Der Kampf des Lebens mit seinem Preis

von Esther Slevogt

Berlin, 14. März 2009. Der Hype war groß, das Premierenpublikum im Berliner Deutschen Theater entsprechend prominent, und es war zunächst einmal das Heranrauschen schwarzer Staatslimousinen, das diesen Theaterabend eröffnete, der das Theaterdebüt von Deutschlands renommiertestem Filmregisseur Christian Petzold ist: mit seiner Inszenierung von Arthur Schnitzlers 1903 entstandenem und im selben Deutschen Theater bereits uraufgeführtem Stück "Der einsame Weg".

Das Theaterdebüt von jenem Petzold also, dessen Meisterschaft darin besteht, die vordergründig profane Tristesse der Bilder, die er von unserer grauen Gegenwart macht, metaphysisch aufzuladen, und dem gespenstisch Immateriellen, das Geld allen Menschen und Beziehungen aufzwingt, die rohe Körperlichkeit der Sehnsucht entgegenzusetzen.

Was das Materielle dem Immateriellen aufzwingt

Doch dann fing auf der Bühne alles ein wenig hölzern an. Ein weißer Kasten, der nach hinten leicht ansteigt und in dem die Menschen, denen man hier im Verlauf der nächsten zwei Stunden begegnen wird, stets wirken, wie in ein Terrarium gesperrt - oder ins Theater.

Da sind zunächst die Geschwister Johanna und Felix Wegrath, von Nina Hoss und Alexander Khuon gespielt, deren Mutter Gabrielle sterbenskrank ist und den ersten Akt nicht überleben wird. Barbara Schnitzler schwebt in grünlichem Jugendstilchiffon schwindsüchtig durch den weißen Kasten. Khuon marschiert in einem historischen, bodenlangen Armeemantel ein, und Nina Hoss trägt zum schwarzen Tüllkleid, über das sie meist einen legeren braunen Angorapullover gezogen hat, schwarze Stiefeletten, die ihrer Erscheinung beinahe etwas Plumpes geben. Es ist insgesamt ein merkwürdiges statuarisches Nirgendwo, das bereits diese Theaterhaftigkeit der Kostüme (Anette Guther) produziert. Aber auch die Figuren wirken im Verhältnis zueinander seltsam unproportioniert.

Es gibt keine Requisiten, nur einmal die unvermeidlichen Mappen, in denen der Künstler Julian Fichtner seine Skizzen verwahrt und die er zückt, wenn im zweiten Akt der junge Felix Wegrath kommt, um ein Bild zu sehen, das Fichtner einmal von seiner gerade verstorbenen Mutter gemalt hat. Felix, der noch nicht weiß, dass der Maler dieses Bildes sein Vater ist, und die Stunde, in der seine Mutter ihm damals Modell gesessen hat, in eine Liebesnacht überging, der er seine Existenz verdankt.

Böcklins Toteninsel

Die Mappe mit dem gemalten Bild der Mutter liegt also zwischen anderen auf dem weißen Boden. Es ist ja ein Dilemma im Theater, dass die verhandelten Dinge und Figuren mitunter wohl auch deren physische Präsenz unvermeidlich machen.

Ein anderes Bild begrenzt den weißen Bühnenkasten nach hinten. Und öffnet ihn: ein Filmbild, das in Echtzeit und in einer einzigen Einstellung von Hans Fromm, dem Kameramann aller Petzold-Filme, gefilmte Berliner Krankenhaus am Urban in der Nacht, dessen V-förmig zum Wasser hin sich öffnende Gebäudeflügel tatsächlich wie eine entzauberte Version von Arnold Böcklins berühmtem Bild "Die Toteninsel" aussehen. Davor sieht man das Becken des ehemaligen Urbanhafens, wo sich im schwarzen Wasser die Großstadtlichter spiegeln.

Das Böcklin-Bild von 1886 liegt dem Programmheft bei und hat eine Scharnierfunktion. Nämlich den lebensmüden wie schwermütigen Schnitzlerstoff in unsere triste Gegenwart zu transportieren, wo inzwischen selbst der Tod seine dunkle Magie verloren hat, die ihm Schnitzler und Böcklin noch zugestanden haben und den Stoff gleichzeitig im Werk von Christian Petzold zu verorten: ihn in ein Verhältnis zu den Gestalten zu setzen, die seine Filme bevölkern, wo sie oft einen Transitraum zwischen Leben und Tod bewohnen.

