Kein Namenstanz kann sie retten

13. Oktober 2024. Rassistisch, antisemitisch, autoritär: Die Werke des Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner werden seit vielen Jahren kritisch betrachtet. Das britisch-irische Theaterduo Dead Centre hat dessen Geisteswelt nun an der groben Wirklichkeit gespiegelt. Von Steiners Faszination bleibt trotzdem einiges übrig.

Von Steffen Becker

"Die Erziehung des Rudolf Steiner" von Dead Centre am Schauspiel Stuttgart © Thomas Aurin

13. Oktober 2024. In der taz gibt es eine Kolumne, in der eine Ex-Waldorflerin unter Pseudonym mit Rudolf Steiner und der von ihm begründeten Anthroposophie abrechnet. In einem Text beklagt sie, nie als Mensch mit eigenständigem "Ich" gesehen worden zu sein. Sondern als "Material" von Pädagogen mit der künstlerischen Vision "des in sich harmonischen Kindes". Das fuße auf Steiners Idee, dass das "Ich" zwar inkarniere von einem Leben ins nächste, sich aber während des jeweiligen Erdenlebens (wieder) entwickeln muss: die "Ich-Geburt" komme erst um das 21. Lebensjahr. 

Steiner spricht

Der Einstieg in "Die Erziehung des Rudolf Steiner", geschrieben und inszeniert vom britisch-irischen Duo Dead Centre (Ben Kidd, Bush Moukarzel) passt dazu wie die Faust aufs Auge. Ein Junge – Flinn – betritt die Bühne. Aber er ist kein eigenes Ich, berichtet nicht selbst als Waldorf-Schüler von seiner Erziehung. Er zündet sich eine Zigarette an, ist eine Inkarnation, sagt "Mein Name ist Rudolf Steiner. Es ist mir eine Ehre, dass so viele von euch heute Abend gekommen sind, um mich sprechen zu hören". Das aber macht er (Flinn) sehr souverän.

Was folgt ist ein Parforce-Ritt durch, aber keine Vorlesung über Anthroposophie. Dead Centre übersetzen vielmehr die Vorstellung Steiners einer – für die meisten Menschen unsichtbaren, aber ihr Schicksal beeinflussenden – Geisteswelt spiegelverkehrt auf die Bühne. Vorne – auf abgezirkelten Markierungen, auf die nach und nach schlichte Möbel positioniert werden – spricht Flinn (alias Rudolf Steiner) über die Bedeutung kindlicher Fantasie in der Erziehung. Sein Bild wird in den hinteren Teil der Bühne gespiegelt, hinein in eine Szenerie, in der Erwachsene an den gleichen Möbeln sitzen und der Junge tatsächlich (ihr) Kind und Waldorf-Schüler ist. Er wird Teil eines Dramas, das Rudolf Steiner auf den Kopf stellt. Nicht die Welt an der Oberfläche profitiert von der spirituellen Verbindung mit der Tiefe. Sondern die vordergründig so empathische Philosophie scheitert an banalen Abgründen des Alltags. In der Spiegelwelt streiten sich die Eltern erst über die Schulwahl und bald auch darüber, wer die Trümmer ihrer Beziehung aufräumt.

Leiden als heiliges Geschenk

Dead Centre verweben das mit Elementen von Steiners Biografie. Das Beziehungsdrama wird etwa angeheizt vom Besuch der Tante. Die schleppt das Trauma mit sich, als Kind geschlagen und vom Bruder nicht beschützt worden zu sein (Kommentar aus Steiners Mund: "Wenn man Karma verstanden hat, versteht man, dass Leiden nicht nur Leiden bedeutet. Es ist ein heiliges Geschenk aus einem früheren Leben"). Flinn erkennt sie zugleich wieder als Inkarnation von Steiners Tante, die dieser als Kind in einer Vision gesehen haben will kurz vor ihrem Suizid.

Abgründe des Alltags: Philipp Hauß (Vater), Therese Dörr (Mutter), Reinhard Mahlberg (Kind / Rudolf Steiner) © Thomas Aurin

Das ist an der Oberfläche flott und witzig inszeniert: Da trifft der Akademiker-Vater auf den Esoteriker-Freund der Tante. Philipp Hauß gibt den Doktor, der sarkastisch-aggressiv auf alle Elemente der Waldorf-Welt reagiert, um zu überspielen, dass er die eigene Lebens-Unzufriedenheit nicht rational zu fassen kriegt. Felix Strobel spielt seinen Antipoden als Alternativ-Hallodri, der Anthroposophie als Teaser benutzt, um die Mutter ins Bett zu kriegen. Die ist auf Sinnsuche, für die doch eigentlich das Kind die Lösung hätte sein sollen (großartig in ihrer Verunsichertheit: Therese Dörr). Mina Pecik wiederum lässt die von der Vergangenheit verletzte Tante quasi erstarren.

