Das Dinner - Deutsches Theater Berlin
Verdorbene Klasse
27. Oktober 2024. Der Plot hat es in sich: Zwei Brüder und ihre Frauen treffen sich, weil im Netz Videos kursieren, in denen ihre Söhne Obdachlose misshandeln. Eine Frau kam zu Tode. Noch kennt keiner die Täter. Im Deutschen Theater hat András Dömötör den Thriller von Hermann Koch auf die Bühne gebracht. Mit Starbesetzung.
Von Jakob Hayner
27. Oktober 2024. "Das wird heute kein entspannter Abend", sagt Claire gleich. Wunderbar, denkt sich der Zuschauer, Theater mit Problemen. In "Das Dinner" treffen sich zwei Paare im Nobelrestaurant. Und ja, das eskaliert gewaltig, wie man es von Stücken wie "Der Gott des Gemetzels" oder "The Party" kennt. Mit jedem Gang – Aperitif, Hauptgang, Dessert, Digestif – bricht ein weiteres Stück der moralischen Fassade der liberalen Mittelklasse zusammen. Was am Ende bleibt? Erbarmungsloser Klassenkampf von oben.
Distinktionsbesessenes Kulturbürgertum
Doch von vorne: Am Deutschen Theater Berlin haben Regisseur András Dömötör und Dramaturgin Karla Mäder den bitterbösen Roman "Angerichtet" von Herman Koch sehr well-made auf die Bühne gebracht. Es geht um zwei Familien – die Männer sind Brüder –, deren jugendliche Söhne ihr sadistisches Vergnügen, Obdachlose zu quälen und sich dabei zu filmen, soweit treiben, dass eine Frau zu Tode kommt. Noch weiß niemand außerhalb der Familie, wer die Täter sind. Vertuschen oder gestehen, der alte Konflikt.
Nun sitzen die Erwachsenen vor Weingläsern und Vorspeisentellern, um das Problem zu besprechen. Dass das kein entspannter Abend wird, versteht sich von selbst. An der offenen Küchenzeile im Hintergrund wird geschnippelt und flambiert wie in "The Menu". Ann-Christine Müllers strenges, in Grau gehaltenes Bühnenbild mit den zahlreichen Neonröhren sieht aus wie inspiriert von dem Film, der die Reichen kulinarisch aufs Korn nimmt. Das funktioniert auch in "Das Dinner" hervorragend.
Große Lacher sammelt Andri Schenardi als geflissentlicher Kellner, der die Speisen anpreist wie im "Manufactum"-Katalog: zu jedem Produkt eine aufgeblasene Story fürs distinktionsbesessene Kulturbürgertum. Das erinnert – "der Rosmarin bekrönt die Olive" – an Loriot, wie auch der mit einer Weinflasche kämpfende Restaurantchef, gespielt von Jens Koch. Und besser kann man die Figuren kaum kennenlernen als durch ihre Reaktion auf "ein kräftiges Ciao aus Sizilien mit einem Hauch von Frankreich".
Bernd Moss als selbstgefälliger Politiker Serge lässt sich von dem Geschwafel beeindrucken, ganz anders Ulrich Matthes als dessen Bruder Paul, ein zynischer Lehrer. Ein Gegensatz wie katholische und protestantische Ethik, auch bei den Frauen: Wiebke Mollenhauer als Babette wirkt sphärisch abwesend, doch brodelt ein Vulkan aus Verachtung in ihr. Maren Eggert als Claire ist hingegen bodenständig und zupackend.
Linkes Parteibuch, rechtes Denken
So unterschiedlich die Gemüter sind, so unterschiedlich der Blick auf das Problem. Oder was man als Problem begreift. Das sind nämlich weniger die Söhne, die sich wie die radikalisierte Agenda-2010-Jugend aufführen ("Verdammte Assitante! Such dir Arbeit!"), sondern die Obdachlosen. Was liegen die im Weg! Und der Gestank! Es ist der instinktive Ekel der Bürger vor auswegloser Armut, an der man – selbst mit linkem Parteibuch – längst nichts mehr ändern will.
Man muss die Dinge "aus der richtigen Perspektive betrachten", sagt Claire. Aus der Perspektive des eigenen Vorteils nämlich. Und des Nachwuchses, gespielt von Carlo Krammling. Nur Serge, die große Hoffnung der Sozialdemokratie gegen den Rechtsruck bei den Wahlen (man merkt, die Vorlage ist älter und aus den Niederlanden) will an die Öffentlichkeit gehen und seine Karriere opfern. Heftige Widerrede. Egoist! Sollen die Rechten etwa die Wahl gewinnen?