Gefahrenzone, wo sich die Dinge verwirklichen

Doch das Bild stimmt nicht für diesen Abend. Denn die Menschen, denen wir in seinem Verlauf begegnen, gehen in keinem Moment wirklich auf diese Toteninsel zu und noch weniger auf ihre entzauberte Version, den rationalistischen Betonklotz aus den Sechziger Jahren. Stattdessen leben sie mit einer wachsenden Leidenschaft, die auch die Temperatur dieses Theaterabends langsam ansteigen lässt. Und machen dabei ununterbrochen die Kosten- und Nutzenrechnung über die Entscheidungen auf, die dem Einzelnen auf dem einsamen Weg, der sein Leben ist, stets abverlangt werden: Weil alles seinen Preis hat, Karriere, Familie und auch der Egoismus.

Weil sogar die Träume etwas kosten, und man immer entscheiden muss, ob man ihren Preis wirklich bezahlen will. Wie der Maler Fichtner vor der Bindung mit Gabrielle in ein unbezogenes Leben flüchtet und einer diffusen Sehnsucht nach Selbstverwirklichung folgt, um ein viertel Jahrhundert später festzustellen, dass da möglicherweise nicht viel an Selbst zu verwirklichen war, so flüchtet die sonst eher handfeste Johanna in den Tod.

Und zwar in dem Moment als ihre Träume in die Gefahrenzone ihrer Verwirklichung geraten: wenn Stephan von Sala sie heiraten und auf seine archäologischen Expeditionen in ferne Länder mitnehmen will. Der todkranke von Sala, der möglicherweise einst Frau und Tochter beseitigte, um den Irrtum seiner Verankerung im Leben zu korrigieren, und den bei Christian Petzold Ulrich Matthes mit einer fast sanftmütigen Kälte spielt.

Am langen Arm der Schauspielkunst

Der Abend kämpft lange mit zwei Echtzeiten, die sich als ziemlich inkompatibel erweisen: der Echtzeit des Films im Hintergrund, welcher nie wirklich in eine formale oder inhaltliche Beziehung zum Bühnengeschehen tritt. Und der Echtzeit der Schauspieler, ihrer ununterbrochenen Bühnenpräsenz, die Petzold lange szenisch nicht in den Griff bekommt.

Aber dann kommen Ernst Stötzner und Almut Zilcher – Stötzner, der den gescheiterten Maler Julian Fichtner spielt, und zwar in einem virtuosen Balanceakt aus gnadenloser Selbstironie und Selbstmitleid, der zwischen zwei Worten Horizonte unterschiedlichster Lebensoptionen zu öffnen versteht. Und Almut Zilcher als seine ehemalige Geliebte: ein Resignationsmonster, deren vom Verzicht durchlöcherte Seele sich mit geradezu gespenstischem Hunger auf die verbleibenden Glücksmöglichkeiten stürzt.

Auf einmal entfaltet das Spiel der Figuren, die an den Fäden ihrer Vergangenheit wie Marionetten hängen, einen existenziellen Sog. Ziehen Stötzner und Zilcher mit ihrem Bekenntnis auch zur Physis des Schauspielers in Form von Stimme, Schrei, Umarmung und peinlicher Selbstentblößung den Boden ein, auf dem dann auch die Anderen Tritt fassen können. Am Ende großer Applaus. Der Abend wird seinen Weg finden in die Reihe der DT-Blockbuster. Doch wem Petzolds Filme einmal den Blick auf die Zusammenhänge von Körper und Geld eröffnet haben, der verhungert im Deutschen Theater am langen Arm der Schauspielkunst.

 

Der einsame Weg
von Arthur Schnitzler
Regie: Christian Petzold, Bühne: Henrik Ahr, Kostüme: Anette Guther, Film: Hans Fromm.
Mit: Nina Hoss, Barbara Schnitzler, Almut Zilcher, Jörg Gudzuhn, Alexander Khuon, Ulrich Matthes, Frank Seppeler, Ernst Stötzner.

www.deutschestheater.de


Mehr lesen über Arthur Schnitzler auf den Bühnen der Gegenwart? In Hamburgs inszenierte Michael Thalheimer Anfang März 2009 am Thalia-Theater Schnitzlers Reigen. Luk Perceval zeigte im November 2008 Anatol in der Berliner Schaubühne.

