Mit Lear dankt die Welt ab

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 24. Februar 2009. Einen Zettel mit der Aufschrift "I am Lear" hat er umgehängt, der kleine Mann im schwarzen Anzug. Darin sieht er aus wie all die anderen. Und doch behauptet er von sich, er sei "in jedem Zoll ein König". Aber zu diesem Zeitpunkt ist die Sache gelaufen für Lear, der längst nicht mehr Spielmacher ist, sondern eine geschlagene Spielfigur, aufgestellt irgendwo neben dem Brett, auf dem jetzt ein gar grausiges Spektakel um Machtgewinn oder Machterhalt stattfindet. Eines, das längst keinen vorhersehbaren Gesetzmäßigkeiten mehr gehorcht.

Peter Konwitschny, für manche immer noch Enfant terrible der Opernregisseure, macht ausnahmsweise Schauspiel an dem Ort, der ihm fast zur zweiten Heimat geworden ist: In der Grazer Oper war er ja über Jahre hindurch regelmäßig beschäftigt, und seine Inszenierungen von Mozart bis Wagner und Verdi haben stets das Publikum polarisiert.

Der scheidende Grazer Opern-Intendant Jörg Koßdorff hat das Bühnenbild entworfen für diesen "König Lear", der Stile und Zeiten sprengt. Denn Peter Konwitschny, kongenial ko-interpretierend mit dem fleißigen Shakespeare-Übersetzer Werner Buhss, will uns viel mehr erzählen als die Geschichte eines Königs, der aus Jux und Tollerei auf die Macht verzichtet und dem Trug aufsitzt, trotzdem noch weiter mitspielen zu können in der Oberliga der Mächtigen.

Parabel vom Ende der Werte
Buhss/Konwitschny zielen auf eine Parabel vom Ende der Werte und damit vom Ende einer Kultur. Die Demontage ist beängstigend folgerichtig. Zuerst sind wir in einem Theater der Shakespeare-Zeit, wozu das Grazer Logentheater bestens taugt. Auch auf der Bühne sitzen Zuschauer im Halbrund, und die Spielfläche ist über eine Rampe und eine Treppe hinauf in den ersten Rang durch den Zuschauerraum weitergezogen. Da sind auch noch die Kostüme "gewöhnlich", sprich: Renaissance.

Lear (Udo Samel), der gutgelaunte König, inszeniert gerade aus einer Laune heraus seinen eigenen (Balkon-)Sturz, fordert dann die Töchter zu Lob- und Liebes-Elogen heraus. Wir kennen die Geschichte. Peter Konwitschny lässt keine Gelegenheit verstreichen, auch das Buffoneske hervorzuheben. Herzhafte Komödiantik durchzieht die Geschichte, die sich doch zusehends eindüstert. Handfest, spontan, impulsiv wirkt das, und die Fallhöhe zur Tragödie, die sich spätestens mit der Blendung Glosters ultimativ zuspitzt, ist enorm. Er wird hier übrigens nicht geblendet, es werden ihm die Augäpfel herausgedrückt, und diese kugeln dann unappetitlich auf dem Bühnenboden herum.

Der Mann inmitten einer zerbrechenden Umgebung
Dann der Bruch: Was bisher sozusagen "aus dem Leben" heraus entwickelt, ehrlich und hautnah vor oder zwischen dem Publikum gespielt war, mutiert nach zweieinhalb (von vier) Stunden urplötzlich zum Guckkastentheater. Alle Akteure tragen Anzug, sie sind offenkundig aus ihren ursprünglichen Rollenmodellen gekippt. Sie intrigieren jetzt im bürgerlichen Verstellungs-Mäntelchen und doch schon weitgehend außerhalb der Regeln von Moral und Hierarchie. Und dann bricht Konwitschny noch einmal den Stil: Zuletzt sitzen die Handelnden da, wie gelähmt, ratlos. Sie tragen Alltagskleidung, sie rezitieren ihre Sätze, ein jeder vor sich hin, ohne Saft und Kraft.

