Der große Gatsby - Schauspiel Frankfurt
Eure Party ist unser Alptraum!
26. Oktober 2024. Regisseurin Ewelina Marciniak und Autorin Iga Gańczarczyk sind vor allem für ihre feministischen Umdeutungen klassischer Werke bekannt. Nun geben sie Scott Fitzgeralds "Der große Gatsby" einen klassenkämpferischen Dreh.
Von Leopold Lippert
26. Oktober 2024. Ganz offen ist der große Bühnenraum im Schauspiel Frankfurt, und in der gähnenden Leere steht eine romantische Ruine aus Holz, Plastik und Leuchtstoff. Die prägende Farbkombination von Neon- und Pastelltönen entrückt dieses New York der 1920er-Jahre, in dem "Der große Gatsby" gleich seine Partys geben wird. Wer die kitschig-detailverliebte Opulenz der Baz-Luhrmann-Verfilmung noch vor Augen hat, findet in Frankfurt den unheimlichen Kontrast.
Linda Pöppel als Partygirl
Verausgabt wird sich trotzdem in dieser Inszenierung von Ewelina Marciniak, die einer nicht immer ganz romangetreuen Bearbeitung von Iga Gańczarczyk folgt: Die Schauspieler:innen haben tolle Glitzeroutfits, tanzen Charleston (Choreographie: Agnieszka Kryst), singen inbrünstig, und ein Synthie-Jazz-Trio (Tim Roth, Martin Standke, Yuriy Sych) spielt nicht wirklich zeitgenössische Musik dazu. Und mittendrin das Partygirl mit Pagenkopf Jordan Baker (Linda Pöppel), die auf der leeren Bühnenmitte Small-Talk monologisiert: "Nein, nein, Jordan Baker, nicht Josephine!"
Trotz der großen Materialgeste bleibt der zentrale dramaturgische Einfall dann doch eher halbherzig: Marciniak führt zwei neue Figuren ein, den Burschen (Stefan Graf) und das Mädchen (Nina Wolf), die Bedienstete in den Haushalten Gatsby und Buchanan verkörpern, und die eigentlich nur zwei Romanfiguren ersetzen (nämlich den Tankstellenbesitzer George B. Wilson und seine Frau Myrtle). Die wiederum standen ohnehin für dasselbe Prinzip: Arbeiterklassenrealität als Kontrastfolie zum Glamour der Roaring Twenties.
Der Bursche und das Dienstmädchen sind halt ein bisschen mehr in-your-face. Die beiden reklamieren sich immer wieder in Szenen hinein, um auf die unsichtbare Arbeit aufmerksam zu machen, die den extravaganten Lebensstil der New Yorker Oberschicht erst ermöglicht. Und so wird die Handlung unterbrochen, um ihnen beim Tisch decken, Staubsaugen oder Hemden bügeln zuzusehen.
Die falsche Hauptfigur
Das ist im Grunde ein naheliegender Einfall, zumal wir hier in Frankfurt sind, einer Stadt, in der soziale Ungleichheit immer ein bisschen krasser und sichtbarer ist als anderswo, und wo das großbürgerliche Theaterfoyer nur wenige Schritte vom Bahnhofsviertel entfernt liegt. Aber so richtig geht das nicht auf, denn dieser Bursche, der am Anfang stolz erklärt "Ich bin hier die Hauptfigur!" ist es natürlich nicht. Eher sind er und das Dienstmädchen Stichwortgeber:innen für sozialkritische Plattitüden, manchmal auch Erzähler:innen, aber als Figuren bekommen sie keine Tiefe.
Man erfährt im Grunde nichts über sie als Personen, denn Marciniak will ja schließlich doch die ganze lange Jay-Gatsby-Geschichte erzählen, mit seiner tragischen Liebe zu Daisy (Sarah Grunert), die unglücklich mit dem ebenso reichen Tom Buchanan (Arash Nayebbandi) verheiratet ist. Mit dem Rumgegockel der beiden Millionäre auf abgeschrägter Bühne, dem von Daisy verursachten aber von Gatsby verantworteten Autounfall, bei dem das Dienstmädchen stirbt, und dem Rachemord des Burschen an Gatsby. Und schließlich dem Begräbnis, zu dem niemand kommt. Da bleibt kaum Zeit für Arbeiter:innenbiographien.
