Toto oder Vielen Dank für das Leben - Burgtheater Wien
Danke für nichts
25. Oktober 2024. Ein Schelmenroman der härteren Art: In Sibylle Bergs Buch von 2012 reist Toto als intersexuelle*r Simplicissimus durch die Verwüstungen der Moderne. Nun hat die Autorin eine Bühnenfassung daraus gemacht, die bei Regisseur Ersan Mondtag ein griesgrämiges Setting findet. Aber mit Musik!
Von Andrea Heinz
25. Oktober 2024. "Vielen Dank für das Leben" heißt ein eher durchwachsen rezensierter Roman von Sibylle Berg aus dem Jahr 2012. Wofür genau sich die Hauptfigur Toto darin bedanken sollte, das ist unter den Bergen an Weltekel, Zynismus und obligatorischem Kapitalismus-, Globalisierungs- und überhaupt Kulturpessimismus nur schwer auszumachen. Toto ist intersexuell, nur dass es 1966, als das Kind im marxistisch-leninistischen Arbeiter-und-Bauern-Staat geboren wird, dafür weder eine Begrifflichkeit, noch Verständnis oder gar Empathie gab. Es geht schlecht los, und von da an nur bergab.
Stilvoller Horror
Totos Weg durch Kinderheime und Pflegefamilien, vom tief grauen Osten in den neonbunten Westen, vom männlichen zum weiblichen sozialen Geschlecht und zu einem maximal elenden, verlassenen Tod bringt Ersan Mondtag am Burgtheater in der Bühnenfassung der Autorin, atmosphärisch dichten Bildern und als eine Art Musical zur Uraufführung.
Totos Geburt findet im Setting eines stilvollen Horrorfilms statt, bei grollendem Gewitter in einem eindrucksvoll verwitterten, malerisch von halbtoten Nadelbäumen umgebenen Jahrhundertwende-Pavillon. Der Bau bildet das durchgehende Zentrum der Bühne (Mondtag), wird von einer Klinik mit KZ-Wärter-artigem Personal zum Kinderheim und zum Kiez-Lokal im goldenen Westen, wobei die zahlreichen Fensterfronten und Öffnungen, die die fahl-türkisfarbenen Wände durchbrechen, jeweils schöne Blickachsen bilden – was auch nötig ist bei einem Ensemble aus zehn Darsteller*innen und acht Kompars*innen und weitgehend ohne Kamera-Einsatz.
Mit unerschütterlichem, die Mitmenschen zu comic-hafter Gewalt provozierendem Gleichmut trottet Maria Happel als Toto von einer Szenerie zur nächsten, von einer Lebenswelt, einer Gesellschaftsform zur anderen, als wäre alles eins – immer überrascht, unvoreingenommen, gutmütig. Ein moderner Simplicissimus, der statt durch die Schlachtfelder des Dreißigjährigen Kriegs durch die Verwüstungen der Moderne stolpert.
Eigene Farbe der Musik
Wie in Grimmelshausens Schelmenroman spielt auch hier Musik eine entscheidende Rolle: Für Toto ist das Singen die Hoffnung auf Verbundenheit, Lebendigkeit, Glück. Er bringt es sogar zu regelmäßigen Auftritten mit fragwürdigem Erfolg, aber freilich muss diese Hoffnung am Ende enttäuscht werden, genau wie jene auf ein Happy End mit Kinderheimliebe Kasimir (Bruno Cathomas als atypischer Yuppie mit manifestem Selbsthass). Nicht mit Sibylle Berg!
Für Mondtag ist die zentrale Rolle der Musik Anlass, die im Stück angelegten Lieder vertonen und von Beni Brachtel Live-Musik für ein neunköpfiges Kammerorchester komponieren zu lassen, die dem Abend nicht nur in den vom Ensemble performten Liedern, sondern auch in Musikuntermalungen seine ganz eigene Färbung gibt.
Die Musiktheater-Form nimmt dem Text einiges von seiner Brutalität und seiner zynischen Härte, wozu auch die unförmigen, fast slapstickartig überdimensionierten Neopren-Anzüge mit 1980er-Jahre-Power-Schultern (Teresa Vergho) und zahlreiche Gruppenchoreografien (Tabea Martin) beitragen. Dank des eingespielten, gut gelaunten Ensembles entwickelt das eine streckenweise mitreißende Dynamik, und es gibt einige schöne Figurenminiaturen: Sabine Haupt etwa als Kinderheim-Fräulein mit "sadistischer Neigung" und einem Hang zu Lachgas-Exzessen, oder Markus Scheumann als seltsam verrenkter Heino-Wiedergänger und Kapitalismus-Exeget.
Rechtschaffenheit auf, Lachen vor der Bühne
Der Abend hat also durchaus seine spaßigen Momente. Aber über die Dauer von fast drei Stunden trägt das nicht, wird die ganze ironische Herumkrittelei zunehmend fad – und die Figuren bleiben flach. Man versteht nicht, warum und wozu das Ganze. Noch dazu gerät die bis zum Anschlag aufgedrehte Überzeichnung der Säufer*innen, Schläger*innen und Ungustl*innen, die es bei Berg im Übermaß gibt, vor allem bei Totos bäuerlich-tumben, alkohol- und gewaltaffinen Pflegeeltern (Daniel Jesch, Alexandra Henkel) zu platt und kratzt hart am Klassismus – unfreiwillig spiegeln die Publikumsreaktionen das Verlachen der Schwächeren, Unterprivilegierten, das auf der Bühne in aller Rechtschaffenheit angeprangert wird.