Da ist das Ende von "Handlung" erreicht. Der Kitt, der die Gesellschaft bisher zusammen gehalten hat, ist offenbar herausgebröselt. Es gibt nur noch Risse, Fugen, sprich: Isolation der Figuren, Orientierungslosigkeit. Das Morden, das Sterben – es geschieht plan- und regellos, und sinnlos sowieso. Diese Lear-Produktion ist schonungsloses Schauspielertheater, das fast ohne Requisiten auskommt. Da lebt alles vom Wort, von der der starken Mimik, von der handgreiflichen Interaktion.

Und Udo Samel in der Titelrolle gibt einen schauspielerischen Maßstab vor, dem das Ensemble des Grazer Schauspielhauses, verstärkt um einige Eleven von der Kunsthochschule am Ort, mit Feuereifer nachstrebt. Das hat also beachtliches Format. Udo Samel schafft es immer, dem Lear Mehrdimensionalität zu geben. Anfangs ist er ein Grand Guignol und im Grunde einer, der das Zerbrechende einer Gesellschaftsform im Kern erkannt hat. Will er mutwillig die Probe machen auf etwas, was er tief im Innersten schon argwöhnt?

Die Jungen steigen, die Alten fallen
Er wird den Gang der Dinge trotzdem kaum begreifen wollen, wird ehrlich entrüstet sein, sich aber doch schnurstracks dem Narren und seiner Weltsicht anpassen: Die Flucht in den Wahnsinn, vor dem Wahnsinn aus der Schiene laufender gesellschaftlicher Mechanismen. Irgendwie gleichmacherisch geht es dahin, Lear ist nicht verrückter als Graf von Gloster (Götz Argus). Und Kent, dieser Recke der Vernunft und Lordsiegelbewahrer der althergebrachten Ordnung, nimmt sich aus wie Urgestein. Gerhard Balluch ist in dieser Rolle ein charakterstarker Gegenspieler, ebenso wie Otto David als souveräner, eben: königlich-würdevoller Narr.

Sehr unterschiedlich im Tonfall die drei Töchter: Frederike von Stechow gibt Goneril, der Ältesten, immer einen leisen Touch zur Überdrehtheit. Jaschka Lämmert als Regan steht für die zielstrebige, die ihre Affekte in Zaum und die Männer damit bei der Stange hält. Sophie Hottinger als Cordelia schließlich – durchaus rollenspezifisch mit einer gewissen Noli-me-tangere-Ausstrahlung. Dieser Rolle galt nicht wirklich das Interesse des Regisseurs. "Indem die Jungen steigen, fallen die Alten eben", sagt Edgar. Wichtiger aber: "Die Schöpfung ist ein ausgebranntes Haus." Peter Konwitschny und Werner Buhss erzählen nicht eine Geschichte vom Gehen eines alten und Kommen eines neuen Königs. Da ist wirklich ein Ende erreicht, eines mit Schrecken, der dem Publikum durchaus in die Glieder fährt, weil es die Welt als solche betrifft.

 

König Lear
von William Shakespeare, Deutsch von Werner Buhss
Regie: Peter Konwitschny, Bühne: Jörg Koßdorff, Kostüme: Michaela Mayer-Michnay.
Mit: Udo Samel, Frederike von Stechow, Jaschka Lämmert, Sophie Hottinger, Otto David, Gerhard Balluch, Götz Argus.

www.buehnen-graz.com


Mehr lesen? Am Schauspielhaus Graz setzte im Januar 2009 Christina Rast die Uraufführung des Stückes wirkinderdesnetzes in Szene, das Dorota Masłowska nach Texten der polnischen Kultbloggerin @linka verfasste. Ebenfalls im Januar setzte sich in Graz Patrick Schlösser mit einer Bühnenfassung von Ingeborg Bachmanns Roman Malina auseinander.