Wer arbeitet hier eigentlich?
Zudem wird die penible Sichtbarmachung von Arbeit auch ein bisschen dadurch konterkariert, dass ja nach wie vor jede Menge unsichtbare Arbeit auf und hinter der Bühne stattfinden muss. Kaum hat das Mädchen in einer Anwandlung von Selbstermächtigung Gatsby Hemd und Hose ausgezogen und sich selbst übergestreift, huscht schon eine stumme Bühnenarbeiterin zu Schauspieler Christoph Bornmüller, um ihm außerhalb des Rampenlichts geschwind seine Klamotten für die nächste Szene bereitzulegen.
Und dann ist da noch das Ende. Denn die Textbearbeitung von Iga Gańczarczyk wartet mit einer Reihe von "plot twists" auf, die so genrefremd unwirklich scheinen, dass man auch sagen könnte, sie sind einfach plump draufgepackt auf die zwei pausenlosen Stunden. Immerhin fließt dabei ganz realistisch Theaterblut. Peng. Peng.
Der große Gatsby
nach F. Scott Fitzgerald
Für die Bühne bearbeitet von Iga Gańczarczyk
Regie: Ewelina Marciniak, Bühne: Grzegorz Layer und Ewelina Marciniak, Kostüme: Julia Kornacka, Musik: Waclaw Zimpel, Choreographie: Agnieszka Kryst, Dramaturgie: Iga Gańczarczyk, Eivind Haugland, Licht: Aleksandr Prowaliński.
Mit: Christoph Bornmüller, Isaak Dentler, Heidi Ecks, Stefan Graf, Sarah Grunert, Arash Nayebbandi, Linda Pöppel, Matthias Redlhammer, Nina Wolf.
Live-Musik: Tim Roth, Martin Standke, Yuriy Sych.
Premiere am 25. Oktober 2024
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
schauspielfrankfurt.de
Kritikenrundschau
"Ein enttäuschender Abend", seufzt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (28.10.2024). Der Abend wirke "auf eine Weise lang, als wäre noch Zeit übrig gewesen und darum halt noch ein Song hineingenommen worden, und dann noch einer. Ein Moratorium für das Singen von Songs auf der Sprechtheaterbühne erscheint inzwischen fast so sinnvoll wie ein Moratorium für Videos." Ewelina Marciniak biete "eine gut aussehende Theateroberfläche“, aber "dann müsste noch etwas kommen, während der Abend dahinplätschert, als würde das Regieteam es gar nicht merken."
"Das Leben scheint dahinzuplätschern für die Verwöhnten, ebenso wie phasenweise auch das, was auf der Bühne zu sehen ist. Der Ansatz, zwei neue Hauptpersonen zu ergänzen, wird nicht konsequent verfolgt", berichtet Katja Sturm in der Frankfurter Neuen Presse (28.10.2024). Visuell biete der Abend "beeindruckende Effekte".
Die Selbstkommentierung der für die Bühnenhandlung hinzugefügten Akteure "bekommt man bald über", sagt Tilman Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.10.2024 | €). Positiv fällt dem Rezensenten anhand der aufgespaltenen Figur der Figur Daisy auf, "dass diese dritte Premiere der neuen Spielzeit im Schauspiel Frankfurt nach 'Faust' und 'Szenen einer Ehe' ein weiteres Mal danach fragt, wie wir unsere Vergangenheit erleben, wie präsent sie uns ist und ob wir unsere damalige Person mit der jetzigen in Einklang bringen. Dass dies auch hier mit den genuinen Mitteln des Theaters geschieht, lässt für die Spielzeit in Frankfurt hoffen."
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