Eine Verzweiflungsutopie

von Bernd Noack

Nürnberg, 28. Februar 2009. Es ist so eine Art "Vorher-Nachher"-Spiel, auf das sich das Staatstheater Nürnberg mit der Zusammenführung von Lessings "Juden" und Taboris "Jubiläum" an einem Abend einläßt. Vorher: dafür steht die Verwechslungs- und Verkleidungskomödie aus dem 18. Jahrhundert, in der spielend aufklärerisch Vorurteile auf den Kopf gestellt werden.

Nachher: das ist die vernichtend gallige Farce aus der Gegenwart über das totale Scheitern jener Aufklärung und das Wuchern der Vorurteile in den Köpfen. Exakt in der Mitte aber, also zwischen der ehemaligen Hoffnung und der heute täglich erfahrbaren Ernüchterung, liegt Auschwitz – von dem Lessing nichts ahnte und das Tabori nicht begreift.

Lessings guter Glaube, Taboris grelle Zweifel

Was kann aus solch einem Spiel, solch einem Experiment werden? Wenn man die beiden "Vorlagen" nicht erst aufdröselt und dann nach dem üblichen Strickmuster ineinander verheddert, auf dass ein wirres Patchwork-Projekt entsteht, sondern jedes Stück seine eigene Sprache und seine Zeit sprechen läßt, dann geschieht auf der Bühne ganz Erstaunliches.

Die Figuren beginnen von selbst fast unmerklich aus den durch Jahrhunderte getrennten Geschichten aufzutauchen, ihre Identitäten werden verwechselbar, ihre Schicksale gleichen sich, ihre Drohungen erfüllen und ihre Sehnsüchte erweisen sich als trügerisch. Was Lessing noch im guten Glauben niederschrieb, übersprüht Tabori mit grellen Zweifeln; und wo der jüdische Dichter zynisch und trotz allem einen letzten Überlebenswillen erkennen läßt, winkt der christliche mit schmerzend leichtem Lachen ab und traut den Menschen doch das Schlimmste zu.

Frank Behnke leistet sich daher in seiner klugen Inszenierung auch nur eher beiläufig augenfällige "Klammern", um die beiden Stücken aneinander zu binden: Taboris seelenloser Totengräber etwa taucht am Ende im Rokoko-Ambiente aus dem Untergrund auf und beginnt schon mal mit seiner endlosen Arbeit. Am Schluss von "Jubiläum" dagegen reicht ausgerechnet derjenige, der schon bei Lessing prahlte, er würde keinen einzigen Juden am Leben lassen, den Untoten des Holocaust die Auschwitz-Lüge wie ein frisch gebackenes Brot.

Verquere Hasstiraden, Smalltalk und Mordkomplott

Aus der blendend heiter-weißen schrägen Ebene, auf der sich zunächst die höfische Gesellschaft so prätentiös in verlogenen Artigkeiten und muffiger Dummheit erging, ist da längst ein wüster, gespenstischer Gottesacker geworden – mit aufgerissenen Grüften und den hingeschmierten Hass-Parolen eines armseligen Neonazis. Dass sich dessen verquere Tiraden und billige Witzchen im Grunde kaum von den vernunftfernen Plattitüden der höfischen Gesellschaft und des durch die Zeitläufte wesenden Pöbels unterscheiden, ist ein weiteres Indiz dafür, wie weitsichtig Lessing war und wie wenig Tabori nur allein von unseren Tagen spricht.

Sieben wunderbare Schauspieler meistern diesen Zeitsprung bravourös. In den "Juden" schweben sie nonchalant und komisch durch die luftig-frivole Atmosphäre, um die selbstgerechten und aufgeblasenen Damen und Herren, die den Mitmenschen, die anderen Glaubens sind, nicht über den Weg trauen, über die eigenen Vorurteile stolpern, und unsanft auf ihr staunend aufgerissenes Maul fallen zu lassen: beschämt müssen sie nämlich eingestehen, dass ihre Anschuldigungen haltlos waren. Nicht der Jude war der Gauner, wie erwartet und behauptet, sondern der Christenbruder.

Freilich zeichnet Lessing seinen "Helden" als wahrhaft makelloses Individuum, was das restliche Volk nur noch beschränkter aussehen läßt – in jeglicher Hinsicht. Vor allem in Sachen Toleranz sind sie weit entfernt von der Höhe einer aufgeklärten Zeit. Folgerichtig führt Behnke sie als Karikaturen vor, die in ihrer prallen Naivität zunächst mehr auszulachen als zu verurteilen sind. Wenn da nicht durch dieses gesellschaftliche Geplänkel diese unmißverständlichen Vorwürfe und Verfluchungen blitzen würden, die aus jedem Smalltalk ein Mordkomplott machen.