 

Kritikenrundschau

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.2.2009) berichtet Gerhard Stadelmaier von seinen Erlebnissen in Graz. Lear hat er nicht gesehen, nur die "gehobene Studentenkabarett-Version eines Anti-Lear". In der Oper helfe dem Regisseur Peter Konwitschny, was immer er auch treibt, die Musik. "Im Schauspiel aber hat der Opernmann nur die Sprache, da muss er bar bezahlen." Konwitschny bezahlt aber nicht, sondern bricht "Lear" in drei Teile auseinander. Erstens in ein "elisabethanisches Kostümfest", zweitens: den "Gegenwartsbetrugskitsch" mit Videos und "abgestreiften Slips", und drittens: das "Reclamheft plus eigentlich unnötige pantomimische Begleitgesten". Udo Samel, "Schaubühnen- und Burgtheaterkönig der Nebenrollen", trete als ein "embompointweicher Bürger" auf, "den man sofort als Bürovorstand, als Untersuchungsrichter oder als Wirt besetzen" würde. Samel spiele Lear kichernd und Trompete blasend wie ein "zu Streichen aufgelegtes altes Kind". Man "glaubt" ihm den König nicht; von dem Stück, das eine "Dampfwalze ist, die über alle und jeden hinwegrollt bis zur totalen Vernichtung" bliebe nur eine "Lachspur". Die Projektionen im zweiten Teil sollten, vermutet Stadelmaier, wohl sagen, "dass so ein Stück nur noch als Projektion unserer Vorstellungen von diesem Stück funktioniert". Aber wir könnten auch das "wohlfaule Denken bleiben" lassen und wünschen, "dass ein Theatermacher uns aus dem Nichts eine Heide zaubert". Konwitschny jedoch mache "aus dem Zauber ein Nichts". Wenn im dritten Teil "die Schauspieler in ihren Privatklamotten auf dem Tribünengestänge" säßen und den "Gang der Handlung zum Ende" aufsagen, wolle uns der Opernregisseur Konwitschny sagen: "Wir können Shakespeares 'Lear' im Schauspiel eigentlich nicht mehr spielen." Aber, fragt Stadelmaier, "wenn sie es nicht können – wer zwingt sie denn dazu?"

Stefan Keim
dagegen, er schreibt in der Frankfurter Rundschau (26.2.2009), fand die Aufführung "überragend". Nichts "Edles" sei an Samels Lear, er wolle "einfach allen Stress von der Backe haben", allerdings: "Wenn etwas nicht nach seiner Nase geht, wird sein Ton scharf. Er will, dass alle ihn anschleimen." Wenn Samel "große Tragödientonfälle mit plötzlichen Heulkrämpfen" unterfüttere, käme der "kleine, einsame Junge im gewaltigen König" zum Vorschein. Als Lear auf der Heide sei Samel eine "Urgewalt", der "Sturm tobt in seinem Inneren". Keine Minute der zweieinhalb Stunden des "spielwütigen ersten Teils" sei langweilig. Einwände wie der, dass "die griffige Übersetzung von Werner Buhss viele Klippen meidet", seien "Nebensache". Konwitschnys Interpretation sei "so schlüssig wie kreativ". Neben Samel gebe es darstellerische Glanzpunkte wie Götz Argus als geblendeter Graf Gloster oder Frederike von Stechow und Jaschka Lämmert, die sich als Goneril und Regan "immer hemmungsloser der Geilheit des Bösen hingeben", das habe "Tarantino-Format". Im zweiten Teil ginge die Aufführung "zunehmend ins Surreale". Die Wiederbegegnung des wahnsinnigen Lear mit Cordelia geschehe "parallel live und auf Video, wobei die Szene sich unterschiedlich entwickelt". Und am Ende des Abends, wenn alle Spielfreude verflogen ist, "scheint" auch die Menschheit "wahrhaftig am Ende". Unmöglich sei es, "alle 'Lear'-Facetten in einer Inszenierung zu erspüren". Konwitschny jedoch werde "dem unglaublich komplexen Stück gerecht". Und Samel schaffe es, "mit abgründiger Komik und überwältigender Kraft den großen Gert Voss auszustechen".