Feuer an die Grundpfeiler der Anthroposophie

Flinn kommentiert das Treiben der Erwachsenen: "Sie können nicht erkennen, dass sie verloren sind. Verloren in der Spiegelwelt." Das ist vordergründig lustig und spart auch nicht an erwartbaren, aber sitzenden Gags über Namen-Tanzen. Hinter dem Spiegel legt es ordentlich Feuer an die Grundpfeiler der Anthroposophie. Daran kann man sich an deren Stammsitz Stuttgart die Finger verbrennen. Dead Centre erweisen sich aber als versierte Vexierspieler. Wer die Bissigkeit der Inszenierung ausblenden will, wechselt die Ebene und genießt ihre formale Schönheit und das meisterhafte Spiel mit Spiegeln und Spiegelungen.

Aber ob man der Faszination für Steiners Werk überhaupt schaden kann? "Die Erziehung des Rudolf Steine" endet mit einer weiteren Doppelbödigkeit: Schlussbild ist der brennende Wald aus dem Finale von "Faust II" – der Klassiker ist ein roter Faden in Form einer ständig thematisierten Schulaufführung des Kindes. Eine Anspielung zugleich auf den Brand des ersten Goetheanum Steiners. Die Vernichtung seiner Heimstatt hatte seine Lehre nicht aufgehalten. Aus seiner Sicht kein Wunder. Anthroposophie war für ihn keine Bewegung, sondern das Leben selbst: "Und genau wie das Leben würde sie, wenn sie enden sollte, einfach wieder beginnen." Wir werden sehen – spätestens in unserem nächsten Leben.

Die Erziehung des Rudolf Steiner
von Dead Centre
Regie: Dead Centre, Bühne: Jeremy Herbert, Kostüme: Mirjam Pleines, Musik: Kevin Gleeson, Video: Sébastien Dupouey, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger, Philipp Schulze.
Mit: Therese Dörr, Philipp Hauß, Reinhard Mahlberg, Mina Pecik, Felix Strobel sowie der Kinderstatisterie: Flinn Naunheim, Levin Raser, Samuel Santangelo.
Premiere am 12. Oktober 2024
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

Kritikenrundschau

Die Inszenierung setze experimentierfreudig auf die schillernden Grundideen des Reformers, schreibt Björn Hayer in der taz (14.10.2024). "Wir wohnen letztlich einem märchenhaften Loblied auf die Macht der Fantasie bei. Doch damit nicht genug! Denn diese Inszenierung lässt sich ebenso als eine Großmetapher auf das Thea­ter selbst verstehen. Je mehr der Junge sich ausdenkt, desto mehr Möbel kommen auf das Parkett, die später auch auf der Leinwand durch die Luft schweben. Wie in einem Probeprozess manifestiert sich so allmählich ein innerer Kosmos auf der Bühne, magisch und hellsichtig."

Ästhetisch reizvoll und anspielungsreich nennt Kathrin Horster die Inszenierung in den Stuttgarter Nachrichten (14.10.2024), findet aber auch, dass die Theatermacher der Faszination von Steiners düsterer Esoterik "ein Stück weit erliegen". "Die rassistischen Elemente und die Gefahren der Weltabgewandtheit von Steiners Esoterik werden in der Inszenierung nur en passant kritisch gewürdigt. So bleibt die Anthroposophie auch hier ein seltsames, verführerisch schillerndes Konstrukt."

"Nie dozierend und mit dem Einsatz tatsächlicher und textlicher Spiegelungen kontrastiert das Stück die schwärmerische Weltdeutung Steiners mit dem profanen Alltag," schreibt Rüdiger Soldt in der FAZ (15.10.2024). "Einen naiven und zugleich pragmatischen Satz spricht der von der Dreiglie­drigkeitslehre beseelte Öko-Freak: Man müsse Eklektizismus betreiben und aus Steiners Werk das herausnehmen, was in die Welt passe. Wie das funktioniert, führen die Regisseure Ben Kidd und Bush Moukarzel bei dieser deutschen Uraufführung im Stuttgarter Schauspiel kongenial vor."

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