Der nackte Wahnsinn - Berliner Ensemble
Was am Ende übrigbleibt
13. Oktober 2024. Über drei Akte und drei Stunden sehen wir in diesem Stück einer Tourneetheatertruppe zu – nicht beim Scheitern, das wäre viel zu hoch gegriffen, sondern beim vollständigen Versagen. Oliver Reese hat Michael Frayns Schenkelklopfer nun inmitten der Berliner Spardebatten von der Leine gelassen. Das ist zum Tränenlachen.
Von Frauke Adrians
13. Oktober 2024. "Der nackte Wahnsinn" ist eine inzwischen klassische Boulevardkomödie, ihre mehr als 40 Jahre sieht man ihr an, und Intendant und Regisseur Oliver Reese belässt das Stück konsequent in dessen Entstehungszeit: mit Vokuhila und Minipli, bauschigen Bundfaltenhosen, Tastentelefon, auch mit Blondinenwitz und ähnlichen sexistischen Klischees.
Wir befinden uns also anfangs der Achtziger. Ein gemäßigt despotischer Regisseur, seine eilfertige Assistentin und sein Ensemble bemühen sich, eine dämliche Farce mit vielen klappenden und noch mehr klemmenden Türen durch die Generalprobe zu hieven. Zwei Pärchen, eine Haushälterin, ein Einbrecher und zwei Teller mit Sardinen wuseln durcheinander, notfalls springt die Bühnenmanagerin (Joyce Sanhá) in jeder beliebigen Rolle ein.
Bis zur kompletten Auflösung
Akt 1 von Michael Frayns Stück zeigt die pannengeschwängerte Generalprobe des 1. Aktes; Akt 2 den gleichen Akt nach einem Monat Abnutzung im Tourneebetrieb, aber aus der Perspektive der Schauspieler hinter der Bühne, die einander bei laufender Aufführung – daher der englische Originaltitel "Noises off" – nur pantomimisch runterputzen können; Akt 3 die Dernière, in der komplette Auflösung herrscht. Heruntergekommene Kulissen, kaputte Requisiten, erbärmliche Schauspieler, die sinnlos gewordene Texte aufsagen, ein Stück, das nicht zu retten ist und den Versuch ohnehin nie wert war.
Das soll zum Lachen sein? Doch, ist es – auch wenn Oliver Reese die Möglichkeiten von Michael Frayns Komödie bei Weitem nicht ausschöpft. Namentlich der 2. Akt ist ein Jahrmarkt der Eifersüchteleien und der privaten Probleme und Problemchen der Schauspieler. Die Regie vergibt hier Chancen, die einzelnen Akteure klarer zu konturieren, ihnen Profil zu verleihen, sie menschlicher und liebenswerter zu zeichnen.
Hervorragend ist allerdings das Timing des Slapsticks, vom punktgenau verspäteten Auftritt des versoffenen Einbrecherdarstellers Hajo (Wolfgang Michael) bis zum fast fatalen Treppensturz. Und besonders bewundernswert ist die Leistung von Pauline Knof, die einen Tag vor der Premiere für die erkrankte Lili Epply einsprang, um die gar nicht blöde Blondine Vicki zu spielen. Dass ihr der Text per Knopf im Ohr vorgesagt wurde, war bei der Premiere kaum zu merken.
Kann man dem trauen?
Ohne Knofs Einsatz hätte die Premiere wohl ein zweites Mal verschoben werden müssen; das Stück war ohnehin zehn Tage verspätet dran, weil sich, wie Intendant und Regisseur Reese bei der Ansage berichtete, einer der Schauspieler beim Ausprobieren der Requisitencouch eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Das hat, sofern man es nicht selbst erleidet, vergleichbare Gag-Qualität wie das im Stück angelegte Ausrutschen auf verwesenden Sardinen oder das hartnäckige Nasenbluten des schriftstellernden Steuerflüchtlings Philip Brent (Peter Moltzen).
Das Publikum schien dem Schenkelklopf-Vergnügen anfangs nicht zu trauen. Ein befreites Lachen über die hart am Wasser gebaute Doris (Kathrin Wehlisch) oder den vom eigenen Unvermögen peinlich berührten Regisseur (Gerrit Jansen) muss sich der kritische BE-Zuschauer offenbar im Laufe eines Boulevardtheaterabends erarbeiten. Selbst der Schlussapplaus war eher zurückhaltend als ausgelassen.
Macht ihr mal so weiter
Warum jetzt, hier, heute, im Berliner Ensemble der Boulevard-Kracher "Der nackte Wahnsinn"? Ganz einfach: um des schieren Vergnügens willen, gute Schauspieler dabei zu beobachten, wie sie Knallchargen spielen. Und wenn man denn durchaus einen zeitaktuellen Bezug sucht, bitte schön: "Der nackte Wahnsinn" zeigt – mit empathischem Humor und doch schonungslos –, wie weit das Theater herunterkommen kann. Nach dem Motto: Macht ihr mal so weiter mit eurer 10-Prozent-Kürzung im Berliner Kulturetat, mit euren Radiosenderstreichungen und der Zusammenlegung von 3sat und Arte: Hier seht ihr, was dann auf Dauer noch übrigbleibt.