 

Kritikenrundschau

"Wer hier auftritt, hat nichts als seinen Körper und die Sprache" schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (16.3.) über die Setzung von Henrik Ahrs Bühnenkasten. "Keine Tricks, keine Illusionen, nur hohe Schauspielkunst!", seien hier möglich – "Was für eine Herausforderung." Wo das Stück auch das Zeug zur Farce hätte, schlage Petzold einen anderen Weg ein und gehe mit Schnitzlers Figuren genauso um wie mit seinen eigenen Filmfiguren, nämlich mit einer "für das Theater heute ungewöhnlich ernsten, ironiefreien und texttreuen Haltung". Einerseits gewissenhaft dem Text gegenüber, setze er andererseits vertrauensvoll allein auf die Schauspieler, das "trauen sich die Theaterleute kaum; nicht zuletzt aus der Angst, gegenüber dem Kino mit einem theaterspezifischen Mehrwert aufwarten zu müssen." Petzold lasse hingegen einfach "die Qualität des ernsthaften Schauspiels" bewundern. Allein Ernst Stötzner entziehe sich "mit gewohntem Understatement und trockenster Diktion ein wenig diesem völligen Aufgehen in der Rolle" und lasse dadurch "ahnen, dass mit dieser Inszenierung das Theater nicht neu erfunden wurde".

Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.3.) hält Christian Petzolds Engagement als Theaterregisseur am DT hingegen für eine komplette Fehlbesetzung. Da habe wohl jemand Petzolds Film-Erfolge "von der Leinwand auf die Bühne" holen wollen, "wie sie sich das eben manchmal in den Führungsetagen austüfteln, wenn der allzu starre Blick auf Kasse und mediale Aufmerksamkeit jede seriöse Programmplanung über den Haufen wirft". Im Ergebnis hat Bazinger nun Schauspieler gesehen, die wenig bewegt erscheinen, "von beseelt ganz zu schweigen". In den eleganten Kostümen stünden sie "meist wie Kleiderpuppen im hellen Licht herum". Nicht nur die "sträflich unterforderte Nina Hoss", sondern das gesamte Ensemble kämpfe "unverdrossen mit der ausgeprägten Nicht-Regie" Petzolds, der das Stück "arrangiert, nicht inszeniert – und selbst das ziemlich stümperhaft". Eine "solche Blamage" hätte man ihm wie Darstellern und Publikum ersparen können.

Von großer "Subtilität sind die fast unmerklichen Veränderungen" der Figuren für Matthias Heine von der Welt (16.3.). Lange habe man im Berliner Theater nicht mehr "so innerlich gespielt", "als wäre in der Probenarbeit jeder laute Ton und jede heftige Geste weggeschliffen worden." Das überrascht durchaus, schließlich sei "das Exaltierte (...) den meisten Mitwirkenden sonst keineswegs fremd" ("heiligtümelnde Manieriertheit" bei Matthes, "vitale Rampensäuigkeit" bei Stötzner). Doch "nichts davon hier", beide "darstellerisch gefasst und mätzchenfrei". Auch Hoss' "Rätselwesen Johanna" zeige die "produktive Zurückhaltung, die sich hier alle auferlegen", sie beharre "auf ihren Phantasmen mit einer entspannten Standhaftigkeit, die umso unergründlicher wirkt". Exaltiert dürfe und müsse nur Almut Zilcher sein, bei der das "Outrieren zur Rolle" gehöre. "Der Rest ist viel Schweigen. Es musste erst einer vom Film kommen, um die (...) Regieanweisung 'Pause' mal wieder dramatisch ernst zu nehmen." Allerdings, "bei allem Lob und Preis", erreiche Petzolds Theaterdebüt nicht "die Radikalität seiner Filme". "Zu sehr hat die Inszenierung etwas Tastendes. Zu vertrauensselig hat er sich dann doch bei aller Lenkung und Schaumbremsung in die Hand seiner Schauspieler gegeben", sich "in Respekt und Demut" übend.

Auch nach Meinung von Andreas Schäfer vom Tagesspiegel (16.3.) gelingt Petzold "ein beeindruckend konzentriertes, stellenweise todtrauriges Requiem". Es beginne "holprig", Hoss und Khuon staksten zunächst noch "wie aufgezogene Marionetten durch die Leere". Doch spätestens mit Matthes' Auftritt sei der Abend "auf seiner Höhe. Reduktion, Langsamkeit, intensive Blicke" – mit seinen vom Film bekannten Mitteln schaffe Petzold auch "auf der Bühne etwas Ungewöhnliches: Die Vergegenwärtigung des Gefühls von Gegenwartslosigkeit". Matthes als "Fürst dieses Leiden" gebe dem "Distanzfanatiker" die "analytische Schriftstellerungerührtheit eines Ernst Jünger" und reiße sich am Ende "in einem fulminanten, herzzerreißenden, von sich selbst angewiderten Monolog schließlich die Gentleman-Maske" herunter. Gegen "Matthes’ Konzentration" bleibe Stötzner schwach: "Zu routiniert nuschelt er die Selbstgerechtigkeit" Fichtners herunter, "Manieriertheiten entblößt Petzolds Arbeitsweise der Großaufnahme sofort". Dagegen hätten Zilchers Exaltiertheiten, Methode, hinter der Pose bleibe bei ihr "immer die Panik der kinderlos geblieben Frau sichtbar".