Gänzlich farblos bleibt schließlich, und das nicht nur aufgrund ihres fleischfarbenen Kostüms, Happels Toto. Das liegt weniger an ihrem Spiel, als an einer Rolle, die ihr kaum Text und wenig Spielraum gibt, sie großteils beschränkt auf demonstrativ freundliches Lächeln und die Lieder, die sie solo singt. Erst am Ende darf Toto sprechen, aber das Plädoyer für das Glück, das in der puren Lebendigkeit steckt, wirkt wie ein Fremdkörper. Wofür genau man sich da beim Leben bedanken sollte, bleibt nach diesem Abend schleierhaft.
Toto oder Vielen Dank für das Leben
von Sibylle Berg nach ihrem Roman "Vielen Dank für das Leben"
Uraufführung
Regie und Bühne: Ersan Mondtag, Kostüme: Teresa Vergho, Komposition und musikalische Leitung: Beni Brachtel, Videodesign: Luis August Krawen, Choreografie: Tabea Martin, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Sarah Lorenz.
Mit: Bruno Cathomas, Gunther Eckes, Maria Happel, Sabine Haupt, Alexandra Henkel, Daniel Jesch, Alexandra Henkel, Dietmar König, Annamária Láng, Elisa Plüss, Markus Scheumann sowie: Laura Diego, Marlene Greiner, Julian Gruß, Jonas Langlet, Kilian Mangrutsch, Maria-Sophie Tschak, Hannah Wassner, Amelie Lucia Wassner.
Premiere am 24. Oktober 2024
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.burgtheater.at
Kritikenrundschau
"Trigger-Warnung: Viel mehr als knapp drei Stunden gepflegte Langeweile war bei der Uraufführung am Donnerstag in Wien nicht zu erleben", schreibt Norbert Mayer in der Wiener Tageszeitung Die Presse (26.10.2024). Auf dem Programmzettel werde das Stück als "bizarrer Roadtrip und eine bitterböse Coming-of-Age-Geschichte" verkauft. "Aber wohin wollen uns Berg und Mondtag in diesem Musical-Operetten-Horror-Gesamtkunstwerk führen? Ins Flache wohl. Das können auch einige Stars nicht verhindern, die das Burgtheater derzeit zu bieten hat."
"Mondtags kräftige Gesamtentwürfe bieten Schauwerte von respektabler Halbwertszeit", schreibt Margarete Affenzeller in der Tageszeitung Der Standard (26.10.2024). Auch Toto reißt aus ihrer Sicht "zu Beginn die Sinne in Angeregtheitszustände, wenn die schwarzen Schatten sich im Wind wiegender Äste über die nächtliche Fassade einer Klinik ziehen und das Horrorpersonal der deutschen 1960er-Jahre sich von innen den Fensterfronten nähert." Allerdings dehne Mondtag "das Außenseiterdrama zum tragödischen Musical aus, dessen immergleiche Erzählschleifen entlang eines lebenslangen Roadtrips zunehmend durchhängen."
Ersan Mondtags Uraufführungsinszenierung am Burgtheater ist dann auch große Oper", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (26.10.2024). Dass 'Toto' ein Musiktheater ist, erscheint dem Kritiker schon deshalb sinnvoll, weil der schüchterne Held im Roman kaum etwas sage, aber eine interessante Singstimme habe. "Wobei: In einem richtigen Musical würde Totos Talent früher oder später erkannt, und sie käme am Ende ganz groß raus. Mit so einem Kitsch verschont uns Sibylle Berg – danke dafür. Bei ihr verreckt Toto am Ende in einem Heim, und eine posthum herausgebrachte CD mit ihren Liedern floppt. Der negative Kitsch, den Berg sich hier ausgedacht hat, ist aber auch keine Lösung."
"Im Grunde ist es eine Art Dreigroschenoper für unsere Zeit, eine Drei-Gender-Oper, die sich Mondtag, Brachtel und Berg da ausgedacht haben", schreibt Wolfgang Höbel im Spiegel (25. 10.2024). "Der nach der Geburt als männliches Wesen deklarierte Toto, den die Leute auch wegen seiner wunderlichen Singstimme bald als Mädchen verspotten, wird viele Jahre später in Hamburg von einem Arzt als Intersexueller erkannt. Und dann einer Operation unterzogen, von der an Toto mit weiblichem Pronomen durch die Erzählung seines Unglücks spaziert." Allerdings schlägt die Show aus Sicht des Kritikers "am Premierenabend noch keine tollen Funken. Sie köchelt eher nett und unterhaltsam vor sich hin."
Es sei "kein fröhlicher Abend", konstatiert Michael Lhotzky in der FAZ (29.10.2024): "Sibylle Bergs Toto ist immer lieb, versucht immer, allen zu helfen, es allen recht zu machen, selbst die bittersten Kränkungen und Misshandlungen durch die anderen als deren Verzweiflungstaten zu erklären." Der Abend beeindrucke vor allem im Ensemble, allen voran mit dem "zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt" schwankenden Bruno Cathomas.
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