In der Welt (26.2.2009) schreibt der Österreich-Kulturkorrespondent Ulrich Weinzierl, dass Udo Samel "locker" jeden Vergleich mit einem "übermütigen Jungelefanten" bestehen könnte. Das Problem dieses "Scherzboldes" und Kasperles sei bloß: er wirke "nicht gefährlicher als ein brüllender Goldhamster". Die Vorzüge der Produktion: klares und deutliches Sprechen, Konwitschny erzähle die Handlung, "nichts Wesentliches zum Verständnis fehlt". Auch das Bühnenbild von Jörg Koßdorff  sei "fein und praktisch". "Da die ganze Welt Bühne ist", dürften auch die Zuschauer ein bisschen mitspielen: "'Ich habe nicht gesagt, dass Sie sich setzen sollen!', faucht Frederike von Stechows Goneril einen ziemlich unschuldigen Besucher an." Obwohl Lears "Mannen eine lästige Spaßtruppe" seien, gelängen dem Regisseur "manchmal eindrucksvolle – wie der Kunstgeschichte entlehnte – Bilder". Samels Lear erinnere dann etwa an den "Bohnenkönig" von Rubens, und "der Zug der Irren- und Versehrten über die Heide" an Brueghels "Blindensturz". Das Gemetzel-Finale verwandele die Regie in ein "kaltes Endspiel der Vernichtung". Die "Figuren in Alltagskleidung" seien nur mehr "Zombies ihrer selbst", entstiegen dem "Grab des Lebendigen". "Leer ist der Himmel, leer die Welt." Dennoch: die Produktion füge sich nicht zum "Ganzen und darum Packenden". Sie möge für Graz reichen. "Für Shakespeare und Konwitschny reicht sie nicht."

Margarethe Affenzeller vom Standard (26.2.2009) sieht Samels den Lear als ein "postmodernes Geschöpf" spielen, "das um seinen Untergang von Anfang an weiß", eine Figur, die "keine inneren Haltungen" entwickle, sondern bereits damit spiele – "Der König ist seine eigene Marionette". In diesem "anti-tragödischen Konzept" sei Samel "der richtige Mann auf verlorenem Posten", der alte König als Narr. Die Bühne hält Affenzeller für umständlich und "letztlich nicht gewinnbringend". Auf ihr schiebe der Regisseur "mehrere Inszenierungen ineinander": "Arenatheater in historischen Kostümen", "abstrakte Agitation mit Fototapetenimpressionen" und "Metatheater in Privatkleidung auf den Publikumsrängen". Durch dieses Panorama gelänge es ihm, "den Bogen bis in die Gegenwart zu spannen". Allerdings bleibe dieser Lear letztlich doch auf Distanz. Man könne ihn "nicht ernst nehmen, doch als reine Groteske verliert er ebenso all seine Kraft" und sei "trotz vieler sehr schöner Details" irgendwo im "Reflexionsdschungel" verloren gegangen.

