Fallen in der Dunkelheit

von Michael Laages

Kassel, 13. März 2009. Tatsächlich liegt ja zu Füßen des Urban-Krankenhauses mitten im Berliner Stadtteil Kreuzberg ein Schiff vor Anker. Als Restaurant mit gut sortierter Frühstücks-, Mittags- und Abendkarte macht es eine kleine Bucht im Landwehrkanal zum angesagten Ausflugsziel für die nähere Nachbarschaft. Kann sein, dass akkurat hier die Idee entstanden ist zum jüngsten Theaterstück der Freiburger Autorin Rebekka Kricheldorf, geschrieben im Auftrag des Staatstheaters in Kassel – was geschieht, wenn das Restaurant- und Party-Schiff eines Tages mal ablegt, könnte sie sich bei einem langen Sonntagsfrühstück gefragt haben. Und was, wenn das Schiff dabei vom Landwehrkanal direkt aufs weite Meer geriete - womöglich noch in schwere See?

Stoff ist das für eine finstre Farce, ein dunkel funkelndes Katastrophenspiel. Denn abgeschnitten von allem, nur auf sich selbst zurückgeworfen, entwickeln die Mitreisenden an Bord ein explosives Potenzial aus Selbst- und Fremdhass. Und ob nun im Laufe dieser absurden Reise ins Nichts tatsächlich ein "Ding aus dem Meer", eine Art Ungeheuer von Loch Urban, magische Wirkung auf die Zwangs-Gemeinschaft auszuüben beginnt, ist eventuell schon gar nicht mehr so wichtig – es genügt, dass fast jeder das fischige Monster mal gesehen zu haben meint im zunehmenden Delirium.

Party-Schiff an der Neigung des Horizonts
Vor allem aber haben alle an Bord einander gegenseitig (und auch sich selber) ins Ich geschaut. Das ist schrecklich genug. Mit dabei: Frau Oberärztin, frisch befördert und zur Feier des Tages Gastgeberin der Party. Ihr halbwüchsiger Sohn. Der derzeitige Lover von Frau Oberärztin, der als Chefredakteur für ein handelsübliches Arsch-und-Titten-Magazin verantwortlich ist und sich vor längerer Zeit schon die Samenstränge durchtrennen ließ, um endlich "frei" zu sein im absichtslosen Rumgevögel. Eine alte Freundin der Gastgeberin, die mal Schriftstellerin war, bis sie bei einer Lesung der eigenen Kundschaft mal so richtig ins Gesicht sah und fortan keine Zeile mehr schrieb, dafür aber damit begann, sich konsequent zu Tode zu saufen. Schließlich Mimi, das Mädchen vom Bord-Service, sehr lange sehr unerschütterlich im Beharren auf ein paar fundamental vernünftigen, das heißt: moralischen Prinzipien fürs Überleben im Dschungel namens Welt. Oder Partyschiff.

Mimi ist Jungfrau und für keine Anmache zu haben; und als das Unglück unübersehbar ist, weiß sie noch, was Beten heißt – ob türkisch oder polnisch, wer weiß. Die Reise dauert mehr als einen Monat und nimmt kein gutes Ende. Stück für Stück wird die Besatzung dezimiert, und "Das Ding aus dem Meer", das angeblich in der Tiefe lauert, ist wahrscheinlich eher in Herz und Hirn von Herrn und Frau Jedermann zu Hause.

Erschütterte Reise-Gesellschaft
Mit der Zeit, genauer: nach dem zweiten Mord, spricht die versoffene Ex-Autorin (die ja auch ein finster-visionäres Selbstbild der Autorin am Krankenbett der Zivilisation ist) mit niemandem mehr direkt, sondern alles nur noch in ein Diktiergerät: das Logbuch auf der Titanic. So erzählt, klingt Kricheldorfs Fabel aber viel zu finster – tatsächlich (und das ist das Kunststück, der Kunstgriff des Textes) kommt "Das Ding aus dem Meer" sehr lange wie ein ziemlich well made Boulevard-Play daher.