Dömötör inszeniert "Das Dinner" als spannendes Moralkammerspiel, psychologisch-realistisch mit epischen Einsprengseln und nah am Publikum (die beiden Paare sitzen anfangs in den unauffällig-alltäglichen Kostümen von Almut Eppinger in der ersten Reihe). Zwei Stunden ohne Atempause. Ästhetisch bricht der Abend nicht in neue Welten auf, sondern erzählt eine Geschichte. Und das ist auch gut so.
Bürgerliche Erbkrankheiten
Die Geschichte hat es nämlich in sich: Das hier vorgeführte Bürgertum will Konsum statt Weltgestaltung. Foodie statt Commie. Probleme löst man mit Geld. Klappt das nicht, dann mit Gewalt (eine Erbkrankheit des Bürgertums). Die eigenen Werte will man nicht mehr universalisieren, weder im Kleinen noch im Großen. Schlimmer noch: Wer das will, wird fertiggemacht. Fies sind hier, weit realistischer als in wohlfühlfeministischen Stücküberschreibungen, Frauen wie Männer. It’s the economy.
In "The Menu" ist es der gute alte Cheeseburger, der einen vor Dekadenz in Küche und Gesellschaft rettet, ein Lob der traditionellen Selbstbeschränkung. In "Das Dinner" gibt es zwar zum Schluss auch Pizza und Cola statt Haute Cuisine, aber nicht als Zeichen der Gesundung, sondern der Krankheit zum Tode einer nicht nur habituell zutiefst verdorbenen Klasse, die in ihrer Krise keinerlei Rücksichten mehr nimmt. Furios.
Das Dinner
nach dem Roman "Angerichtet / Het Diner" von Hermann Koch
aus dem Niederländischen von Heike Baryga
Fasssung für das Deutsche Theater von Karla Mäder und András Dömötör
Regie: András Dömötör, Bühne: Ann-Christine Müller, Kostüme: Almut Eppinger, Musik: Tamás Matkó, Video: Bálint Kolozsváry, Licht: Matthias Vogel, Dramaturgie: Karla Mäder.
Mit: Ulrich Matthes, Maren Eggert, Bernd Moss, Wiebke Mollenhauer, Jens Koch, Andri Schenardi, Carlo Krammling.
Premiere am 26. Oktober 2024
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.deutschestheater.de
Kritikenrundschau
"Das Deutsche Theater hat mit dieser Starensemble-Besetzung endlich einen Abend im Programm, der das Haus füllen wird", äußert Barbara Behrendt im rbb (27.10.2024). "Spannungvoll" stelle er "Fragen über Moral, Glück, Wahrheit und Gewalt in der gutbürgerlichen Gesellschaft". Gleichwohl, so die Kritikerin, hätte die Inszenierung durchaus "ein bisschen schärfere Kanten" haben dürfen. "Regisseur András Dömötör hat das Buch klug gekürzt, stößt jedoch an das gängige Adaptionsproblem: Wenn erzählte Roman-Szenen zu Dialogen werden, sagen die Figuren Dinge, die sie eigentlich nie aussprechen würden." Zudem führe András Dömötör "das Kammerspiel mit exaltierten Szenen und zusätzlichen Pointen letztlich eben doch in Richtung Boulevard".
Von einem "vermeintlichen ‚Debattier-Stück‘, das vielmehr ein Debattenvermeidungstheater" sei, berichtet Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (27.10.2024, €). Regisseur Dömötör "und sein gepflegtes Erste-Klasse-Ensemble" setzten "dessen Zynismus noch eine zweite Maske auf, die durch ausgestellt epische Spielhaltung Reflexion" vortäusche. "Jede Figur wechselt immerfort zwischen erzählender und erlebter Rede, doch wirklich analytisch wird an diesem detailverliebten, edelboulevardesken Oberflächenspiel nichts. Zu beschränkt klischeehaft halten die vier Protagonisten der Gesellschaft ihren amoralischen Spiegel vor, der nicht mehr zeigt, als er sehen will."
Herman Kochs Roman aus dem Jahr 2010 sei "schlecht gealtert", findet Sophie Klieeisen in der Berliner Morgenpost (27.10.2024, €). Regisseur András Dömötör versuche "zu schärfen und zu pointieren", doch das Stück plätschere "zu lang mit den Belanglosigkeiten von Bedienritualen und innerfamiliär längst durchdeklinierten Sticheleien dahin". Nur am Schluss, in der Auseinandersetzung von Claire und Serge, kippe das, was bisher den Abend geprägt habe – "die hämische Abbildung einer ungenau gezeichneten Gesellschaftsschicht" – plötzlich "in einetodernste Debatte", so die Kritikerin. "Hier blitzen die spielerischen Möglichkeiten bei Maren Eggert und Bernd Moss auf". Letztlich blieben die Schauspieler jedoch "an den zu seichten Text gefesselt, der einer sozialchirurgischen Erbarmungslosigkeit von Yasmina Reza, Sally Potter oder Thomas Vinterberg nicht das Wasser reichen kann".
