Unsterblichkeit? Nein danke

von André Mumot

Hannover, 26. Februar 2009. Die Sachlichkeit, diese furchtbare, Furcht erregende Beschreibungsakribie: Sie wird wohl der ewige Skandal von Dantes "Divina Commedia" bleiben. Arno Schmidt, der den Zweiten Weltkrieg noch sehr dicht im Nacken hatte, ist über den so peinigend genau geführten Katalog jenseitiger Strafen sehr empört gewesen. Deshalb hat er 1948 einen Brief an den 1321 verstorbenen Giganten geschrieben und in einem Tonfall beißender Höflichkeit dessen "Inferno" als äußerst lehrreiches "Handbuch für KZ-Gestaltung" gebrandmarkt. Der Brief wird an diesem Abend im hannoverschen Ballhof vorgelesen und bildet den beklemmend klaren Lichtpunkt einer Inszenierung, die doch vor allem in einer tiefen Finsternis aus Schmerzen und verstreuten Sätzen herumstochert.

Wahrscheinlich hat Regisseur Christian Pade die leicht größenwahnsinnige Idee, ausgerechnet die "Göttliche Komödie" auf die Bühne zu bringen, überhaupt nur von diesem Brief ableiten können, der ihm hilft, eine generelle Sinnfrage zu stellen.

Dante-Kollektiv
In Hannover, wo die Premiere dieses ambitionierten Unterfangens mal bannt, mal verstört und nicht selten verwirrt, hat Pade schon häufig Erzähltexte fürs Theater adaptiert (Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone", Thomas Bernhards "Holzfällen", auch Arno Schmidts "Schwarzer Spiegel"). Diesmal aber geht es, in nicht mal zwei Stunden, um sehr viel mehr. Ein Stützpfeiler der gesamten Kunst-, Religions- und Kulturgeschichte steht zur Debatte: jene tröstende Vorstellung, dass sich das große Rätsel von Leben und Tod in ein fiktives Ordnungssystem übersetzen lässt, in eine ästhetisch befriedigende Abfolge von Ursache und Wirkung, Verbrechen und Strafe.

Vier Schauspieler werden dabei "als Dante-Kollektiv" von einem mephistophelisch auftretenden Vergil (Wolfgang Michalek) in die verschiedenen Höllenabteilungen gelotst: Wolf Bachofner, Moritz Dürr, Philippe Goos und Dieter Hufschmidt gestalten diesen Trip bestürzend intensiv, während die Qual der Verdammten langsam von ihnen Besitz ergreift. Denn die durchkalkulierte Übersichtlichkeit der Vorlage wird nun programmatisch in szenische Fetzen gerissen. Schrille Streicherakkorde und hallverzerrte Schreie ertönen, Arno Schmidt'sche Zettelkästen ergießen sich als literarischer Ascheregen über das Geschehen, und die einzelne Glühbirne, die von der Decke hängt, schwankt verloren durch den Raum.

Himmelfahrt mit Ghetto-Mülltonne
Plötzlich wird der goldene Colt gezogen, man schießt, man blutet aus dem Mund. Und während ein tränenerstickter Wolf Bachofner die Geschichte des Grafen Ugolino erzählt, der in seinem verzweifelten Hunger zum Kannibalen an den Leichen seiner eigenen Kinder geworden ist, wird mit perverser Wollust ein fettiges Grillhähnchen verschlungen. Das ist dann in der Tat ein Moment, der den Atem stocken lässt.

Die Erlösung kommt ausgerechnet in Gestalt der wunderbar kaltäugigen Anne Ratte-Polle. Als selige Beatrice bietet sie den Kuss des Vergessens und der Vergebung an. Um den Inferno-Veteranen diese rettende Intimität schmackhaft machen zu können, muss sie allerdings erst die sehr effektive Bühne von Alexander Lintl auseinandernehmen und erhebliche körperliche Gewalt anwenden, was sie mit Verve und bösen Blicken fabelhaft erledigt.