Der nackte Wahnsinn
von Michael Frayn
Regie: Oliver Reese, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Steffen Heinke, Dramaturgie: Johannes Nölting.
Mit: Kathrin Wehlisch, Marc Oliver Schulze, Pauline Knof, Peter Moltzen, Constanze Becker, Wolfgang Michael, Gerrit Jansen, Nina Bruns, Joyce Mayne Sanhá, Peer Neumann.
Premiere am 12. Oktober 2024
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.berliner-ensemble.de
Kritikenrundschau
Sophie Klieeisen zollt dem Abend in der Berliner Morgenpost (13.10.2024) Respekt: "Hier bleibt einfach kein Gag liegen, jeder Ball trifft sein Ziel, bis die Wurst auf der Speckseite landet – ein von seinem Setting, Timing und sich reinschmeißenden Ensemble getragener, exzellenter Komödienabend."
"Wenn gute Schauspieler:innen mit exaltierten Bewegungen und overacting den Boulevard markieren, droht das schnell peinlich und etwas überheblich zu werden", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (14.10.2024) über den ersten Teil. Aber auch im Weiteren blieben die Figuren blass, man spüre zu wenig ihre Nöte (...) und ihr zwiespältiges Verhältnis zur Kunst. "Das Unzulängliche, das sie nicht nur auf der Bühne, sondern vor allem im Leben erfahren, macht die Spur von Tragik aus, die jede gute Komödie braucht. Und die hier etwas unter die Räder gekommen ist."
"Leicht hat es das Theater dieser Tage nicht. Ringsum bricht die Welt auseinander, Kriege finden kein Ende und für die Kunst wird das Geld knapp. Was tun? Der Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, hat sich entschieden, künstlerisch erst einmal die Waffen zu strecken und dem seichteren Blödsinn ausgiebig Platz zu bieten", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (14.10.2024). "Oliver Reese und seine BE-Schauspieler mühen sich redlich, den Quark noch breiter zu schlagen, und scheuchen jede ihrer Figuren als doppelt überreiztes 80er-Jahre-Klischee treppauf, treppab. M(...) Das ist punktuell witzig, für drei Stunden aber viel zu dünn und zu wenig."
"Wirklich überzeugen, kann die Inszenierung nicht. Sie setzt zu sehr auf Slapstick und Klamauk", sagt Oliver Kranz auf Radio 3 (14.10.2024). Der Abend komme schwer in Gang – "erstens, weil der Rhythmus nicht stimmt, zweitens, weil die Figuren in die Karikatur getrieben werden", so Kranz. "Der Theaterwahnsinnsshow im Berliner Ensemble fehlt es an Vielschichtigkeit."
"Das Stück verlangt, dass sehr gute Schauspielerinnen und Schauspieler sehr schlechte spielen. Das beherrschen, zumindest in Deutschland, die wenigsten," schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (15.10.2024). Dem BE-Personal würde er die Kunst zwar prinzipiell sogar zutrauen, immerhin stünden Könner wie Constanze Becker, Marc Oliver Schulze oder Peter Moltzen auf der Bühne. "Aber die sind – vor allem in ihren Stück-im-Stück-Rollen als Flavia und Philip Brent oder Roger Tramplemain – so sehr als Knallchargen und Comicfiguren inszeniert, dass man nach solchen Feinheiten gar nicht fragen muss."
"Daran, dass sich die drei Stunden mit den Tür-auf-Tür-zu-Scherzen arg hinziehen, können auch die natürlich famosen Schauspieler wenig ändern", schreibt Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (19.10.2024).
"Irgendwie ist dem ehrlichen Schmierentheater hier das überangestrengte Strebertum und der Wille zur Perfektionsdemonstration dazwischengekommen."
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Dennoch:
Ein Stück, welches sicherlich als Komödie (zum Tränen Lachen) gedacht war, sich aber als Enttäuschung zum Tränen Lachen entpuppt.
Die Zuschauer werden im 1. Akt mit einem Witz gelockt, der sich nach wenigen Minuten zum Schreck der Zuschauer entpuppt und die Zuschauer eher langweilt, als von den Stühlen reißt.
Was im 2. Akt besser gelingt, hält nicht lang und genügt nicht, um die Zuschauer wieder mitzunehmen.
Schlechte Komparsen, die das Lachen an schwachen Stellen einbringen, macht das gesamte Stück einfach zu einem sehr schwachen Stück, das sein Geld nicht wert isr.
Das tut hier jetzt aber nichts zu Sache: Ihre Kommentare sind einfach eine Unverschämtheit. Muss Ihnen ja nicht gefallen, das ist selbstredend völlig ok.
Aber sich so unsachlich und in vorauseilendem Gehorsam mit der existenzbedrohenden Kürzungspolitik gemein zu machen?
Chapeau! Das ist an Zynismus schwer zu überbieten! Herr Chialo muss offensichtlich überhaupt nichts machen, nicht mal nach Augsburg fahren - das erledigt die Theaterszene schon selbst und nimmt sich freudig ganz allein auseinander. Hauptsache Missgunst.