Auch Werner Krause von der Kleinen Zeitung (26.2.2009) erkennt in Konwitschnys Lear-Version ein "Tryptichon", das, nicht zuletzt dank Jörg Koßdorffs Bühnenbild, jeden herkömmlichen Bühnenrahmen sprenge. Jeder Zoll an "Burgstar" Samel sei ein "Hampelkönig", dem alles Majestätische fern liege und der Krause sowohl an Beckett als auch an Jarrys Ubu erinnert. "Wie ein infantiler, tollpatschiger Clown irrlichtert er herum, (...) umringt von Gestalten in klassischem Purpur, die hektischen Gefühlsaufwand betreiben", "wie ein Marionettchen, das meint, sich selbstständig gemacht zu haben" und "doch nur einem armen Hund an der unsichtbaren Kette" gleiche. Mit "faszinierender Wandlungsfähigkeit und chamäleonhaft" gehe Samel seinen Weg, "im Einklang mit dem Regisseur und einem grandiosen Ensemble, das gefordert wurde wie seit Jahren nicht mehr" und das "ein Maximum an lustvoller, spektakulärer, tragikomischer Irritation für Auge und Ohr, Herz und Hirn aus diesem Endspiel" heraushole. Nach der Pause werde das "seelische Schlachtfeld" "ohne jeglichen Kraftaufwand (...) in die Gegenwart verlegt". Ein "Schauprozess ohne Anklage" sei dieser "Lear", "da es ohnedies nur Schuldige gibt, geformt zu einer fast vierstündigen Sprechoper, mit Donner und Hall, aber auch subtilen Zwischentönen, in hoher Präzision dargeboten".

In der Wiener Zeitung Die Presse (25.2.2009) schreibt ein gegensätzlich gestimmter Norbert Mayer: Konwitschny "verblödelt" die Tragödie. Zwar beginne die Aufführung mit einer "furiosen Viertelstunde der Verfremdung", dann jedoch verröchele sie "unrühmlich episch". Konwitschny habe das "junge Grazer Ensemble überfordert", das dem "merkwürdigen Solo" von Gaststar Samel als "durchgeknalltem König artig assistieren" durfte. Schuld habe Jan Kott mit seinem Satz, der "Lear" müsse im neuen Theater "nicht tragisch, sondern grotesk gespielt werden". Samel spiele, als "ob sich Weber Zettel vom 'Sommernachtstraum' ins falsche Stück verirrt hätte". Natürlich könne der "Meister des Charakterfaches" "schwachsinnig grinsende Könige" spielen. "Auch wenn er dem Publikum ironisierend zublinzelt, sitzt das. Aber der echte Charakter befindet sich im falschen Stück." Was wohl "volksnah" gedacht war, sei "pompös" geworden, ein "Fleisch gewordenes Karneval-Stück". Die Schauspieler suchten den Kontakt zum Publikum, "aufs Gröbste" dürfe Lear "die vierte Wand durchstoßen". "Von den Töchtern geschmäht, zerlegt er am Ende des dritten Aktes Sitze in der ersten Zuschauerreihe, während der Narr (Otto David) und seine Begleiter auf die betroffenen Besucher beruhigend einsprechen und ihnen Ersatzplätze auf der Bühne anweisen." Doch scheine der Funke zwischen Darstellern und Betrachtern nicht überzuspringen, "zu überdreht ist diese Hetz". Immerhin die Szenen mit dem geblendeten Gloster an den Klippen von Dover berührten. Doch müsse man sehr genau hinsehen, um "in diesem grotesk-lustigen 'König Lear' Shakespeares Apokalypse zu sehen". Konwitschny sei "der Versuchung erlegen", eine "modernistische Operette zu inszenieren".

Helmut Schödel schreibt in der Süddeutschen Zeitung (27.2.2009) über einen "spannenden, streitbaren Abend" und ein "Berserkerstück des Regietheaters". Der "glänzende Udo Samel" schere sich "grandioserweise" erst einmal gar nicht um den bekannten uralten Lear, diesen "Kindertraktierer". Stattdessen spiele er den König als einen von vielen "dieser Sorte, von Macbeth bis Drosselbart und Ubu". "Samel ist ständig unterwegs, vom Kindertheater zum Theater des Absurden und wieder zurück." Konwitschny lasse das Regietheater, "das in die Opernhäuser kam, als es im Schauspiel eigentlich seinen Zweck bereits erfüllt hatte", noch einmal "kräftig auftrumpfen". Gerhard Balluch als alter Kent erscheine bei Hof mit Rastalockenmähne, später in einem "Trachtenanzug" und spreche, "Steirer men are very good" wie ein Grazer. Samels Lear schreie gegen die "degenerierte Welt" an, versuche einen König zu spielen, der er vermutlich niemals war. In "fahlem Licht" lasse er das Publikum den Satz: und es kommt die Zeit, "da müssen wir mit unseren Füßen gehen", mitsprechen. In dieser Welt spielten Narr und Wahrheit keine Rolle mehr, Cordelia sei nur ein "nettes dummes Ding". Nach der Pause verdoppelten sich die Szenen. "Man sieht in einer Videoprojektion den König im Krankenhaus und zugleich auf einer Matratze im Verhörraum." Immer "deutlicher" beziehe Konwitschny die Tragödie "auf die Gegenwart". Da gebe es "kein großes Theater, sondern nur eiskalte Krisenregulierung."