Die Mäntel der Männer zitierten "noch einen Hauch k.u.k" oder "von Graf Dracula", entpuppen sich die älteren Herren doch "als Blutsauger, die sich an der Jugend der Geschwister Wegrat gütlich tun", schreibt Eva Behrendt in der Frankfurter Rundschau (16.3.). Es werde "viel und geschmackvoll (...) herumgestanden". "Bedeutungsvoll zur Wand gekehrte Gesichter signalisieren Weltflucht, pseudo-lockeres Auf-dem-Boden-Lagern entspanntes Lotterleben." Die Darsteller brillierten "beim Spagat zwischen realistischem Sprachgestus und künstlicher Aufstellung im leeren Raum", der Stoff wirke zeitlos, "und doch springt der Funke nicht über". Das ändere sich mit Zilchers "anarchischem Schwung", mit dem sie ins Herrengespräch bratze. Komischerweise sei dieses "überkandidelte Zilcher-Feuerwerk samt elendem Schmerzausbruch glaubhafter als alles andere: Sie knallt als einzige ordinäre Komödiantengegenwärtigkeit in die kollektive Vergangenheitstrance, die natürlich das große Thema ist". Die Gegenwart hingegen vermisst Behrendt, es führe "kein Draht vom heutigen Berlin in das feine, aber bleierne Schauspielertheater".

Wie Vampire schlügen die Alten in Schnitzlers Stück ihre Zähne in die jungen Leute, so Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (16.3.). Petzold setze seine Schauspieler "schmerzend grellem Licht aus, als wollte er ihre Röntgenbilder vor einen Leuchtschirm hängen" und nutze die Tiefe des Raumes, um Gruppen zu staffeln, mit Vorder- und Hintergrund zu spielen, wobei sich mit jedem die Kraftfelder veränderten – eine Choreographie von der "Genauigkeit eines Soziogramms". Eine "äußerst puristische" Inszenierung, "ganz beim Schauspieler und beim gesprochenen Wort", "verlangsamt werden die Sätze gesprochen, gedehnte Pausen erzeugen den Pulsschlag des Abends". Der Kopf von Hoss auf Matthes' Schulter, das sei der "einzige Moment von Nähe und Wärme an einem Abend, der von der Verhaltenslehre der Kälte bestimmt wird". Insgesamt zeigt sich Schmidt überrascht, wie konsequent Petzold auf die genuinen Stärken der Bühne, Wort und Schauspieler, setze. Gelungen sei ihm "die kühle Erkundung einer versunkenen Seelenlandschaft".

Petzold, so schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (16.3.) habe "mit ernstgemeintem Respekt und unverbrauchtem Staunen die von der theaterbetrieblichen Routine patinierten Schätze in die Hände genommen, und siehe da: Das Theater funktioniert nicht nur, es funkelt wie früher und wie neu". Mit "unprätentiöser Klarheit und Ruhe" reduziere er das Stück "auf seine unvermindert brennenden Gedanken" und übersetze "seine analytische Vorgehensweise als Autorenfilmer kongenial für das Theater". Die Spieler nähmen "beredte Konstellationen im Raum" ein, in denen sie "unverblümt miteinander über Wesentliches zu sprechen" beginnen – "es gibt kaum etwas Schwereres, aber auch Würdigeres für Schauspieler". Das "leise Knistern des Dialogs, mit dem sich die zwischenmenschliche Spannung aufbaut und entlädt", werde nicht "durch vorgeführte Einfühlfähigkeit oder ironische Distanznahme illustriert, sondern einfach so scharf wie möglich gedacht". Vor allzu großer Auskühlung schütze Zilcher, die auf Frauen wie Irene Herms "zwischen stolzer Abgewracktheit und verletzbarer Sinnlichkeit, zwischen mädchenhafter Tölpelhaftigkeit und emotionaler Lebensweisheit" spezialisiert sei.

 

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