Das Unbegreifbare aussprechen

In "Jubiläum" sind diese Absichten längst in die Tat umgesetzt. Auf dem Friedhof kommen die in den Konzentrationslagern Ermordeten nicht zur Ruhe, weil dieser Neonazi-Schnösel sich die Schändung der Gräber zum Hobby gemacht hat. Tabori treibt diese groteske erzwungene Situation, in der die aufgeweckten Toten als Zeugen der Vernichtung quälend in ihren Erinnerungen wühlen, auf die Spitze: "Jedes Leben hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge."

Für Tabori ist nichts unausprechlich, auch wenn es unbegreifbar bleibt. Heilig ist ihm schon gar nichts und nur mit Witz ist der Wahnsinn "ertragbar". Schmerzend sachlich läßt er von Morden an jüdischen Kindern erzählen; absurde Ertrinkungstode werden in Telefonzellen gestorben; auf Judenfrage reimen "die Arier" Rattenplage; antisemitische Scherze werden auf eigene Kosten gemacht; aus Hitler wird ein einsamer Mann und der blöde Jung-Faschist schreibt "verrecke" ohne c ...

Die Welt ist endgültig aus den Fugen, unrettbar. Der Sinn dieser oder der Geschichte überhaupt ist verloren gegangen. So (scheinbar) unbeschwert wie bei Lessing läßt sich das Vergangene und das zu Erwartende endgültig nicht mehr einordnen. Und dennoch gibt es da noch eine Melancholie, von der man am Ende dieses außergewöhnlichen Theaterabends dann freilich wieder nicht weiß, ob sie nun eine Lessing'sche Utopie oder doch nur eine weitere Tabori'sche Verzweiflung ist: der Jude gibt auch dem kleinen Nazi von dem Brot.

Teilt er da versöhnlich – oder läßt er ihn seine eigenen Lügen fressen?

 

Die Juden / Jubiläum
von Gotthold Ephraim Lessing und George Tabori
Regie: Frank Behnke, Bühne und Kostüme: Günter Hellweg.
Mit: Michael Nowack, Jutta Richter-Haaser, Nicola Lembach, Hartmut Neuber, Heimo Essl, Feli Axel Preißler, Frank Damerius.

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Mehr lesen? Im Februar 2009 inszenierte Alexander May im Kontext des Nürnberger Spielzeitmottos "Schuld" auf dem sogenannten Reichsparteitagsgelände Esther Vilars Zweipersonenstück Speer.

 

Kritikenrundschau

Die Kombination zweier scheinbar so gegensätzlicher Stücke wie Lessings "Die Juden" und Taboris "Jubiläum", wie sie Frank Behnke in Nürnberg vornahm, erweist sich laut Steffen Radlmaier von den Nürnberger Nachrichten (2.3.2009) als "geschickter dramaturgischer Schachzug": "Beide Teile (…) stehen für sich, werden nicht gewaltsam verschränkt, ergänzen sich auf beklemmende Weise, zeigen zwei Seiten einer deutschen Medaille." Chefdramaturg Frank Behnke, der in Nürnberg auch als Regisseur ungewöhnlicher Inszenierungen aufgefallen sei, könne "nicht nur mit Texten, sondern auch mit Schauspielern umgehen. Einfühlsam, überlegt, stimmig bis ins Detail." Es sei "bewundernswert, mit welch handwerklicher und sprachlicher Präzision die sieben Darsteller in ihren Doppelrollen den Zeitsprung von Lessing zu Tabori bewältigen, ohne ihn zu kaschieren."

Frank Behnke habe mit "Die Juden/Jubiläum" "den bisher entschiedensten Beitrag zum Spielzeitthema 'Schuld' abgeliefert", meint Hans-Peter Klatt in der Nürnberger Zeitung (2.3.2009). Formal sei das Unternehmen sicherlich geglückt – inhaltlich aber habe der Regisseur "die Zweifel an dieser kühnen Kombination nicht ganz ausgeräumt". Problematisch sei etwa Behnkes "inhaltliche Verzahnung, wenn er Tabori-Figuren bereits ins Ende der Lessing-Strecke einbaut und am Schluss der folgenden bösen Groteske wiederum auf diese Schnittstelle zurückverweist." Gänzlich aufgesetzt wirke schließlich "die Video-Projektion aus dem antisemitischen Film 'Jud Süß' von 1940, die Lessings versöhnlichen Aufklärungs-Optimismus offenbar ad absurdum führen soll." Es gebe aber auch "großes Schauspielertheater" und "einprägsame, nachhaltige Auftritte" zu sehen. Und "jenseits ihrer niederschmetternden Thematik und ihrer eindringlichen Bearbeitung des Generalthemas 'Schuld' erfreut (soweit hier Freude erlaubt ist) die Aufführung durch ihre gelungenen Bewegungsmuster." Denn Behnke sei ein Regisseur, "der nicht nur inszeniert, sondern choreografiert".

 

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