In der Neuen Zürcher Zeitung (27.2.2009) schreibt Paul Jandl: Konwitschny zelebriere "seine Befreiung von der Musik" als "heiteren Schlag gegen einen Klassiker". Ein "Requisitentheater, das dem König einen falschen Hermelin umhängt, ihm Narrenkappen und Pappkronen aufsetzt und das Elisabethanische Zeitalter als pompösen Fake enttarnt". Mit "Pumphosen und Topfhüten, Kichern und Gläserklirren triumphiert die Inszenierung über Pathos und Tragödie." Als sei die Geschichte vom alten Potentaten, der den Töchtern vor der Zeit das Reich vererbt, ein "einziger Maskenball, wird ... getrötet, gefeixt und gelacht". Bierkisten dienten dem Ex-König als letzter Thron. "Kalauernd" schleppe sich Konwitschny durch die fast fünf Stunden. "Was mit ein paar stimmigen Bildern beginnt, schwächelt unter einer angestrengten Witzigkeit." Keine Untat, "die nicht auch ihr Heiteres hätte". Udo Samel ziehe als Lear "alle Register aufsässiger Vergreisung. Sein Kichern und Fluchen bleibt dabei so sardonisch wie das sanfte Mümmeln in den Altersheimen." Jan Thümers Edmund spinne seine Intrigen und "darf dabei die restliche Handlung fast an die Wand spielen."Am Ende seien die Figuren in ihren schwarzen Anzügen nur noch Schatten ihrer selbst, "ohne dass man wüsste, warum Konwitschnys Shakespeare auf einmal aussieht wie Beckett". Der Tod sei nur mehr "ein pathetischer Witz". Bestenfalls zum "Grazer Faschingskrapfen" habe Konwitschny Shakespeares Welt zerschlagen.

 

 

Kommentare  
Konwitschnys Lear: Weltdeutungsanspruch, der in Berlin fehlt
schade, dass graz so weit weg ist. 's scheint, als sei da eine aufführung gelungen, wie man sie hier in berlin schmerzlich vermisst - weltdeutungsanspruch, und der dann auch noch eingelöst. eins täte mich noch interessieren: wie hat denn das publikum reagiert?
Konwitschnys Lear: Grazer keine 4 Stunden gewöhnt?
unverständlicherweise lau. die sind da keine vier stunden gewöhnt und waren wohl schon müde.
Konwitschnys Lear: naturalismusverklärtes Stelltheater
jetzt ist die josefstadt "endlich" in graz gelandet: mit großem mediengetöse wird dem skandal- und dekonstruktionsregisseur die aufwartung gemacht. seitenlange berichte von bei den endproben anwesenden privilegierten journalisten über das inszenierungsgenie:" machen sie eine pause zwischen den sätzen." das grazer establishment gibt sich am faschingdienstag die ehre - und: sie kriegen was sie verdienen - ein altherrenmissverständinis von sprechtheaterhandwerk: spießiges naturalismusverklärtes stelltheater, das die heiße luft absondernden schauspieler mit seit mind. 20 jahren eingesetzten stadttheatermätzchen zudeckt- und da freut sich das grazer publikum eine runde auf der drehbühne mitfahren zu dürfen. die inszenierung wirkt als hätte er die regieanweisungen aus dem dramaturgenbüro (gleich 2 chefdramaturginnen) geemailt, und sich das ensemble eine woche vor der premiere alles zusammengestoppelt - dass das udo samel besser kann als andere, klar. und es ist konwitschny jedes banale mittel recht: kent spielt mit steirischem idiom ein pendant zum villacher eu-bauern, samel muss shakespeare rappen, die soldaten sind peinlich sportive zuckerglas-bierflaschen zertrümmerer, realistisches briefgeschreibe- und geschicke, lächerliche altherren-sexavancen von goneril und regan... usw.
letztendlich ein ziemlich teurer schultheaterabend von einem handwerkfremden regisseur der genau zu graz und zur intendanz badora passt
und die 2 dramaturginnen haben mit der interpretationslyrik die kulturjournaille eingekocht
chapeau
Konwitschnys Lear: Wer ist Beckmesser?
beckmesser-wollte er dramaturg in graz in werden-ist er badoras ex-noch ein frustierter theaterwissenschaftler mehr-oder gar der augenzwinkernde konwitschny selbst?????
Konwitschnys Lear: Kritik konservativ im schlechtesten Sinn
Kritik von Ulrich Weinzierl zu Konwitschnys König Lear in Graz vom 26.2.09 DIE WELT