Na dann: Gute Nacht!
Auf die beiden düsteren, problembeladenen Eröffnungsstücke „Der Tod eines Handlungsreisenden„, ein Abgesang auf den American Dream kapitalistischer Prägung, und Frank Castorfs „Kleiner Mann – was nun?“ über den Untergang der Weimarer Republik folgt nun ganz bewusst ein Abend, der einfach nur gut unterhalten will.
Tiefgründige Gedanken wird man in der Farce „Der nackte Wahnsinn“ sicher vergeblich suchen. Die drei Stunden setzen auf die gut geölte Maschinerie von Klipp-Klapp-Tür auf-Tür zu, Slapstick und Nervenzusammenbrüchen, die sich auf Boulevard-Bühnen bewährt hat. Getreu der Vorlage erleben wir am Berliner Ensemble das komplette Scheitern einer Wandertruppe, die mit einem Schenkelklopfer durch die Provinz tingelt, aber jeden Gag und Auftritt verstolpert.
Wenn Könnerinnen wie Kathrin Wehlisch oder Constanze Becker diese Knallchargen spielen oder Wolfgang Michael als Suffkopf im falschen Moment hereinstolpert, ist dies am BE ein Komödien-Vergnügen, da natürlich jeder verpatzte Auftritt punktgenau sitzt. Präzise schnurren die drei Theater-Stunden ab, die allerdings schon im Original etwas zu lang sind, da das dreifache Scheitern von Generalprobe, Gastspiel in den Mühen der Ebene und Dernière zwangsläufig etwas redundant wird.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/10/14/der-nackte-wahnsinn-berliner-ensemble-kritik/
mir geht es gar nicht so sehr um persönliche Betroffenheit, sondern darum, dass ich es für sehr kontraproduktiv halte, diese Debatte so zu führen. Und ja: ich finde es einigermaßen unverschämt, weil man eine (oder mehrere) Inszenierung(en) nicht mag, vorzuschlagen das ganze doch einfach für 1Euro nach Augsburg zu geben. Da sehe ich keine konstruktive Debatte. Ich hab gar nichts dagegen, dass jemand Entscheidungen kritisiert, aber Polemik und Anfeindungen bringen doch nichts. Dem Kommentar #2 zu attestieren das sei eine kritische Diskussion von Sparpotentialen....das verstehe ich ehrlich gesagt wiederum nicht.
@8:
Genau das ist denke ich der Punkt. Hier geht es offensichtlich um ein Geschmacksurteil das hier dazu führt, das man gleich sagt: das kann weg. Ich wiederum mochte "The Method" überhaupt nicht, würde aber nicht auf die Idee kommen zu sagen: Macht doch die Volksbühne zu. Mit der Auslastung hat die Argumentation von Kollege Held sicher nichts zu tun...
Lieber Berliner Outsider, danke der Nachfrage
"Nach Augsburg" war der berühmte Ausruf in einem Stück von Thomas Bernhard, für dessen Uraufführungen ja der Theaterregisseur Claus Peymann steht. Also der Vorgänger von Oliver Reese als Intendant am Berliner Ensemble. Oliver Reese kann man zu Gute halten, dass er in seinem vorherigen Job als Intendant des Schauspiels Frankfurt beispielsweise 2011die Aufführung "Je táime, je táime" von Mitevska/Kittstein ermöglichte. Dort wurde genauso Theater als Nabelschau betrieben wie jetzt beim Nackten Wahnsinn am BE oder The Method an der Volksbühne. Es sind diese Sachen, die man im Kino 8 1/2-Filme nennt.
Obwohl an Je t'aime, je t'aime damals von etlichen Kritikern herumgemeckert wurde (unter anderem auch von nachtkritik) war der Abend für mich damals unzweifelhaft so zeitgenössisch und modern, wie er 2011 am BE unter Claus Peymann nie hätte stattfinden können. Denn Peymann hatte ja bereits Jahre vorher schon nicht begriffen und beklagt, dass Rene Pollesch zum Theatertreffen eingeladen wurde und nicht (mehr)
Peymann.
Es war (oder schien zumindest) die richtige Entscheidung, Peymann am BE als "elder statesman" in die Wüste" zu schicken und durch den offenbar "moderneren" Oliver Reese zu ersetzen.
Jetzt sind wir 13 Jahre weiter und ein in seiner Zeitgenossenschaft grob vergleichbares Selbstbespiegelungs-Theaterstück wie damals bei Reese in Frankfurt findet heutzutage
als THE METHOD an der Volksbühne statt. Eben nicht beim Reese. Am BE inszeniert der Intendant inzwischen selbst. Und zwar den Nackten Wahnsinn. Und der ist eben nicht mehr zeitgenössisch. Es sei denn, man wertet das Ganze als Versuch, demnächst Didi Hallervordens Intendanz am Berliner Schloßparktheater zu beerben.
Komödie vs. die furchtbare Lage der Welt.
Bitte entspannen, amüsieren und den Stock aus dem Hirn nehmen:)