Bro Lear und seine Boomer

20. Oktober 2024. Ist das Patriarchat wirklich nicht zu überwinden? Stehen die alten Kings einfach immer wieder auf, selbst wenn sie längst gestorben sind? Diese Frage stellt Anne Lenk in ihrer Zürcher Shakespeare-Inszenierung – auf Basis der aktualisierenden Textversion von Thomas Melle. 

Von Tobias Gerosa

"König Lear" in der Regie von Anne Lenk am Schauspielhaus Zürich © Arno Declair

20. Oktober 2024. Dann steht Edmund wieder auf. Dann stehen Goneril und Regan wieder auf. Dann kommt auch Cordelia zu ihnen. Und nachdem die drei Töchter (und alle anderen), die schon vergiftet und tot waren in Anne Lenks Inszenierung, nun doch ihren Sieg über das Patriarchat feiern, taucht auch ihr Vater, König Lear, wieder auf. Und verteilt, in den Worten der allerersten Szene, noch einmal sein Reich.

Anne Lenk führt William Shakespeares "König Lear" im Schauspielhaus Zürich in eine Endlosschleife. Geht die Gewalt zwangsläufig weiter? Ist das Patriarchat wirklich nicht zu überwinden? Gerade hoffnungsvoll ist das nicht.

Lady in Pink

Die Rückkehr zum Anfang hat Thomas Melle in seiner Übersetzung und Bearbeitung schon eingebaut, die Zürcher Regie betont die Frage nach Patriarchat und feministischer Überwindungsmöglichkeit zusätzlich. Dass dabei immer etwas unklar bleibt, ob sich die Inszenierung durch Überzeichnung lustig macht oder ob sie die Machtfrage durch die Verkleidung wirklich demaskieren will, erweist sich als produktiver Ansatz. Und zum ambivalenten Stück, dessen Figurenarsenal Melles Bearbeitung noch ambivalenter macht, passt das sowieso.

Dass Lears pöbelndes Gefolge hier zu Followern wird oder das WLAN-Passwort Lears drängendste Frage ist, erweist sich dabei weniger zwingend als die Aktualisierung der Sprache an und für sich, die trotz "Bro" und "ficken" eine Kunstsprache bleibt.

Schwingt sich als Major Tom in die Lüfte: Johann Jürgens als Edgar © Arno Declair

Dabei beginnt alles sehr klassisch. Vor seinem eigenen Reiterdenkmal verkündet Lear (Rainer Bock) in Krone und ordensbeschwertem Ledermantel seinen Töchtern die Aufteilung des Reiches. Sybille Wallum hat die jungen Frauen in dasselbe modrige Grün gesteckt wie ihren Vater, die Tellerhütchen wirken wie Verkleidungen – nicht anders als später die knallbunten Hosenanzüge mit ihren Vulva-Ärmeln.

Zwar pink (die zentrale Farbe an diesem Abend), aber nicht weniger steif steht Lady Kent zu Diensten, die Hofdame, die alsbald verbannt wird und – so Melles Version – als weiblicher Narr den abgedankten König begleitet. Lena Schwarz macht das virtuos. Ihre Figur ist unterwürfig und rotzfrech gleichzeitig, ein leichtes Zögern hier, eine hochgezogene Schulter da verleihen allem, was sie sagt und tut, einen gefährlichen doppelten Boden – trotz Fatsuit und doofem Wikingerhelm.

"Und zu diesem Zweck morden wir die Männer weg"

Bei Shakespeare geht es um Generationenfragen und Macht, die Fassung und die Regie von Anne Lenk fokussieren indes auch auf eine Geschlechterfrage: Wenn drei Töchter das Reich erben – beziehungsweise zwei, weil Lear seine Lieblingstochter Cordelia, die ihn im Gegensatz zu den beiden anderen nicht aus Kalkül umschmeicheln will, verstößt –, ändert das etwas am patriarchalen System?

Regan und Goneril (Lea Sophie Salfeld und Nancy Mensah-Offei) versprechen das immer wieder, aber eben erst für den Moment, wenn sie die Macht haben: "Und zu diesem Zweck morden wir die Männer weg!" – die alte Frage nach der Gewalt und danach, ob der Zweck die Mittel heiligt. Seltsamerweise bleiben diese beiden Figuren, obwohl sie im Zentrum stehen, spielerisch relativ zurückhaltend, genau wie Cordelia (Sacha Melroch).

