Im Heuhaufen der Erinnerung

von Johanna Lemke

Leipzig, 19. März 2009. Manchmal hängen Theatererlebnisse entscheidend von den kulturellen und sozialen Hintergründen des Betrachters ab. Eine Inszenierung über Braunkohle in Sachsen, die mit Laiendarstellern, authentischen Geschichten und viel improvisiertem Lokalkolorit arbeitet – damit können manche ziemlich viel anfangen, andere wiederum gar nichts. Das klingt jetzt alles nach Binsenweisheit, ist in diesem Falle aber sehr wichtig zu betonen.  

Denn für die Inszenierung von "Braune Kohle" forschten und probierten die Regisseur Dirk Cieslak und Annett Hardegen wochenlang am authentischen Ort, in Neukirchen bei Borna, knapp 30 Kilometer südlich von Leipzig. Mitten im ehemaligen Braunkohleland, in einer Gegend, die jetzt über viele Quadratkilometer aussieht wie eine Mondlandschaft, bizarr und verwegen. Manche Tagebau-Löcher werden geflutet, sie sollen irgendwann zum so genannten "Neuseenland" werden, einer riesigen zusammenhängenden Wasserlandschaft. Die ersten Seen gehören schon zu Leipzigs beliebtestem Naherholungsgebiet.

Zwischen Bitterfeld und Borna
Vor ein paar Jahren noch war in den Gebieten zwischen Bitterfeld und Borna alles andere als Naherholung angesagt. Braunkohle war einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der DDR, gab 60.000 Menschen Arbeit und verschmutzte die Luft der Region so stark, dass an manchen Tagen die Wäsche an der Leine ergraute. Nach der Wende war damit Schluss, der Abbau der Braunkohle wurde innerhalb kürzester Zeit auf ein "umweltverträgliches Maß" reduziert, die Werke zum großen Teil stillgelegt. Die Zahl der Beschäftigten fiel innerhalb von nicht einmal einem Jahrzehnt auf wenige Tausend. Einmal abgesehen von dem faktischen Verlust der Arbeit brachen hier ganze Familienhistorien zusammen.

Es liegt nahe, dass es ein großes Bedürfnis gibt, diese verloren gegangene Zeit thematisch aufzuarbeiten. Naheliegend ist auch, dass es hunderte von Geschichten zu erzählen und zu hören gibt. "Auf eine Lebenswelt zu schauen, deren Wissen entwertet ist, das interessiert mich", hatte Regisseur Dirk Cieslak im Vorfeld gesagt.

Archäologen der Erinnerung
Die Inszenierung hat sich nun leider fast ausschließlich auf diese Geschichten gestürzt. Die 16 Laien, deren Leben maßgeblich durch die Braunkohle bestimmt worden ist, befinden sich auf der Bühne, die dem Aufenthaltsraum eines Braunkohlewerks nachempfunden ist. Sie sitzen an den Tischen und spielen Karten, holen sich Kaffee von der Ausschanktheke und lauschen den Durchsagen des Betriebsfunks.

Dazu kommen sechs Schauspieler des Ensembles, die als die Archäologen in einem riesigen Berg von Erinnerungen dienen. Sie fördern Stück für Stück die Lebensgeschichten der Laien zutage, befragen sie nach ihrem ersten Arbeitstag und rufen zum fröhlichen Beruferaten. Da sind Szenen dabei, die in ihrer Unmittelbarkeit schmunzeln lassen oder berühren, im Großen und Ganzen aber finden sie keine Kontur. Es gibt weder Handlung noch Figuren, die Dialoge sind bisweilen nett anzuschauen, viel mehr aber auch nicht. Nach etwas Übergreifendem, nach einem wunden Punkt, sucht man hier ebenso vergeblich wie nach der sprichwörtlichen Stecknadel. Das Gemenge der Gespräche, Bekenntnisse und Erinnerungen ist dabei der formlose Heuhaufen.