Die anschließende Himmelfahrt ist dann nur noch Sprachgewirr - eine einzige chorische Abstraktion, zu der ein kleines Feuer in einer Ghetto-Mülltonne knistert, Engelsstimmen sanft singen und sich einige erhaben klingende Schlagwörter absetzen. "Liebe" zum Beispiel. Oder: "Leben". Beides ist sehr weit weg. Das Dante-Happy-End, das uns hier geboten wird, das betont Pade nachdrücklich, ist Kunst, nur Abstraktion und Musik, eine Abfolge schöner, beruhigender Codes.

Dorf, doof, Maul halten
Zum Glück ist da noch Arno Schmidt, der Abgeklärte. Und dessen frivol-profane Kurzgeschichte "Tina oder die Unsterblichkeit" umklammert den gedankenumwölkten und stofflich überfrachteten Dante-Diskurs mit versöhnlicheren Tönen. Bei ihm wird freudvoll nach dichterischen Worten gesucht, und gemeinsam malen sich seine Figuren ein Jenseits aus, in dem das ewige Leben kein Heil, sondern Fluch ist – und sowieso nur die Prominenten trifft, deren Namen in gedruckter Form die Zeiten überdauern. Schlecht für Leute wie Goethe. Oder Dante. Keine Rede mehr von großer theologischer Ordnung. Dann schon lieber schlichte, diesseitige Sinn-Entsagung.

Bei Schmidt ist klar, wie das "beste Rezept für ein Erdenleben" aussehen soll, und plötzlich, nach all den Schmerzensschreien aus der Hölle, ist auf dieser Bühne alles ganz einfach: "Aufs Dorf ziehen. Doof sein. Rammeln. Maul halten."

 

Die Göttliche Komödie
von Dante Alighieri
Mit einem Vor- und Nachspiel von Arno Schmidt
Aus dem Italienischen von Ida und Walther von Wartburg
Regie: Christian Pade, Bühne und Kostüm: Alexander Lintl, Musik: Serge Weber.
Mit: Wolf Bachofner, Moritz Dürr, Philippe Goos, Dieter Hufschmidt, Wolfgang Michalek, Anne Ratte-Polle.

www.schauspielhannover.de


Mehr zu Christian Pade: Vor gut einem Jahr, im Februar 2008, inszenierte der 1962 geborene Opern- und Schauspielregisseur in Bremen die Uraufführung von Tankred Dorsts und Ursula Ehlers Künstler.

Kritikenrundschau

An Tomaz Pandurs Hamburger Mammut-Dante, für die das Thalia-Theater vor ein paar Jahre geflutet wurde, erinnere nur eine kleine Pfütze, wie Roland Meyer-Arlt in der Hannoversche Allgemeinen (28.2.) erfreut schreibt. Auch sonst sei das Pathos der Vorlage mächtig heruntergefahren. Es beginne auch nicht in einem mittelalterlichen Wald sondern in der Nordheide bei Bargfeld. Genauer gesagt gelange man über den Küchentisch des dort beheimateten Arno Schmidt ins Totenreich. Und die Art, wie "Schmidts Witz" immer wieder Dantes Pathos trocknet, das hat dem Kritiker ausgesprochen gut gefallen. "Es ist ein schöner Kontrast. Die Texte erhellen einander nicht wechselseitig noch stellen sie sich gegenseitig in den Schatten." Auch verfüge das Theater über Schauspieler, die sowohl das "schaurig Hochfahrende Dantes", als auch "das witzig Runterbrechende Schmidts" beherrschten. Doch so gelungen in dieser Inszenierung der Umgang mit Stoff und Sprache für seinen Geschmack ausgefallen ist. Manches an der Szenischen Umsetzung findet er weniger gelungen. Zum Beispiel, dass "der Fluss Lethe langatmig unter vielen Brettern hervorgegraben" und dann zum Spaßbad wird, sei schlicht unnötig.

 

mehr nachtkritiken