Kleinstadtnovelle - Theater Magdeburg
Ein bisschen Wut
6. Oktober 2024. Als Ronald M. Schernikaus "Kleinstadtnovelle" über ein schwules Coming out und die weit verbreitete Provinzialität im Denken 1979 erschien, galt sie als unerhört. 45 Jahre später macht Regisseur Florian Fischer daraus eine selbstbewusste Feier von Queerness mit Schlagern, stiller Post und Häkelpenis.
Von Matthias Schmidt
6. Oktober 2024. "ich habe angst, bin weiblich, bin männlich, doppelt." Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was die ersten Sätze von Ronald M. Schernikaus "Kleinstadtnovelle" wirklich bedeuten, muss man sich Entstehungsjahr und -ort dazu denken: 1979, Lehrte. Heute würde man den in Magdeburg geborenen Dichter Schernikau wahrscheinlich mit einiger Selbstverständlichkeit queer nennen und für Preise nominieren, damals war sein Debüt schlicht unerhört. Noch 1992 sprach man von einem mutigen "Meilenstein der homosexuellen Literatur", wie es im Programmheft heißt. Einigen wir uns auf "Meilenstein der Coming-of-Age-Literatur"?
Selbstbewusst und gutgelaunt
Die Magdeburger Inszenierung von Florian Fischer holt den Prosatext aus seinem historischen Kontext ins Heute und reduziert ihn dabei (deshalb!) auf den damals skandalösen Vorgang, dass der Schüler "b." seinen Mitschüler Leif verführt habe. Schernikaus Unbehagen am gesamten Schulsystem und an der miefig-piefigen Kleinstadtgesellschaft sowie der Höhepunkt des kleinen Buches, das "Strafgericht" vor dem Kollegium mit dem Ziel, "b." von der Schule zu werfen – gestrichen.
Der Abend schwelgt in Queerness, ist meistenteils nicht angriffslustig, sondern selbstbewusst und gutgelaunt. Eine Selbstbehauptung und streckenweise eine Revue der Lebenslust. Keine Überwältigung, wie es Jan Friedrichs "Blutbuch"-Inszenierung in der vergangenen Spielzeit war, aber ein weiteres farbenfrohes Signal des Schauspiels Magdeburg an die queere Szene der Stadt.
Die Zuschauer sitzen an Tischen im Halbkreis, wie in einem kleinen Revuetheater. Auf der Bühne steht ein riesiges Bett, in dem "b." (so nennt Schernikau den Erzähler) und ein Mitschüler namens Leif sehr schnell (viel schneller als im Buch) landen. Musik prägt diesen Abend. Gleich zu Beginn singt "b." einen Song, der sein Anderssein thematisiert, später folgt ein ausführliches Kapitel zum Thema Schlager.
Schernikau liebte Schlager, und Florian Fischer lässt seine drei Schauspieler Schlager singen und zu Schlagern eine Art Modenschau veranstalten. Wie Manfred Krug da hineingerutscht ist, müsste man bei Gelegenheit nochmal prüfen.
Stille Post und Schlager
Lorenz Krieger und Nora Buzalka spielen den "b.", sind die zwei Geschlechter, die er in sich sah. Der Dritte im Bunde ist Anton Andreew als Leif, und es macht große Freude, diesen drei Schauspielern zuzuschauen. Immer mal treten sie einen Fußbreit aus den Rollen, und es gibt viele Kostümwechsel, die oft zugleich Geschlechterwechsel sind. Kurzum: Man unternimmt viel, um zu überspielen, dass es eigentlich ein Prosatext ist, der hier aufgeführt und manchmal eben auch nur aufgesagt wird. Das Publikum wird angespielt, sogar ein bisschen einbezogen. Stille Post, und herauskommt eine Schwulen-Beleidigung. Vieles mag revueartig wirken, aber der Ernst des Themas liegt beständig in der Luft.
Das Kostüm des Abends trägt Nora Buzalka: einen gehäkelten Penis über dem Slip. Es darf gelacht werden. Lachen befreit. Ein anderes Mal spielt sie – ein Höhepunkt des kurzen Abends – einen Wutausbruch, der die männliche Triebhaftigkeit und Primitivheit klischeehaft auf die Spitze treibt und parodiert. Ein bisschen Wut ist da also doch, bei aller Leichtigkeit.