"Dömötörs Inszenierung bleibt zwar um einiges philanthropischer als die Vorlage, hat aber erfreulicherweise versucht, die komplexitätsverbürgende Struktur des Romans weitestgehend auf die Bühne zu retten", findet Christine Wahl im Tagesspiegel (27.10.2024, €). Ulrich Matthes spiele den Facettenreichtum des Ich-Erzählers Paul grandios aus. Die Komplexität der anderen Figuren – insbesondere der Ehefrauen – werde zwar in der Inszenierung reduziert, aber die Schauspielerinnen Maren Eggert und Wiebke Mollenhauer kämpften "mit ihrem darstellerischen Potenzial wacker dagegen an", schreibt die Kritikerin und konstatiert: "So hat das Deutsche Theater Berlin (…) einen in seinem Segment bestens funktionierenden Abend auf Basis einer interessanten Stoffwahl hingelegt – einen Publikumserfolg zumal, den es gut gebrauchen kann."
"Es ist ein Kennzeichen dieses von András Dömötör übersichtlich inszenierten Konversationsabends, dass er in seinem ersten, leichteren Teil stärker wirkt als in seinem zweiten, schwereren", schreibt Simon Strauß in der FAZ (28.10.2024). Hier bekomme der Abend "eine pädagogische Unwucht, an der auch schon die Vorlage krankt". Ulrich Matthes allerdings bleibe "der große Virtuose des einfühlenden Realismus", so Strauß.
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Ein großer Hit waren damals, landauf, landab, die Edelboulevard-Salon-Komödien von Yasmina Reza, allen voran ihr Klassiker „Der Gott des Gemetzels“ .
Die erste Hälfte des Kammerspiels gehört vor allem Uli Matthes, der in der FAZ als „großer Virtuose des einfühlenden Realismus“ gerühmt wurde. Er genießt es sichtlich, endlich mal wieder die Register seines Könnens zu ziehen und in die Nuancen von Ekel und Angewidertsein über das snobistische Gehabe seines Bruders und Kellners einzutauchen. Zugleich darf er immer wieder aus der Handlung treten und dem Publikum als Erzähler neue Details über den Kriminalfall zuraunen, der bislang noch unter dem Teppich gehalten wird. Durch diesen Kniff, der dem Erzählstil des Romans folgt, wird die Theaterfassung von Regisseur Dömötör und DT-Dramaturgin Karla Mäder nicht ganz so glatt wie die Hollywood-Film-Version von 2017 mit Richard Gere, die Glamour auf den roten Teppich der Berlinale brachte, aber sonst kaum Spuren hinterließ.
Als zum Dessert die Wahrheit auf dem Tisch liegt, prallen die Gegensätze frontal aufeinander: Serge hat die eigene Karriere als Spitzenkandidat im Blick und will es nicht riskieren, mit der tickenden Zeitbombe des unaufgedeckten Totschlags einer Obdachlosen durch seinen Sohn und seinen Neffen anzutreten. Er plant seinen Rücktritt und will Yuri und Michel ihrer gerechten Strafe zuführen. Das ruft den Rest des Trios auf den Plan. Vor allem Claire, die bis dahin recht stumm und abgeklärt daneben saß, zeigt nun ganz andere Seiten und demonstriert die Grausamkeit, zu der eine Mutter fähig ist, die um die Zukunft ihres Sohnes kämpft. Als eine unnahbare Mutter, hinter deren Fassade es bis zum Gefühlsausbruch brodelt, ist Eggert auch im Anfang Oktober gestarteten Kinofilm „Der Spatz im Kamin“ von Ramon Zürcher zu erleben. Ihr gehört die zweite Hälfte des Abends, bis sie mit ihren Lieben ganz entspannt auf der Couch lümmeln und die Pizza vom Lieferservice in sich hineinmampfen darf.
Mit „Das Dinner“ liefert Iris Laufenberg nach vielen Abenden, die sich von den Vorgängern Bernd Willms/Oliver Reese und Uli Khuon abgrenzen und ein jüngeres, weibliches Publikum ansprechen, eine Well-made-Inszenierung, die das bürgerliche Stammpublikum in ihrer Lebensrealität abholt und mit einem handwerklich makellosen, stargespickten Edelboulevard-Kammerspiel zurück ins DT lockt. So voll war es dort in letzter Zeit selten, alle Vorstellungen bis Weihnachten sind schon jetzt ausgebucht, aber so in Ehren ergraut waren die Sitznachbarn auch schon lange nicht mehr.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/10/31/das-dinner-deutsches-theater-kritik/