Flugschreiber einer abgestürzten Beziehung

von Regine Müller

Düsseldorf, 15. März 2009. Für Boas ist das Leben eine Baustelle. Unermüdlich schafft er mit der Schubkarre Estrich heran, verteilt und glättet die zähflüssige Masse auf dem Bühnenboden. Rot wie die Erde Israels ist dieser Estrich, an vielen Stellen trocknet er zu langsam und immer wieder graben sich zerstörerische Spuren in die noch nicht ausgehärtete Bodenmasse.

Boas ist ein Scheidungskind und gilt als missraten und latent kriminell. Sein Vater, der renommierte Wissenschaftler Alexander Gideon lebt in New York und hat seit der Scheidung vor sieben Jahren jeden Kontakt mit der Familie strikt vermieden. Seine Frau Ilana lebt längst in zweiter Ehe mit dem orthodoxen Juden Michel Sommo, als sie sich per Post mit einem Hilferuf um ihres Sohnes willen an ihren Ex-Mann wendet. Gideon soll sich um das Sorgenkind kümmern.

Fanatismus und Familie
Den Warnungen seines Anwalts zum Trotz schickt dieser tatsächlich bereitwillig Geld nach Israel, obwohl bald deutlich wird, dass Ilanas fundamentalistischer Mann Michel das Geld vor allem für seine radikalen politischen Zwecke nutzt. Nachdem die geschiedenen Eheleute anfangs nur über den Anwalt korrespondierten, nehmen sie allmählich den Dialog miteinander wieder auf und verfangen sich zunehmend in ihren nicht verarbeiteten Erinnerungen und wieder aufflackernden Leidenschaften. Verzweifelt versuchen sie, die Black Box, den Flugschreiber ihrer abgestürzten Beziehung zu entschlüsseln.

Der israelische Schriftsteller und Heine-Preisträger 2008 Amos Oz erzählt in seinem vor mehr als zwanzig Jahren erschienenen Brief-Roman "Black Box" eine komplizierte Familiengeschichte und zeichnet zugleich ein Portrait der von Spannungen und inneren Widersprüchen geprägten israelischen Gesellschaft. Den Ursprung des Fanatismus verortet Oz in der Familie, in der er die "politisch komplizierteste Institution der Welt" vermutet. So wird der Versuch Boas', das verfallene Elternhaus seines Vaters in Sichron wieder aufzubauen, um mit allen zusammen friedlich darin zu leben, zugleich zur ideologiefreien Utopie eines lebbaren politischen Kompromisses.

Am Düsseldorfer Schauspielhaus zeigt Intendantin Amélie Niermeyer eine dramatisierte Fassung dieses Erziehungs- und Gesellschaftsromans, dessen politische Implikationen absolut nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Die Schwierigkeit, dem Briefroman Bühnenleben einzuhauchen, stellt sich erstaunlicherweise nicht. Denn aus dem annähernd 350 Seiten starken Roman haben ursprünglich Hanan Snir und für die deutsche Bühnenfassung Amélie Niermeyer ein knapp zweistündiges Kondensat destilliert, das auf der Bühne hervorragend funktioniert.

Bühne bleibt Baustelle
Mit präzisem Gefühl für Tempo und Spannung setzt die Regisseurin Niermeyer auf ein Kammerspiel mit einfachsten Mitteln. Die Bühne (Alexander Müller-Elmau) bleibt Baustelle, nur ein paar Bretter und zwei alte Gartenstühle kommen hinzu. Szenisch montiert Niermeyer manches parallel, hin und wieder sprechen auch zwei Leute gleichzeitig im gegenseitigen Sich-nicht-hören-wollen.

Ansonsten konzentriert die Regisseurin sich auf die Personen und die Entwicklung ihrer heillosen Beziehungen zueinander. Aus dem zunächst nassforschen, lauten Boas – stark: Ilja Niederkirchner – wird allmählich ein zupackender, realistischer junger Mann mit wohl temperierten Idealen, seinen Ziehvater Michel gibt Rainer Galke mit leiser, doch gefährlicher Ambivalenz zwischen Sanftmut und kaltem Fanatimus, Meriam Abbas ist eine zerrissene, doch unscharf artikulierende Ilana, Götz Schulte ein weltläufig Intellektueller, ausgebrannter und sich dennoch verzweifelt ans Erinnern klammernder Alexander Gideon, Miguel Abrantes Ostrowksi ein angemessen schmieriger, korrupter Anwalt.

Ein nachdenklicher, mit Bedacht und Umsicht inszenierter Abend, der sich weder lauten Effekten noch wohlfeilen Einsichten leichtfertig hingibt.

Black Box
von Hanan Snir
nach dem Roman von Amos Oz
Regie: Amélie Niermeyer, Bühne: Alexander Müller-Elmau, Kostüme: Kirsten Dephoff, Musik: Cornelius Borgolte, Henning Beckmann.
Mit: Meriam Abbas, Miguel Abrantes Ostrowski, Rainer Galke, Ilja Niederkirchner, Götz Schulte.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de


Mehr zu Amélie Niermeyer? Im April 2007 inszenierte sie am Düsseldorfer Schauspielhaus Shakespeares Wie es euch gefällt und im Februar 2008 Tschechows Iwanow. Außerdem können Sie in unserem Jahresrückblick nachlesen, was Amélie Niermeyer 2008 im Theater besonders beeindruckte.

 

Kritikenrundschau

Zeitliche, geografische, politische und emotionale Distanzen werden übersprungen und verschränkt in der Bühnenfassung von Amos Oz' Roman "Black Box", und das gefällt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.3.) sehr gut: "Ein Balanceakt, der so selbstverständlich vollzogen wird, dass die deutsche Erstaufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus von Anfang an in eine unprätentiöse Schwingung gerät. Es verbinden sich darin intellektuelle Herausforderung und spielerische Leichtigkeit." Der Stoff werde im Folgenden zwar "um seinen politischen Überbau gebracht" und hätte sicher auch eine "weniger wohltemperierte Übersetzung her(gegeben)", doch sei Amélie Niermeyer gleichwohl eine "eine ansehnliche szenische Vergegenwärtigung" gelungen.

In der Neuen Rhein Zeitung (resp. auf derwesten.de, 17.3.) schreibt Michael-Georg Müller von einem "intensiven, feinnervigen Kammerspiel", von einem "behutsamen Verwirrspiel zwischen direkten Dialogen und gesprochen Briefen, zwischen verschiedenen Ebenen von Zeit und Raum". – "Der Erfolg dieser Regietat ist sicher und könnte eine Nebenwirkung haben. Denn in diesen Wochen verhandeln Stadt und Land mit der nicht vom Erfolg verwöhnten Intendantin Niermeyer über ihre Vertragsverlängerung."

 

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