Es geht mir nicht um die Kritik des Herrn Weinzierl an der Ensembleleistung oder der Inszenierung von Peter Konwitschny (die im übrigen von vielen anspruchsvollen überregionalen Zeitungen bejubelt wurde). Das Recht auf welche Kritik auch immer steht Herrn Weinzierl im wahrsten Sinne des Wortes „unwidersprochen“ zu.
Herr Weinzierl zeigt sich mit seinen lapidaren Sätzen „Sie (die Produktion) mag für Graz reichen. Für Shakespeare und Konwitschny reicht sie nicht.“ konservativ im schlechtesten Sinne. Konservieren, also bewahren will er das Klischee, dass Theater außerhalb der Metropolen einen geringeren künstlerischen Anspruch haben müssen. Einen Ausweg lässt er ihnen nicht: Experimente ja, aber für ein Stadttheater wie Graz a priori vergeblich. Lasst also alle Hoffnung fahren.

Wir sind früher gegen solche „Ewig Gestrigen“, die sich ihr Denken bequem in betonierten Klischees eingerichtet haben und die Zeichen der Zeit so überhaupt nicht sehen wollen, auf die Strasse gegangen, offenbar aber nicht nachhaltig genug.

Konwitschnys Lear: weniger Stadelmaier mehr Jan Kott
Grazer: Der Applaus war alles andere als lau. Er fing verhalten an, weil dem Publikum nicht klar war, ob das Stück wirklich zu Ende war. Dann aber wurde der Applaus durchaus furios.
Beckmesser: wie war das mit der Warnung vor einem Geisterfahrer im Radio? Wo ihnen doch Hunderte Geisterfahrer entgegen kommen. Sie sollten weniger Stadelmaier und mehr Jan Kott lesen.
Konwintschnys Lear: nachtkritik for ex-lovers
@beckmesser: endlich mal ein text der spaß macht.
@hanz: hier schreiben nur die ex-lover. nachtkritik ist berühmt dafür.
Konwitschnys Lear: scharfsinnig beim Verriss
wir wollen doch nicht mit der Gesinnungskeule hauen gehen, bloß weil Stadelmeier der Apologet eines Theaters der Errungenschaften bürgerlicher Repräsentanz ist (in dem ein teuer glänzendes und doch ach so schweres Leben gezeigt wird), kann er doch trotzdem schöne und richtige Verrisse schreiben, er bringt keine gescheiten Gedanken zusammen wenn er Lob und Preis regnen lassen möchte, da reicht‘s nur zum Kitsch, aber als Nörgler ist er oft echt scharfsinnig und sensibel.
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