King Lear 04 1200 Arno Decalir uFamilienaufstellung: Lear (Rainer Bock) umringt von seinen Töchtern (v. l. Sasha Melroch, Lea Sophie Salfeld und Nancy Mensah-Offei) © Arno Declair 

Rainer Bocks Lear wird unterdessen immer zotteliger und bei aller Verwirrung auch weicher. Die Gewalt nimmt indes ihren Lauf, aber Lenk und ihre Bühnenbildnerin Judith Oswald unterlaufen deren Zwangsläufigkeit mit verwirrenden Zeichen. Der zu diversen Intrigen missbrauchte Edgar ist ein comicartiges, von zweidimensionalen Wölkchen begleitetes Schulmädchen, bevor er sich als E.T.-hafter Major Tom mit David Bowie und Peter Schilling in die Lüfte erhebt. Johann Jürgens erweist sich dabei als herrlich weltfremder Dialektspezialist.

Die beiden neuen Herrscherinnen residieren in einem Riesenmaul und kuscheln sich an ein riesiges, vom Himmel fallendes Plüschtier. Oberbösewicht Edgar betätigt sich als Populist, der für seine Macht die kleinen Leute instrumentalisiert. Schwierig, Steven Sowah und seiner enormen Präsenz dabei nicht ebenso zu verfallen wie die graue Boomer-Gang, die er von Lear übernimmt!

Sehnsucht nach Antworten

Hier hat der Abend Rhythmus und Zug. Das gelingt nicht immer. Symptomatisch: der unentschlossene Mehrfachschluss und die Musik, die zwischen Hintergrundsäuseln und wenig stilbrechenden Songeinlagen pendelt. Aber vielleicht ist das einfach die Sehnsucht nach einer klaren Antwort, die Stück und Regie zu den aufgeworfenen Fragen gerade nicht geben wollen.

König Lear
nach William Shakespeare
In einer Übersetzung und Bearbeitung von Thomas Melle
Regie: Anne Lenk, Bühne: Judith Oswald, Kostüme: Sybille Wallum, Musik: Polina Lapkovskaja (Pollyester), Licht: Carsten Schmidt, Dramaturgie: David Heiligers.
Mit: Rainer Bock, Nancy Mensah-Offei, Lea Sophie Salfeld, Sacha Melroch, Lena Schwarz, Karin Pfammatter, Steven Sowah, Johann Jürgens, Hanna Eichel.
Premiere am 19. Oktober 2024
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch

Kritikenrundschau

Dieser "Lear" werde "als pittoreske, gewitzte und geglückte Inszenierung in Erinnerung bleiben", schreibt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (21.10.2024). Anne Lenk zeige Shakespeares Klassiker "als Parodie. Die Dialoge sind mit heutigen Fluchwörtern gespickt wie 'Bitch' oder 'verpiss dich'. Bedeutender ist freilich, dass der Text über aktuelle Konfliktfelder gespannt wird."

Alexandra Kedves schreibt im Tages-Anzeiger (21.10.2024) "Subtil ist dieser 'Lear' nicht. Seine Fragen werden quasi herausgeschrien und verhallen im Parkett, weil niemand darauf eine Antwort hat. Wie erstreitet man sich einen Platz an der Sonne, ohne ihn anderen wegzunehmen? Diese Diskussion wird auch an 'woken' Theatern geführt. Aber wie spielfreudig und sprachlustig sie hier stattfindet, wie bildfrech und musikklug – wie ein fantastischer Flug auf dem Velo."

"Die Heldendämmerung des alten weißen Mannes" sah Christoph Leibold für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (19.10.2024). Anne Lenk inszeniere den Wechsel zwischen hohem Ton und heutiger Umgangssprache "manchmal auch komisch, fast ein bisschen zu lustig, lustiger, als es dem Abend guttut". Schauspielerisch sei der Abend nicht durchgängig auf hohem Niveau. Kurzum: Die Fassung ist gut, "Inszenierung: Licht und Schatten, fast ein bisschen mehr Schatten als Licht".

"Die Regisseurin Anne Lenk und ein fabelhaft aufgelegtes Schauspielensemble zeigen in Zürich den Höllenritt als kurzweiligen und spannungsvollen Galopp, der auch Groteske und überhaupt die Komik nicht scheut, dabei die Wertungen immer klug in der Schwebe hält", so Andreas Klaeui in der Sendung "Kultur kompakt" beim SRF 2 Kultur (21.10.2024). "Recht bekommt hier niemand, und überwunden wird schon gar nichts. Keine freudige Perspektive; aber vergnüglichstes Theater."