Zu später Zündstoff
Natürlich ist so eine Produktion für die Menschen, die in ihr mitwirken, von größter Bedeutung. Cieslak hat im Vorfeld endlose Gespräche mit den Laien geführt, hat die Schauspieler mit den ehemaligen Arbeitern behutsam vertraut gemacht – diese Vertrautheit spürt man. Derjenige aber, für den all dies "nur" Geschichte ist und keine eigene Vergangenheit, hat von dem Abend nicht viel mehr als ein paar nette Anekdoten. Die wenigen (immerhin live gespielten) Lieder von alten Ostmusikern machen Spaß, keine Frage. Aber schmerzhaft ist hier nichts – und das bei einem Thema, das so viel an Zündstoff böte!

Der kommt erst ganz am Ende. Da geht es auf einmal um Energiegewinnung und alternative Rohstoffe, um vergiftete Böden und in Baugruben verschüttete Kinder. Und weil die Auseinandersetzung mit der Braunkohle auch eine Auseinandersetzung mit der DDR ist, geht es auch um Zukunftsängste, um Abwanderung und enttäuschte Hoffnungen – nur eben leider viel zu spät. Die Themen, die die Inszenierung als Ausblick anschneidet, hätten von Anfang an elementarer Bestandteil sein müssen. Wo der Abend endet, hätte er beginnen können.

Braune Kohle (UA)
von Dirk Cieslak und Annett Hardegen
Regie: Dirk Cieslak und Annett Hardegen, Bühne und Kostüm: Bernd Schneider und Ulrike Bresan, Musikalische Leitung: Barbara Rucha.
Mit: Klaus Abert, De Bätzoldn, Karl-Heinz Dallmann, Frank Feldmann, Frank Hankel, Walter Hartert, Andreas Hartung, Marianne Hesse, Ilona Jahn, Gudrun Jugel, Andrej Kaminsky, Reinhard Katzer, David Kosel, Gerd Krah, Hagen Oechel, Emma Rönnebeck, Werner Schreyer, Albrecht Schuch, Robert Soujon, Heino Streller, Birgit Unterweger, Albrecht Wolf.

www.centraltheater-leipzig.de

 

Mehr zu Arbeiten von Dirk Cieslak? Im Oktober 2007 realisierte er Empathy Now in den Berliner Sophiensaelen und im Juli 2008 Goldener Bogen im Ballhaus Ost. 

 

Kritikenrundschau

In der Leipziger Volkszeitung (21.3.2009) schreibt Nina May es handele sich bei der Indoor-Version von "Braune Kohle" um eine "Nostalgie-Show ohne Bitterkeit, mit heiterem Beruferaten, Bergbauliedern und Kumpelwitzen". Während die vorangegangenen Aufführungen im still gelegten Kombinat Espenhain "von dem in die Jahre gekommenen Charme" des VEB gelebt hätten, stünden "im Centraltheater die Geschichten der 16 Laiendarsteller im Vordergrund". Diese berührten, etwa wenn eine Laiendarstellerin erzählte, "wie sie als Jugendliche die Grenzen der Freiheit beim Trampen austestete, mit 18 Jahren in Berlin wegen unzüchtigen Verhaltens verhaftet und in den Stasi-Knast geworfen wurde, dort eine IM-Erklärung unterschrieb, die sie 27 Jahre später den Job kostete". Allerdings stelle sich die Frage, so May weiter, "ob das Theater das geeignete Medium für diese Geschichten" sei. Denn Cieslak und Hardegen nützten die Möglichkeiten einer Bühne "kaum" aus, es fehle an "inszenatorischen Ideen". Der Versuch, die "Tradition der mündlichen Überlieferung auf der Bühne neu zu beleben", gelinge nur "teilweise". Die Vorträge wirkten in ihrer ständigen Wiederholung zäh, die eigenen Lebensgeschichten erschienen auf der Bühne "manchmal wie einstudierter, fremder Text", so dass das "vornehmliche Plus an Authentizität sich ins Gegenteil" verkehre.

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