (5.10.2024). Die Figuren "kleben zu sehr an Erklärungen und Worten, die nur leider nicht viel mehr bieten als arg konventionelles Geschichtsfernsehen, statt reflektierenden Multikunsttheaters, wie von Lepage gewohnt".
"Die Vorstellung läuft hightechnisch so glatt, dass es schwerfällt, sich für ein Individuum wirklich zu interessieren", berichtet Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (5.10.2024). "Die drehbaren Displays verwirbeln Zeitebenen, Geografie und Spielfiguren. Bestechende Oberflächen, fahle Klischees, zündende Dialoge und nerviges Geschwätz. (…) Tolles Handwerk, irre Effekte, lustiger Boulevard." Das alles bot dieser Abend mit "so hohem Einsatz, wie sonst kaum ein Theater es wagt".
Peter Kümmel von der Zeit (10.10.2024) sah "ein Varieté von Plattheiten und ungeahnten Tiefen. Grandiose Szenen und hohle Schablonen wechseln sich ab. Das Stück ist aus nichts, aus Kartenspielerei entstanden, aber diejenigen, die es entwickelt haben, zielen aufs Allergrößte: Sie zeigen uns den Lauf der Welt. Und man kann nicht sagen, dass sie völlig gescheitert wären."
"Ein Stationendrama ohne Angst vor einem bisschen Kolorit", sah Simon Strauss von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (12.10.2024) an der Schaubühne. Das "Politische tritt bei Lepage immer nur im Schatten des Poetischen auf – auch und gerade beim letzten Kapitel, das die moralisch streitbaren Zusammenhänge von Leihmutterschaft behandelt. Es geht Lepage auch dabei nicht um Positionierung, sondern um das stille Dazwischen des Menschen. Er, der ein Meister der Fügungen im technischen wie im emotionalen Sinne ist, schenkt Berlin eine Erinnerung daran, was Theater bewirken kann, wenn man es ernst mit ihm meint: den Glauben an die Liebe und die Hoffnung auf ein Wiedersehen."
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nachtkritikvorschau
Relvant und emotional sind nur die letzten 40 Minuten der Inszenierung, wo wir Menschen in extremen Situationen erleben (die Reise mit dem Zug in die Ukraine, die nicht alle antreten können) und sich die große Zerrissenheit des ukrainischen (und etwas zu dümmlich dargestellten) Leihvaters bei der Kindesübergabe zu erkennen ist - also wo Wunsch / Plan / Naivität Menschlichkeit und Wirklichkeit aufeinanderprallen.
Aber auch wenn man lange Erzählungen mag, und ich freue mich über 4,5 Stden. Inszenierungen, sollte sich mit der Zeit sich eine Relevanz ergeben, diese habe ich weder am Black Jack - Tisch noch in beim endlosen Videocall-Geplänkel mit der Leihmutteragentur erkennen können. Auch wenn Stephanie Eidt und Ensembleneuling Magdalena Lermer toll gespielt haben.
Und die Verknüpfung der Protagonisten kommt nicht an einen Murakami vom Einfallsreichtum heran - man merkt die inhaltliche Improvisation. Ich kann die Begeisterung der Rezension nicht ganz nachvollziehen und in der Probe sind einige in der Probe gegangen bzw. haben sich lieber den zweiten Teil mit einem Glas Wein in der Hand schmackhaft gemacht.
Some call it RAD , IMMER WIEDERKEHRENDER
KREIS.
You get back what u planned
Again and again
dem traumatisierten Afghanistan Soldaten, grauenhafte Klischees und somit für mich keinerlei Empathie für keinen Protagonisten.
Letztlich also zu wenig, sich über schöne Bilder, also die Form zu erfreuen, aber Inhalt
und Empathie zu vermissen.
Sehr viel Zeit nimmt sich Lepage für dieses Unterfangen. So viel Zeit, wie sie sonst nur noch Frank Castorf zugestanden wird. Lepage und sein Ensemble kosten die Längen aus, während die vier LED-Wände Szene für Szene einen neuen Hintergrund evozieren. Über die technische Brillanz dieses Bühnenbilds wurde in den vergangenen Tagen viel gejubelt. Doch inhaltlich bleibt der Abend über weite Strecken erschreckend banal. Die Stränge werden schlecht oder nur kolportagehaft verbunden.
Zustimimung zu #2: Drei Akte und mehr als drei Stunden zieht sich dies bis zur 2. Pause dahin. Erst im vierten und letzten Akt entsteht ein großes, melodramatisches Kammerspiel. In dieser letzten knappen Stunde wird ein Erzählstrang in all seiner Tragik und Komik entfaltet, endlich muss das Ensemble nicht mehr zur nächsten Miniatur hetzen. Der Plot steuert auf den 24. Februar 2022, den Tag der russischen Vollinvasion in der Ukraine zu. Als die Ex-Freundin und Eizellspenderin (Alina Vimbai Strähler) und der Berliner Künstler (Avidc) verloren in der Kiewer Bahnhofs-Kulisse stehen und in den Luftschutzkeller flüchten, kann man nach diesem langen Abend die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/10/06/glaube-geld-krieg-und-liebe-schaubuehne-kritik/