Die Inszenierung leistet beides: Sie ist für die, die Schernikau kennen und verehren, Hommage an eine Ikone, einen Pionier, einen, der 1991 an den Folgen von AIDS verstarb, und sie ist zugleich die Möglichkeit für Schernikau-Neulinge, ihn zumindest oberflächlich kennenzulernen.
Richtig rund ist sie allerdings bei Weitem nicht. Aus der "Kleinstadtnovelle" fehlt tatsächlich sehr viel, und die knappen Texte, die am Ende aus anderen Werken Schernikaus hinzugefügt werden, zum Beispiel aus seinem erst postum erschienenen Opus Magnum "legende" sowie aus "Irene Binz" (einem Langgespräch mit seiner Mutter, die zur Premiere im Publikum saß und sichtbar gerührt war), wirken relativ beliebig.
Aphoristische Pointen
Was – wie leider immer wieder bei Aufführungen der Texte Schernikaus – zu kurz kommt, ist der Dichter Schernikau. Sein knapper, umwerfender Ton, dieses schnelle Wort-Stakkato aus Beobachtung und Wertung mit den immer wieder geradezu aphoristischen Pointen – er ist nur zu erahnen.
Sei’s drum, man kann ihn lesen und in der Magdeburger Inszenierung prüfen, was für die heutigen Debatten relevant ist. Das Spannende daran dürfte sein, dass darauf jeder eine eigene Antwort finden kann. Mit ein bisschen Abstand zum Thema könnte man sagen: nicht allzu viel – die Situation hat sich seit den 80er Jahren wesentlich verbessert, und Queerness ist allerorten ein Thema, inklusive Selbstbestimmungsgesetz. Viele, die es betrifft, werden garantiert sagen: alles – das Thema sei wichtig wie eh und je, die Rechte von queeren Menschen immer noch bedroht und ein Stück wie dieses unverzichtbar.
Kleinstadtnovelle
von Ronald M. Schernikau
Regie: Florian Fischer. Bühne: Sina Manthey. Kostüm, Video: Cornelius Reitmayr. Musik: Roman Frequency. Dramaturgie: Bastian Lomsché.
Mit: Anton Andreew, Nora Buzalka und Lorenz Krieger.
Premiere am 5. Oktober 2024
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theater-magdeburg.de
Kritikenrundschau
"Ein witziges, rührendes, sinnliches, intimes und ergreifendes Meisterwerk" sah Lena Schubert und schriebt auf TAG24 (6.10.2924): "Die Schauspieler schaffen es, von tragischer Ernsthaftigkeit nahtlos zu losgelöstem Humor zu wechseln und den Zuschauer dennoch durchgehend an ihre Lippen zu fesseln." Florian Fischer habe das Schauspiel "gekonnt mit einem Wechsel aus Musik, Gesang, Lichteffekten, kreativen Dialogen und Impro-Szenen inszeniert", so Schubert und lobt auch die Einbeziehung des Publikums: "Das Stück wird immer freier, immer losgelöster und zelebriert fast grenzenlose Kreativität, ohne jemals seine Sinnhaftigkeit und Aktualität zu verlieren."
Das Buch verflache in den Händen des Regisseurs, schreibt Erik Zielke vom nd (8.10.2024). Die kluge Erzählstimme weiche dem bemühten Dialog. "Die Inszenierung hat den Charakter einer Party, bei der die Gäste ihre schlecht gespielte gute Laune präsentieren. Alles soll hier wild und laut und grell sein. Wahrscheinlich, weil man glaubt, das käme dem Autor nahe. Dass der aber nicht auf Effekte, sondern auf Haltung setzte, kommt nicht rüber. Eine Bühnenadaption, die dem Werk Schernikaus gerecht würde, müsste mehr Eigensinn zeigen, gleichsam das Politische nicht leugnen."
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Warum sollen "wir" uns darauf einigen? Der Roman Schernikaus ist nun mal dezidiert homosexuelle - gar schwule - Literatur. Es geht eben nicht um ein x-beliebiges Coming-of-Age. Er ist sehr spezifisch in seinem Beschreiben schwuler Lebensrealität - warum sollen wir uns auf ein verwaschenes, alles und nichts meinendes "Coming-of-Age" einigen?
"Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise." - und jede spezifische Erfarung ist spezifisch auf ihre Weise. Das macht sie ja nicht weniger anschlussfähig, wenn man die Fähigkeit zur Abstraktion besitzt?