Die Autorin setzt filigrane, akkurat auf Pointe geschriebene Dialoge, das Party-Geplapper zu Beginn ist eine beginnende Zimmerschlacht der feineren Sorte: jeder und jede gegen jede und jeden. Die Fetzen fliegen und der Schampus perlt. Versammelt ist ein Haufen armer Irrer, die lebenslang nichts haben anfangen können mit ihren Talenten.

Selbst die vornehmlich sympathiestiftende Mimi vom Bord-Service ist ja zunächst mal nur ein weiterer blut- und glutleerer Gutmensch am Krankenbett der Gegenwart. Mit der Zeit würde sie allerdings wohl ganz gern den computer-gestörten Sohn retten, auch erotisch – aber da ist es schon zu spät; und die eigene Mutter verurteilt den Nichtsnutz zu qualvollem Tode. Wie zuvor schon den Lover, der sie sitzen lassen will.

Blacks und Blackouts
Dem Regisseur Thomas Bockelmann, Intendant in Kassel und der Autorin Kricheldorf schon seit geraumer Zeit verbunden, gelingt es, mit dem Ensemble die Balance zu finden zwischen Boulevard-Ulk und Katatrophen-Film. Was an sich schon eine Menge Arbeit ist – dem strukturellen Problem des Textes aber kommt er nicht bei. Denn Kricheldorfs Szenen sind so scharf und schnell geschnitten (filmisch halt!), dass das Theater mit andauernden Blackouts zwischen den Szenen überhaupt nicht Schritt halten kann.

Vom bedrohlichen Sog in die unausweichliche Katastrophe kaum eine Spur – aber gerade das müsste ja irgendwie sein. Zumal die Szenen auch noch immer kürzer und kälter werden – wie einleuchtend das aber auch immer motiviert sein mag, so zermürbend wirkt es zunehmend: mit immer der gleichen Denk- und Umbaupause auf Sabine Böings Bühnenfloß mit Party-Girlande. Es bleibt weiteren Inszenierungen vorbehalten, der mörderischen Magie vom "Ding" auf die Spur zu kommen.

Am Ende ein starkes Stück
Das Kasseler Ensemble spielt dabei kompakt und präzis: Christina Rubruck als Chronistin im Suff, Christina Weiser als mörderische Karrieristin und Alina Rank als unnahbarer Engel vom Dienst, Peter Elter als unergründlich lächelnder Worldwideweb-Psychot und Hans Werner Leupelt als Erotomane, der sich kurz vor dem Ableben wirklich angefasst fühlt vom "Ding". Womöglich wäre mehr im Meer zu entdecken durch mehr Abstraktion – wie in Friedrich Dürrenmatts ähnlich auswegloser Katastrophengeschichte "Der Tunnel", in der ein Zug mit immer stärkerem Gefälle in einen Tunnel rast, ja fällt, der nicht mehr aufhört und mit dem Satz endet: "Gott hat uns fallen gelassen. Wir fallen." Aber dennoch: Die vollzählig in Kassel versammelte Jury der "Stücke", der bevorstehenden Mülheimer Theatertage, hat kurz vor der finalen Auswahl ein ziemlich starkes Stück gesehen.

 

Das Ding aus dem Meer
von Rebekka Kricheldorf
Regie: Thomas Bockelmann, Bühne und Kostüme: Sabine Böing, Live-Musik: Johannes Winde. Mit: Peter Elter, Hans-Werner Leupelt, Alina Rank, Christina Rubruck, Christina Weiser.

www.staatstheater-kassel.de

Mehr zu Thomas Bockelmann? Wir besprachen Zeitfenster von David Hare, das Bockelmann im September 2007 in Kassel inszeniert hat.