"Auf der Bühne des Pfauen mutet dieser Höllenritt lange Zeit unterhaltsam an, Lenk findet mal groteske, mal apokalyptische Bilder, das Ensemble besticht durch Pointensicherheit und präzises Timing", so Johannes Bruggaier vom Südkurier (22.10.2024). "Und doch, über die dreieinviertel Stunden will das Ganze nicht tragen: Zu früh scheint die Grundidee von Thomas Melles Neuinterpretation schon ausgereizt, als zu verwirrend auch erweist sich sein Weiterdrehen der bei Shakespeare ohnehin schon komplexen Verwicklungen auf immer neue Verschwörungsebenen."

Kommentare  
König Lear, Zürich: Übersetzung
Die Melle-Übersetzung entstand nicht eigens für diese Inszenierung, oder hat er sich erneut damit befasst? Es handelt sich doch wahrscheinlich um die 2019 von Stefan Pucher an den Münchner Kammerspielen uraufgeführte Fassung.

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Lieber Theaterreisender,
vielen Dank für Ihren Hinweis, wir haben die leicht missverständliche Stelle aus unserer redaktionellen Anmoderation verklart.
Herzliche Grüße aus der nachtkritik-Redaktion
König Lear, Zürich: Mit umgekehrten Vorzeichen
King Lear interessant vom Diskurs alte Männer, junge Frauen. Anne Lenk, die Regie, ist natürlich nicht doof, so dass auch die jungen Frauen ihr Fett wegkriegen. Der Frauen Wahlspruch ist dabei: kein Paradies ohne Höllenritt. Da muss ich gleich an Stalinismus denken. Also, alles was nicht auf Linie ist, wird ausgemerzt, und eigentlich gehts nur drum, selber zur herrschenden Klasse zu werden. Und so wie ich’s las, will Anne Lenk die Frage aufwerfen, wenn die Frauen sich EINMAL (die Parole wird während des Abends öfter wiederholt) so benehmen dürften, wie die Männer seit Jahren (sprich unbarmherzig, rücksichtslos you,name it) dann - ja was dann? Matriarchat und dann mal kucken, wie das läuft? Ist ja dann wieder Totalitarismus, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Schön, dass die Frage aufgeworfen wird - Theater ist ja eben ein Spiel, ein Gedankenspiel. Kann man machen. Karin Pfammatter, Lena Schwarz und Johann Jürgens haben ne geile Spiele.
König Lear, Zürich: Zwei Anmerkungen
Lieber Herr Gerosa, ich habe die Zürcher Inszenierung nicht gesehen, aber ich kenne den Text von Thomas Melle. Darin gibt es am Ende keine "Rückkehr zum Anfang", wie Sie schreiben. Hier muss es sich also um eine Setzung der Regie/Dramaturgie in Zürich handeln. Hingegen ist "Major Tom" als neue Identität Edgars sowohl figürlich als auch textlich bereits in Melles Text eingeschrieben. Beste Grüße aus München, Karl
Lear, Zürich: Antwort des Kritikers
Lieber Karl,
danke für die Präzisierung - einverstanden bei "Major Tom" (sagt die Besprechung etwas anderes?); beim Rückkehr zum Anfang beziehe mich auf den Text, den ich vom Theater bekam. Der nimmt Szene I.1 wieder auf und ist in dem Fall mehr Bearbeitung und Fassung als darin sichtbar ist.
Danke fürs genau Lesen!
Tobias Gerosa
König Lear, Zürich: Spielfassung
Sehr geehrter Herr Gerosa,

Sie haben von uns, wie generell üblich, unsere Spielfassung des Textes erhalten. Dass diese sich in einigen Punkten unterscheidet von der Verlagsfassung, ist die Regel und versteht sich eigentlich von selbst. Um dies jedoch besonders zu betonen und für Sie besser sichtbar zu machen, hatten wir auf dem Titelblatt extra vermerkt: "Fassung von Anne Lenk und David Heiligers".

Mit freundlichen Grüssen,
Dramaturgie Schauspielhaus Zürich
König Lear, Zürich: Letzte Szene
Die letzte Szene in Zürich ist hochspannend, meines Erachtens. Gezeigt wird eben nicht ein Zurück zum Anfang. Sondern eine Zurück in die ferne Vergangenheit. Zu sehen sind Töchterlein mit weissem Kragen und gestärktem Kleid, dazwischen ein Vater, von dem nichts Gutes zu erwarten ist. Das lese ich als deutliches Zeichen von «Es gibt zwar noch viel zu tun, aber mal ehrlich, liebe Frauen: Wir haben auch schon sehr viel erreicht.»
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