Mehr zu Rebekka Kricheldorf? Ihre Medienfarce Der Kopf des Biografen wurde im Januar 2009 in Osnabrück von Nina Gühlstorff uraufgeführt. Und Neues Glück mit totem Model kam im Dezember 2007 in Dresden zur Uraufführung.

 

Kritikenrundschau

Rebekka Kricheldorf erzähle in ihrem neuen Stück "Das Ding am Meer", "wie ein Festgäste-Quintett mit einem viel größeren Ungemach fertigwerden muss als nervigem Smalltalk", schreibt Bettina Fraschke in der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen (16.3.2009), nämlich mit einem Partyboot, das "ohne Rettungschance aufs offene Meer treibt". So irreal sich Kricheldorfs Seefahrt entwickle, so tief führe "sie zugleich hinab in unsere Seelen. Die Konfrontation mit dem vermeintlichen Ungeheuer sagt auch uns etwas über unsere Sehnsucht nach echtem Leben, echten Gefühlen." Kricheldorf lege "die Befindlichkeiten der Bessergestellten-Gesellschaft bloß, die geprägt ist von Überdruss. Denn allen gefällt der Nervenkitzel erst mal richtig gut." Der Kasseler Intendant Thomas Bockelmann inszeniere "diese kaviarschwarze Farce mit viel Raum für die perfekt gebauten Satzfiguren und Gespür für die komischen Momente". Die langen Szenenwechsel und ständigen Schnitte nähmen allerdings "viel von der beklemmenden Wirkung".

Dies sei "keine klassische Katastrophengeschichte", sondern tue nur so, meint Joachim F. Tornau in der Frankfurter Rundschau (18.3.2009) über Kricheldorfs Stück. Schließlich sei offen, "ob es das ominöse 'Ding' überhaupt gibt", "es spielt auch keine Rolle", dient es doch den Partyschiffbrüchigen vornehmlich "als Projektionsfläche für eigene Wünsche, Sehnsüchte, Weltsichten" und "als Katalysator, der zum Ausbruch bringt, was in den Menschen an Bord verborgen liegt". Bockelmann habe das Ganze "schnörkellos und ohne Überraschungen" inszeniert. Gleichwohl gerate "der zerstörerische Zickenkrieg an Bord über weite Strecken höchst unterhaltsam", Kricheldorfs "tiefschwarze Screwball-Comedy", bringe der Regisseur "pointensicher" auf die Bühne. Christian Rubrik spiele den Zynismus der dauerbetrunkenen Chronistin, dass es "ein wahres Fest" sei: "Jeder Satz ein Treffer. Bravourös." Beim "Umschlagen ins Abgründige, Katastrophische" schwächelten hingegen Stück wie Inszenierung. "Um wirklich zu berühren, sind die Figuren zu grob geschnitzt", Kricheldorf habe "Karikaturen, keine Charaktere, geschaffen. Und die Regie steuert dem nicht entgegen."

Bis zuletzt hat die Kasseler Aufführung für Matthias Heine von der Welt (20.3.2009) "die Anmutung einer gemütlichen Ausflugsdampferfahrt". Kricheldorfs Stück beginne als Gesellschaftsporträt und steigere sich dann zur Horrorparabel, wobei von Anfang an eins im anderen vorhanden sei. Bockelmann jedoch inszeniere bei seiner dritten Kricheldorf-Uraufführung "so brav wie ein Badewannenkapitän" und wage sich "nicht sehr nahe ran an die Stürme von Brutalität, Lebens- und Selbstekel, die in den Seelen aller Figuren toben" und umschiffe auch die "Klippen des Fanatismus und bzw. Nihilismus, in den die Jüngeren sich hineinsteigern, um bloß nicht zur abgefuckten Welt der Alten zu gehören". So sei hier "trotz aller fortschreitenden Zerstörung nur Horrorboulevard" zu sehen. "Das ist auch okay, vor allem Christina Rubruck als Berenice fischt schöne Lacher aus dem Text. Aber man würde das Stück gern noch einmal auf richtig dramatisch hoher See inszeniert sehen."

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